Nur wenn sich Frauen angstfrei informieren und gut ausgebildete Ärzt:innen finden können, verlieren Abtreibungen ihr Stigma. Der Leitartikel.
Ungewollte Schwangerschaft: Zu viele Orte in Deutschland, an denen niemand Abtreibungen vornimmt. Abtreibungen in Deutschland: Ärzt:innen beklagen aggressives Klima. Detailliertes Fachwissen über Abtreibungen wird im Medizinstudium nicht vermittelt.
Berlin - Wer wissen will, in welcher Lage ungewollt Schwangere in Deutschland sind, sollte einen Blick auf die „Informationen nach Paragraf 13 Absatz 3 Schwangerschaftskonfliktgesetz" werfen. Das ist die offizielle Liste, in der die Bundesärztekammer alle Mediziner:innen und Kliniken aufführt, die mitgeteilt haben, dass sie Schwangerschaften nach der Beratungsregelung abbrechen - also bis zum Ende der 12. Woche und nach einem gesetzlich vorgeschriebenen Gespräch.
Es sollte keine Frage mehr sein, dass Frauen eine ungewollte Schwangerschaft beenden könnenDie Liste gibt es seit der Reform des Paragrafen 219a StGB: Ärzt:innen dürfen zwar angeben, dass sie Abtreibungen vornehmen; mehr Informationen sind aber nur auf der offiziellen Liste erlaubt. Mitte Dezember standen dort 342 Adressen. Wegen des aggressiven Klimas, das derzeit bei dem Thema herrscht, wollen offenbar nicht mehr Ärzt:innen öffentlich angeben, dass sie Schwangerschaften abbrechen - was tatsächlich mehr tun. Die Folge mag überraschen: Für Frauen in Deutschland ist der freie Zugang zu einer Abtreibung nicht selbstverständlich.
Es sollte mittlerweile keine Frage mehr sein, dass Frauen eine Schwangerschaft beenden können, wenn sie das wollen. Natürlich müssen der Wunsch der Schwangeren und der Schutz des Ungeborenen abgewogen werden. Aber dafür gibt es zum Beispiel die 12-Wochen-Frist. Einer Abtreibung, die nicht aus medizinischen oder kriminologischen Gründen nötig ist, sind also enge Grenzen gesetzt. Das aber macht nur Sinn, wenn Frauen innerhalb dieser Grenzen frei entscheiden können. Und das können sie nicht. Abtreibungen werden hierzulande nach wie vor kriminalisiert und damit tabuisiert.
Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland: Gesetzliche Lage macht Stellenwert auf absurde Weise deutlichWelchen Stellenwert Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland haben, macht die gesetzliche Lage auf absurde Weise deutlich. Abtreibungen sind nicht legal, unter bestimmten Umständen aber straffrei. Das regelt Paragraf 218 StGB. Er wird im kommenden Jahr sage und schreibe 150 Jahre alt. Das ist eine gute Gelegenheit, um die Verankerung von Schwangerschaftsabbrüchen im Strafgesetzbuch zu hinterfragen.
„Ich denke, was an einem If-Roe-falls-Szenario wirklich wichtig ist, ist, dass es nicht bedeuten wird, dass die Menschen aufhören werden, Zugang zu Abtreibung zu suchen." ...1/2 https://t.co/jdyQbUKArg
- pro familia Bayern (@profa_bayern) January 6, 2021Gleiches gilt für das Verbot der „Werbung" für Abtreibungen, den Paragrafen 219a. Dessen Reform ist Augenwischerei, solange Ärzt:innen nicht wirklich offen über sämtliche Aspekte einer Abtreibung informieren können, ohne Angst vor einem Verfahren haben zu müssen. Beide Paragrafen müssen raus aus dem Strafgesetzbuch, rechtliche Aspekte wie eine Fristenregelung ließen sich stattdessen im Schwangerschaftskonfliktgesetz behandeln. Nur so haftet einer Abtreibung nicht länger etwas Unrechtes, moralisch Verwerfliches an.
Schwangerschaftsabbrüche: Zu viele Orte in Deutschland, an denen niemand Abtreibungen vornimmtDas allein löst das Problem allerdings nicht. Es gibt zu viele Orte in Deutschland, an denen niemand Abtreibungen vornimmt; Regionen, in denen Frauen sehr weit fahren müssen, um eine Schwangerschaft beenden zu können. Das liegt auch daran, dass in Deutschland niemand zur Mitwirkung an einem Schwangerschaftsabbruch verpflichtet werden kann. Das ist völlig in Ordnung, führt aber zu einem Konflikt: Einerseits kann niemand gezwungen werden - andererseits muss es aber Menschen geben, die die Abtreibungen vornehmen. Die Länder sind qua Gesetz sogar dazu verpflichtet, ein „ausreichendes Angebot ambulanter und stationärer Einrichtungen zur Vornahme von Schwangerschaftsabbrüchen " sicherzustellen.
Dieser Konflikt lässt sich nicht lösen, aber entschärfen. Im vergangenen Juli kam aus den Reihen der in Baden-Württemberg mitregierenden Grünen ein Vorschlag, über den es sich nachzudenken lohnt. Sozialstaatssekretärin Bärbl Mielich hatte in einem Interview gesagt, das Land prüfe, inwiefern es die ihm unterstehenden Unikliniken dazu verpflichten könne, Neueinstellungen davon abhängig zu machen, dass Ärzt:innen bereit seien, Schwangerschaften abzubrechen. Die Entrüstung war groß und wenige Tage später war der Vorschlag vom Tisch. Das ist schade, denn der Ansatz ist vielversprechend. Es müssen ja nicht gleich alle neuen Beschäftigten zu Abtreibungen bereit sein; ein vorher festgelegter Anteil reicht. So wäre zumindest an Unikliniken die Versorgung gesichert.
Die Freiheit, Abtreibungen abzulehnen, darf nicht mehr zählen als die Freiheit, sich für sie einzusetzenAuch bei den Studierenden lässt sich ansetzen. Detailliertes Fachwissen über Abtreibungen wird im Medizinstudium nicht vermittelt. Interessierte Studierende müssen sich in Eigenregie weiterbilden. Warum bieten die Universitäten nicht Wahlfächer zum Thema an? Dann könnten die Studierenden für sich selbst entscheiden, ob sie sich das vorstellen können oder nicht.
Die Freiheit, Abtreibungen abzulehnen, darf nicht mehr zählen als die Freiheit, sich für sie einzusetzen: Das gilt für Studierende genauso wie für Ärzt:innen und betroffene Frauen, aber auch für alle anderen. Dazu gehört, dass sich die Politik nicht länger anmaßt, derart stark in das Leben von Frauen einzugreifen. Ungewollt Schwangeren darf es nicht unnötig schwer gemacht werden. Stattdessen müssen sie die für sich richtige Entscheidung treffen und dann auch umsetzen können - in Ruhe, ohne Druck oder das Gefühl, etwas Unrechtes zu tun. Wir sollten den Frauen zutrauen, selbst zu entscheiden, und sie danach unterstützen. Egal, ob sie das Kind letztlich bekommen oder nicht. (Ruth Herberg) Polen: Abtreibungsverbot verschärft - „Grausamer Verstoß gegen Menschenrechte"
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