Die Zeit/ Christ & Welt/ März 2012/ Reportage/ Von Ruth Kinet/
In der Talmudschule „Lev HaTorah" in Bet Schemesch haben Frauen nichts verloren. Als ich die Jeschiwa betrete, fragt mich ein ungefähr 17-jähriger junger Mann, was ich hier suche. „Den Rabbiner Schenkolewski", sage ich. Der Junge schüttelt den Kopf: „So was gibt es hier nicht." Er muss mich gemeint haben, nicht den Rabbiner. Er zeigt mir den Ausgang. Ich rufe Elieser Schenkolewski an und er lotst mich per Telefon zu einem Seiteneingang. Dort empfängt er mich und führt mich in einen Raum, der nur mit einem Code geöffnet werden kann. Vermutlich ist er den Lehrenden vorbehalten. Ein Kopierer steht hier und ein Besprechungstisch. Die Wände sind kahl. Der Raum ist ungeschmückt. Aber hier kann man ungestört reden. Und vor allem ohne großes Aufhebens etwas Ungewöhnliches tun: eine Journalistin empfangen.
Vor einigen Wochen machte Bet Schemesch weltweit Schlagzeilen. Ende Dezember wurde hier ein achtjähriges Mädchen mehrfach auf seinem Schulweg von Ultraorthodoxen beschimpft und bespuckt, weil es angeblich nicht züchtig gekleidet war. Daraufhin gingen mehr als 10 000 Menschen aus ganz Israel in Bet Schemesch auf die Straße. Präsident Schimon Peres rief dazu auf, „Israel gegen eine Minderheit zu verteidigen, die den nationalen Zusammenhalt in skandalöser Weise gefährdet". Niemand habe das Recht, ein Mädchen oder eine Frau zu bedrohen.
Elieser Schenkolewski ist Ende 40, trägt einen schwarzen Anzug und einen Vollbart. Auf dem Kopf hat er eine gehäkelte schwarz-weiße Kippa. Er bezeichnet sich als religiösen Zionisten. Der Gelehrte ist keiner dieser Hardliner, die im Moment von sich reden machen. Ungefähr zehn Prozent der 6,2 Millionen jüdischen Israelis sind „Charedim", also etwa 600 000. „Charedi" heißt auf Hebräisch so viel wie „gottesfürchtig". Die Charedim legen das jüdische Religionsgesetz besonders streng aus und werden in Europa meist als „Ultraorthodoxe" bezeichnet. Bei den Charedim handelt es sich aber nicht um eine homogene Gruppe. Sie fächern sich in eine Vielzahl von Strömungen auf. Jede Gruppierung hat ihre eigenen Kleider- und Verhaltenscodes und auch politischen Überzeugungen. Die Spannweite reicht von radikalen Gegnern des Staates Israel wie der Gruppe Neturei Karta über Gegner des säkularen Zionismus bis zu engagierten religiösen Zionisten.
In Bet Schemesch sind alle charedischen Strömungen vertreten. Außerdem gibt es unter den fast 90 000 Einwohnern des Städtchens in den Judäischen Bergen 30 Kilometer westlich von Jerusalem auch noch säkulare und nationalreligiöse Juden. Die Stadt erstreckt sich über mehrere Hügel. Am nördlichen Rand liegt das in den 1950er-Jahren entstandene Zentrum der Stadt, und südlich davon liegen die beiden in den 1990er-Jahren gebauten Stadtteile Ramat Bet Schemesch Alef und Bet.
Im Zentrum wohnen säkulare Israelis und Nationalreligiöse. In Ramat Bet Schemesch Bet, das in der Mitte zwischen dem älteren Ortskern und Ramat Bet Schemesch Alef liegt, haben sich die besonders strengen Charedim zusammengefunden, die Hardliner unter den konservativsten Orthodoxen.
„Hier liegt das große Problem", sagt Elieser Schenkolewski. Der Rabbiner ist in mein Auto gestiegen und dirigiert mich durch die labyrinthische Stadtlandschaft von Bet Schemesch, durch das sich viele unsichtbare Bekenntnisgrenzen ziehen. Die gleichförmigen Wohnblocks und zahllosen Kreisverkehre verwirren die Sinne vollends. „Ramat Bet Schemesch Bet ist eine charedische Siedlung, und die meisten Charedim, die hier wohnen, sind Radikale", erklärt Schenkolewski. „Das Problem ist, dass dieser Stadtteil in der Mitte liegt. Zwischen dem überwiegend säkularen Stadtzentrum und Ramat Bet Schemesch Alef. Jedes Mal, wenn die hier Lärm machen, beeinträchtigt das die anderen drum herum."
Rabbiner Schenkolewski muss zurück. Ich fahre alleine dorthin, wo er „das große Problem" sieht: Ich will ein Gefühl dafür bekommen, wie es zugeht im Zentrum von Ramat Bet Schemesch Bet. Ich will erleben, was passiert, wenn eine eindeutig säkulare Frau mit offenen Haaren durch die Straßen läuft. Ich parke mein Auto dort, wo das GPS „Ramat Nof Shopping Center" anzeigt, hole tief Luft, steige aus und gehe auf eine Heißmangel zu, in der zwei nationalreligiöse Männer arbeiten.
„Wo ist hier ein Supermarkt?", frage ich. Der eine schaut mich befremdet an und zeigt mit seinem Kinn auf die andere Straßenseite. „Da!", das ist alles, was er sagt. Ich überquere die Straße, sehe nirgends einen Hinweis auf einen Supermarkt. Keine Werbung, kein Schild. Es regnet heftig. Es ist einer dieser ungemütlichen nasskalten Tage, von denen es im israelischen Winter nur wenige gibt. Ich trage Stiefel, Hosen, eine lange Strickjacke. Alles hochgeschlossen. Alles schwarz in schwarz. Nur die Haare liegen offen zutage. Und die Hände natürlich. „Die werden Ihnen nichts tun", hatte Schenkolewski mich ermutigt. „Sie werden aber auch nicht mit Ihnen reden."
Es ist nicht viel los an diesem verregneten Vormittag auf der Einkaufsmeile in Ramat Bet Schemesch Bet. Ein paar Männer mit schwarzen Anzügen und Plastiktüten über ihren breitkrempigen schwarzen Hüten eilen von hier nach da. Unwillkürlich denke ich an gekochten Fisch und Essen ohne Salz. Die Menschen, die hier leben, wollen ein Leben arm an sinnlichen Reizen. Ergebnis ist ein Alltag in Schwarz-Weiß, viel Schwarz, wenig Weiß. Auch Schattierungen von Grau kommen vor und hier und da ein bisschen Blassgrün, Blassblau oder Blassrosa auf den Köpfen der Frauen, die ihre Haare mit Hauben bedecken.
Der Supermarkt ist ein kleiner Laden. In den schlichten Metallregalen liegen die Angebote, meist im Zehnerpack mit dicker Plastikfolie umwickelt. Ich suche Mineralwasser. Eine Kundin, die ihr Kind in einem Buggy durch den engen Laden schiebt und höchstens 20 ist, frage ich, wo ich es finden kann. Sie zeigt auf die Regalreihe nebenan. Dann stelle ich mich an der Kasse an. Ich bin die Dritte in der Schlange. Die Kassiererin ist sehr blass. Gebückt sitzt sie hinter ihrer Kasse. Sie kann nicht älter sein als 25. Mit ihrer hochgeschlossenen weißen Bluse und ihrer Perücke aus dunkelrotem Kunsthaar, im Jiddischen „Schaitl" genannt, wirkt sie jedoch eher wie eine Frau um die 50. Ihre Augen sind hinter der dunklen Hornbrille kaum zu sehen. Es geht kaum vorwärts.
Ein Charedi im blau-weiß gestreiften Kaftan, wie sie die Toldot Aharon und auch die Breslover Chassidim unter der Woche tragen, bezahlt seinen bescheidenen Einkauf mit einer Handvoll Agorot. Hundert Agorot sind ein Schekel, fünf Schekel entsprechen einem Euro. Es dauert, bis sich die Kassiererin hier durchgezählt hat. Sie nimmt es kommentarlos hin. Es scheint nicht das erste Mal zu sein, dass sie so viele Agorot in die Hände bekommt.
Die Frau vor mir kauft eine grüne Packung Wissotzky-Beuteltee, einen Liter Milch im Schlauch und einen Topf Sesammus. „Sechzehn dreißig", raunt ihr die Kassiererin auf Jiddisch zu. Sie wendet ihren Kopf mit der dunkelroten Langhaarperücke nicht von ihrer Kasse ab, schiebt sich nur kurz ihre schwarze Hornbrille zurecht und sortiert dann den Schein ein, den ihr die Kundin hinhält. Das Wechselgeld wirft sie achtlos aufs Förderband. Mich sieht sie nicht an. Aber sie sieht mich doch. Denn den Preis für die Wasserflasche und die Reiscracker sagt sie mir auf Hebräisch. Sie braucht nicht hinzuschauen, um zu wissen, dass ich keine von ihnen bin.
In Ramat Bet Schemesch Alef wohnen gemäßigte Charedim. Elieser Schenkolewski nennt sie „Charedim light". Außerdem haben sich hier religiöse Zionisten angesiedelt; ein großer Teil ist aus den USA, Kanada und Aus?tralien nach Israel eingewandert. Südwestlich von Ramat Bet Schemesch Alef schaufeln Bagger Baugruben für das Wohnviertel Ramat Bet Schemesch Gimel aus. Der charedische Bürgermeister von Bet Schemesch, Mosche Abutbul von der Schas-Partei, will dort noch mehr Wohnraum für Charedim schaffen. „Er vertritt überhaupt nicht die Interessen aller Bürger", sagt Elieser Schenkolewski.
Der Rabbiner befürwortet den Plan von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, die Stadt in zwei Teile zu trennen, einen für die Charedim und einen für die Säkularen und Nationalreligiösen. Aber der Bürgermeister und die anderen Charedim in Bet Schemesch und auch die radikalste Gruppe, die Sicarier, bekämpft diesen Plan mit Nachdruck. Noch eher wären sie bereit, unter einer säkularen Stadtregierung zu leben, erklären sie. Vermutlich sind es ziemlich irdische Erwägungen, die sie zu dieser Haltung bringen. Denn finanziell ist die Gemeindeverwaltung von den Abgaben der Säkularen und Nationalreligiösen abhängig.
Schließlich sind alle Charedim, die an einer Jeschiwa eingeschriebene Talmud-Studenten sind und mindestens drei Kinder haben, zu 70 bis 90 Prozent von der Gemeindesteuer befreit. Das ist nur eine von vielen Vergünstigungen, die der israelische Staat den Ultraorthodoxen zugesteht. Wegen dieser Privilegien sind die Charedim unter den Säkularen und Nationalreligiösen nicht besonders beliebt.
Sarit Ramon wohnt in Bet Schemesch und ist eine säkulare Israelin. Sie selbst wurde vor anderthalb Jahren von Charedim bespuckt und beschimpft. „Als ich damals erzählte, was mir widerfahren ist, zogen die Leute bloß eine Augenbraue hoch und scherten sich nicht weiter um die Sache. Die Lage ist schon seit Jahren katastrophal", beklagt sie.
Mir geschieht kein Leid an diesem verregneten Tag in Ramat Bet Schemesch Bet. Sie wollen hier unter sich sein, und ich störe sie dabei. Aber niemand nimmt davon so recht Notiz. Vielleicht ist alles eine Frage des Wetters und ich hatte einfach nur Glück an diesem trüben Regentag.
Ruth Kinet lebt als deutsche Auslandskorrespondentin in Israel.Aus: Christ & Welt Ausgabe 03/2012