Monika Wulf-Mathies über ihre Zeit als Vorsitzende einer Gewerkschaft, Männer-Dominanz in Chefetagen und den einen Satz, den sie bis heute bereut.
Frau Wulf-Mathies, Sie haben einen beeindruckenden Lebenslauf: Sie waren Referatsleiterin im Kanzleramt unter Willy Brandt, die erste Frau an der Spitze einer großen Gewerkschaft und EU-Kommissarin. War das geplant oder eher eine Zufallskarriere? Ich glaube, so etwas kann man nicht planen. Die verschiedenen Stationen haben sich in gewisser Weise auseinander ergeben. Man muss bereit sein, seine Chancen wahrzunehmen - und darf nicht nur klagen, dass Frauen benachteiligt sind, und dann kneifen, wenn ein Angebot kommt. Mir hat meine Ausbildung (Studium der Geschichte, Germanistik und Volkswirtschaftslehre, Anm. d. Red.) sehr geholfen, auch wenn meine Studienfächer alles andere als „Karriere-Garanten" waren. Aber ich habe gelernt, mich in unterschiedliche Materien einzuarbeiten.
Was war der Durchbruch in Ihrer Karriere? Den gab es in dem Sinne eigentlich nicht. Ich hatte in den verschiedenen Stationen immer die Möglichkeit, mich weiterzuentwickeln. Ich hätte auch in der Ministerialbürokratie, in der ich angefangen habe, Karriere machen können. Für mich war es aber immer wichtig, dazu zu lernen, Veränderungen anzustoßen und für Bewegung zu sorgen.
Hatten Sie Vorbilder, jemanden, an dem Sie sich orientiert haben? Weibliche Vorbilder gab es nicht und die männlichen passten alle irgendwie nicht zu mir. Mich haben eher zwei Kernbotschaften von Willy Brandt geprägt: Einerseits das „Mehr Reformen und mehr Demokratie wagen" und andererseits „die Deutschen ein Volk guter Nachbarn". Aber Vorbild im eigentlichen Sinne war auch er nicht. Als ich ins Kanzleramt kam, war ich eine junge Frau und Willy Brandt schon fast ein Denkmal.
Sie waren die erste Frau an der Spitze einer großen deutschen Gewerkschaft - und das zu einer Zeit, in der eine Bundeskanzlerin noch weit entfernt war. Wie ist es Ihnen ergangen auf dem Weg an die Spitze? Ich habe als Seiteneinsteigerin begonnen, als ich 1976 zunächst direkt für den Vorstand kandidierte. Heinz Kluncker, der damalige Vorsitzende der ÖTV, hatte mich gefragt, ob ich mir vorstellen könnte, in den Vorstand der ÖTV zu kommen. Ich war damals noch im Kanzleramt und Heinz Kluncker dachte wahrscheinlich zunächst auch in erster Linie an eine Alibifrau ...
... im Sinne von Quotenfrau? Damals schon, ja. Es gab zwar noch keine Quote. Aber es gehörte für Gewerkschaften schon zum guten Ton, eine Frau im Vorstand zu haben. Ich habe dort übrigens auch eine Frau beerbt.
Wie ging es dann weiter? Ich war für das Gesundheitswesen zuständig und es ist mir gelungen, mit den von uns erarbeiteten gesundheitspolitischen Vorschlägen die ÖTV zu einer Organisation zu machen, von der man plötzlich sprach. Da haben viele gemerkt, dass man auf diese Weise auch ganz neue Schichten der Arbeitnehmerschaft ansprechen kann, zum Beispiel Frauen und Pflegepersonal. Und das war wahrscheinlich einer der Gründe, warum ich am Ende auch zur Vorsitzenden gewählt wurde. Dabei bin ich ja eigentlich aus einer Position heraus angetreten, bei der die Mehrheit in der ÖTV und auch viele außerhalb dachten, dass ich sowieso nicht gewinnen kann.
Warum nicht? Sie sind davon ausgegangen, dass der geborene Nachfolger für einen scheidenden Vorsitzenden der Stellvertreter sei. Zumal der, das war damals Siegfried Merten, auch noch für die Tarifpolitik verantwortlich war. Was aber letztendlich eine große Rolle gespielt hat, war, dass viele in der ÖTV der Meinung waren: Es geht nicht um die glorreichen Kämpfe der Vergangenheit, sondern um die komplexeren Herausforderungen der Zukunft. Das hat man mir wohl eher zugetraut.
Wie wurden Sie dann im Laufe der Zeit wahrgenommen? Zunächst hatte das Wahlergebnis mit 30 Stimmen mehr für mich ja gezeigt, dass die Organisation gespalten war. Und ich glaube, mein Gegenkandidat hat am Anfang auch darauf hingearbeitet, mich schnell wieder loszuwerden. Ich war zunächst ja nur für zwei Jahre, die restliche Amtszeit meines Vorgängers Heinz Kluncker, gewählt worden. Aber viele, die Siegfried Merten unterstützt hatten, sagten: Die Wahl ist jetzt so entschieden und nun hat die Vorsitzende auch Anspruch darauf, unterstützt zu werden.
Und wie haben die Medien auf Ihre Kandidatur und schließlich Ihren Wahlsieg reagiert? Die waren der Meinung, ein Gewerkschaftsvorsitzender muss Bizeps und Stallgeruch haben und die Ochsentour gemacht haben. Auf mich haben sie eher kratzbürstig reagiert, da gab es viel Textiljournalismus. Es ging um rote Fingernägel, Schmuck und Kleidung, all das spielte eine Rolle - und das entsprach in ihren Augen nicht dem Bild, das man von Gewerkschaften hatte.
Haben Sie Genugtuung verspürt, nachdem Sie gewählt worden waren? Ja, schon. Ich erinnere mich noch gut an das erste Pressegespräch nach meinem Wahlsieg. Ich hatte erwartet, dass man mich nach meinen Projekten fragt. Stattdessen sollte ich erklären, warum ich gewählt wurde. Offenbar waren viele immer noch der Meinung, das sei ein Betriebsunfall gewesen.
Und was haben Sie Ihnen geantwortet? Dass die Mitglieder der ÖTV reifer und zukunftsgerichteter dachten als die Medien.
In älteren Zeitungsberichten ist oft zu lesen, Sie hätten die Gewerkschaft mit harter Hand geführt und erbittert und knallhart gekämpft - auch, weil Sie mussten, um sich als Frau auf dem Posten zu beweisen? Es gab bei solchen Beschreibungen ja immer zwei Pole. Entweder ist die Frau hart und machtbesessen - oder sie ist zu weich und kann sich nicht durchsetzen. Und zwischen diesen beiden Polen wurde ich damals immer beschrieben. Heute sehe ich das locker, aber damals hat es mich geärgert, denn als „hart und machtbesessen" galt es zum Beispiel, wenn man Beschlüsse gegen opponierende Sekretäre durchsetzen musste. Aber schließlich haben die Mitglieder Anspruch darauf, dass das, was beschlossen wurde, auch umgesetzt wird.
Gab es sonst überhaupt keine Frauen auf ähnlichen Posten? Doch eine, auf der Arbeitgeberseite, nämlich Birgit Breuel. Damals bestand die Tarifgemeinschaft noch aus Bund, Ländern und Gemeinden und Birgit Breuel war Wirtschaftsministerin in Niedersachsen. Sie war eher konservativ und politisch waren wir eher wie Feuer und Wasser. Aber es gab einen Punkt, auf den wir uns vor den Tarifverhandlungen verständigt haben: Wir liefern den Männern auf beiden Seiten nicht das Vergnügen einer Schlammschlacht zwischen zwei Frauen. Und wir sind uns dann auch sehr zivilisiert begegnet und trotz großer inhaltlicher Differenzen korrekt und anständig miteinander umgegangen.
Wie waren Ihre Erfahrungen in Ihren anderen beruflichen Stationen? Tendenziell ähnlich. Als ich in die EU-Kommission gewählt wurde, war ich auch da die erste Frau aus Deutschland. Von 20 Kommissaren waren nur fünf weiblich. Wir haben für paritätisch besetzte Kabinette in der EU-Kommission kämpfen müssen. Aber insgesamt hat die EU mit ihrer Gesetzgebung viel für die Gleichstellung auch in Deutschland getan. Trotzdem müssen noch immer etablierte Machtstrukturen durchbrochen werden, wenn man Chancengleichheit durchsetzen will. Die Selbstverständlichkeit, mit der Männer ihre Karrieren betreiben, ist bei Frauen immer noch nicht akzeptiert. Subtile Formen von Diskriminierung und Machtmissbrauch und der ganz gewöhnliche Alltagssexismus begegnen uns noch allenthalben.
Inwiefern? Als einzige Frau in einem Vorstand haben Sie keine Lust, jedes Mal zu sagen: „Dieser Männerwitz war aber nicht lustig". Das Klima ändert sich erst, wenn es mehr Frauen in Führungspositionen gibt. Junge Frauen heute, die sich auf ihrer Ebene ganz gut angenommen fühlen, übersehen leicht, dass es an der Spitze immer um Macht geht: Wenn Frauen bestimmte Positionen erreichen, stehen sie für Männer nicht mehr zur Verfügung. Die fühlen sich dann benachteiligt und versuchen, den Frauen ein schlechtes Gewissen einzureden. Nach dem Motto: Findest du es nicht peinlich, eine Quotenfrau zu sein?
Das heißt also, es hat sich gar nichts geändert? Doch, das sieht man ja schon daran, dass inzwischen mehr Männer bereit sind, Elternzeit in Anspruch zu nehmen und sich an der Kindererziehung zu beteiligen. Und diese Männer sind sicher auch bereit zu akzeptieren, dass Frauen nicht nur gleiche Rechte, sondern auch die gleichen Fähigkeiten haben, um Führungspositionen wahrzunehmen. Nur sind das ja leider noch nicht die Männer, die jetzt die Führungspositionen inne haben. Die, die im Moment im Wesentlichen auf diesen Posten sitzen, haben eine Frau zu Hause, die ihnen den Rücken freihält und die Kinder betreut.
Worauf kommt es an, wenn man als Frau nach oben will - und was sollte man besser vermeiden? Wichtig sind eine gute Ausbildung, Selbstvertrauen, eine gewisse Risikobereitschaft und Engagement. Aber es gibt strukturelle Hürden: Solange wir immer noch zu wenig Ganztagskindergärten und -schulen haben, ist es ein riesiges Problem, Beruf und Familie unter einen Hut zu bringen. Hier für Entlastung zu sorgen, ist das Minimum, was eine Gesellschaft leisten muss. Und zwar nicht aus Wohltätigkeit, sondern weil sie es sich nicht erlauben kann, auf das enorme Potenzial von Frauen zu verzichten.
Und was sollte man unbedingt vermeiden als Frau? Man sollte mehr handeln und weniger versuchen, etwas zu vermeiden! Ich möchte nicht, dass Dinge als typisch weiblich verdammt werden, nur weil die Berufswelt männerdominiert ist und man meint, man müsse möglichst nah ran an das männliche Ideal. Aber wenn ich etwas hätte vermeiden sollen, dann dies: Als ich das erste Mal bei der ÖTV kandidiert habe, habe ich gesagt: „Ich kandidiere nicht als Frau, sondern als engagierte Gewerkschafterin."
Was hat Sie damals veranlasst, diesen Satz zu sagen? Naja, ich war eine Exotin und wollte den Delegierten signalisieren, dass ich mich mit voller Kraft für ihre Interessen einsetzen werde. Aber sich dafür zu entschuldigen, dass man das als Frau macht? Im Nachhinein habe ich gedacht, wie blöd das war. Das hatte ich gar nicht nötig. Man muss sein Frausein nicht verstecken!
Gewerkschaften sind männerdominiert, nicht nur in den oberen Etagen, sondern auch an der Basis. 2017 war nur rund ein Drittel der Mitglieder aller DGB-Gewerkschaften weiblich. Gelten Gewerkschaften als „Männerding"? Die Gewerkschaften sind keine Ausnahme, was das angeht. Auch im Bundestag ist die Zahl der Frauen ja rückläufig. Das Engagement in Großorganisationen hat keinen guten Ruf mehr. Menschen engagieren sich eher für einzelne Projekte. In NGOs finden Sie zum Beispiel deutlich mehr Frauen. Aber die Bereitschaft, längerfristige Ämter zu übernehmen, ist insgesamt geschwunden. Und Gewerkschaften sind in der Öffentlichkeit weniger sichtbar als zu meiner Zeit. Dadurch gibt es auch weniger Rollenvorbilder für Frauen.
Vor kurzem haben Sie den WDR beraten und überprüft, wie der Sender mit Hinweisen auf sexuelle Belästigung von Mitarbeiterinnen umgegangen ist. Wir müssen leider immer wieder über dieses Thema reden. Warum werden Frauen immer noch vielfach sexuell belästigt? Es gibt in der Regel immer noch den älteren Chef und eine Fülle von Studentinnen, Praktikantinnen, Volontärinnen, die in einen bestimmten Job streben und die eben leider auch immer wieder Opfer von Machtmissbrauch und Diskriminierung werden. Solange in einer männerdominierten Arbeitswelt diejenigen, die Herren über berufliche Chancen sind, Grenzüberschreitungen als etwas ansehen, was ihnen zusteht, wird es leider auch immer wieder Fälle von sexueller Belästigung geben.
Was können wir dagegen tun? Vor allem müssen wir Frauen ermuntern, ihre Position energischer wahrzunehmen. Sich nicht von vorneherein in die Opferrolle zu begeben, sondern sich zu wehren und sich zu melden. Die #MeToo-Debatte muss wegkommen von Schlüssellochgeschichten und dazu führen, dass sich Unternehmenskulturen verändern, damit sich Frauen ohne Angst vor beruflichen Nachteilen beschweren können und Vorgesetzte Verantwortung für ein diskriminierungsfreies Arbeitsumfeld übernehmen.
Interview: Ruth Herberg