Ruth Herberg

Redakteurin Politik, Frankfurt

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Artikel

Corona und Digitalisierung: Algorithmen gegen die Pandemie

Der Kampf gegen das Coronavirus hat weltweit enorme Datenmengen produziert. Eingespeist in Systeme künstlicher Intelligenz, sollen sie helfen, die Krise besser zu bewältigen.

Es klingt beinahe wie in einem Science-Fiction-Film: Als sich vor mehr als einem Jahr der Beginn der Corona-Pandemie abzeichnete, hatte ein Computersystem das schon vorausgesagt. Die kanadische Firma Blue Dot erstellt mittels künstlich intelligenter Systeme für Unternehmen und Behörden Prognosen über die Ausbreitung von Infektionskrankheiten. Das System durchforstet dafür unterschiedliche Quellen wie internationale Medien oder Behördeninformationen und wertet diese aus.

Daraufhin erstellt es eine Prognose, die von Fachleuten auf ihre Plausibilität hin geprüft wird. Im Fall der Corona-Pandemie war die Prognose offenbar plausibel genug, das Unternehmen gab eine Warnung heraus - am 31. Dezember 2019 und damit deutlich vor der Weltgesundheitsorganisation.

Neue Technologie

Der Begriff „Big Data" taucht mittlerweile in den unterschiedlichsten Bereichen auf, er meint aber fast immer dasselbe: Es geht stets um riesige Mengen digitaler Daten, die etwa im Internet, im Gesundheitswesen oder in der Logistik anfallen. Sie sind oft so komplex, dass es spezieller Technologien bedarf, um sie zu verarbeiten. Auf diese Weise können Muster, Zusammenhänge oder Entwicklungen herausgelesen werden, die sonst verborgen bleiben würden („Data Mining", zu Deutsch: „Datenschürfen"). Dabei kommen Algorithmen und künstlich intelligente Systeme (sogenannte KI-Systeme) zum Einsatz.

Ein Algorithmus ist zunächst nichts anderes als eine Reihe von Anweisungen, die nacheinander ausgeführt werden, um ein Problem zu lösen. So findet beispielsweise das Navigationsgerät im Auto die passende Route mittels eines Algorithmus. Bei riesigen digitalen Datensätzen können die Computercodes helfen, schnell bestimmte Informationen zu finden und zu kombinieren.

Künstliche Intelligenz ist ein Sammelbegriff für IT-Anwendungen, die menschliche kognitive Fähigkeiten nachahmen sollen. Ein Basiselement dafür ist Maschinelles Lernen, durch das eine Anwendung etwal durch Rückmeldungen lernt, eine Aufgabe selbstständig zu lösen. Grundlage sind Algorithmen. So sollen KI-Systeme beispielsweise erkennen, ob auf einem Bild ein menschliches Gesicht zu sehen ist.

Die Menge digitaler Daten ist in den vergangenen Jahren extrem gewachsen, deshalb haben Algorithmen und KI-Systeme an Popularität gewonnen. Damit einher gehen allerdings auch Risiken: zum Beispiel dass Datenschutzregeln aufgeweicht oder anlasslos massenhaft Informationen gesammelt werden. Außerdem bergen automatisierte Analysen die Gefahr von Diskriminierung und Missbrauch. thh

Forschende entwickeln Technologien gegen Corona

Der Ausbruch der Pandemie konnte so zwar nur vorhergesehen, nicht verhindert werden. Ähnliche Technologien sollen nun aber dabei helfen, die Situation in den Griff zu bekommen. Denn wie in allen Bereichen des Lebens fallen auch im Gesundheitswesen mittlerweile enorme Mengen unterschiedlicher Daten an. Analysiert man sie, können Zusammenhänge oder Entwicklungen sichtbar werden, die sonst verborgen blieben.

Darauf hoffen viele Forschende in der Pandemie: Sie versuchen, mit Hilfe von Algorithmen und künstlich intelligenten Systemen (KI-Systeme) Muster und Auffälligkeiten im Zusammenhang mit dem Coronavirus und Covid-19 zu finden. Das ist in fast allen relevanten Bereichen denkbar oder schon gängige Praxis: in der Kontaktnachverfolgung und im Ressourcenmanagement in Kliniken und Behörden genauso wie bei der Behandlung von Erkrankten. Das Potenzial für solche Technologien im Kampf gegen das Virus ist groß. Doch die Hürden sind es auch.

Künstliche Intelligenz zur Eindämmung der Corona-Pandemie

Reinhold von Schwerin und Meinrad Beer sind zwei der Forschenden, die mit künstlicher Intelligenz arbeiten. Der Professor für Wirtschaftsinformatik an der TH Ulm und der Chef-Radiologe am Uniklinikum der Stadt entwickeln derzeit ein KI-System für eine schnelle Diagnose von Covid-19. Sie wollen das Programm so trainieren, dass es anhand von Röntgenaufnahmen erkennt, ob jemand eine Lungenkrankheit hat, ob es sich um Covid-19 handelt und falls ja, wie schwer erkrankt die Person ist. „Die Technik soll das medizinische Personal nicht ersetzen, sondern bei der Diagnose unterstützen", sagt Beer. Sogar eine Prognose über den Verlauf einer Covid-19-Erkrankung soll irgendwann möglich sein.

Beer und von Schwerin trainieren das System derzeit mit Bildern von Gesunden sowieso von mehreren Hundert Covid-Patient:innen. Für ein KI-System ist das eher wenig; doch so viele Röntgenaufnahmen von Covid-Kranken gebe es an einer einzelnen Uniklinik noch nicht, sagt Beer. Der Datensatz ist den beiden Forschern zufolge aber gut strukturiert, also etwa ohne Verzerrungen wie andere Krankheiten. Zudem funktioniere der Austausch zwischen technischen und medizinischen Fachleuten sehr gut, meint von Schwerin, daher kämen sie mit wenigen Bildern zurecht. „Dennoch wäre es besser, wenn wir mehr Daten hätten."

Technik gegen Corona: „Datenqualität schlägt Datenquantität"

Je mehr Informationen einer Anwendung zur Verfügung stehen, desto besser kann sie ihre Aufgaben erfüllen. „Trotzdem schlägt in der Regel die Datenqualität die Datenquantität", sagt Jil Sander, die am Fraunhofer-Institut für Intelligente Analyse- und Informationssysteme KI-basierte Lösungen für den Medizinbereich entwickelt. „Wir brauchen genug Daten von guter Qualität, um die Systeme ausreichend trainieren zu können." Das heißt, die Informationen sollten beispielsweise einheitlich und für die Fragestellung relevant sein. „Schließlich muss man sich auf das Ergebnis verlassen können", sagt Sander.

Vor dieser Herausforderung stehen Forschende in dem Bereich generell, sie wird in der Pandemie aber besonders deutlich. Viele Daten liegen unsortiert oder nur auf Papier vor, weil in Kliniken, Gesundheitsämtern und Behörden die nötige Infrastruktur fehlt. Dazu kommt der Zeitdruck, der es etwa Forschungseinrichtungen erschwert, Datensätze von ausreichender Größe oder Qualität aufzubauen, ohne gegen geltende Datenschutzbestimmungen zu verstoßen. Das Arbeiten mit den Daten macht schließlich nur dann Sinn, wenn es sicher und transparent ist und in Einklang mit den Persönlichkeitsrechten steht.

„Open Data" gegen Corona-Pandemie

Viele Fachleute schlagen daher - nicht nur für den weiteren Verlauf der Pandemie, sondern auch für die Zukunft, als Lehre aus der Krise - einen anderen Umgang mit relevanten Daten vor. Zum Beispiel Ingo Timm, Professor für Wirtschaftsinformatik an der Universität Trier und Wissenschaftler am Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz. „Ich plädiere dafür, dass wir uns noch stärker in Richtung ‚open data' und der Bildung von Datenhubs orientieren, damit die Forschung, auch aus anderen Disziplinen, einen schnelleren Zugang zu guten Daten in einer Krise bekommt", sagt er im Gespräch mit der Frankfurter Rundschau. Hinter „open data" steckt die Idee, für das Gemeinwohl Daten unter Einhaltung der Persönlichkeitsrechte für alle öffentlich frei verfügbar und nutzbar zu machen; auch in der Wissenschaft, weswegen oft im selben Atemzug von „open science" die Rede ist.

Einen ähnlichen Ansatz haben die Macher:innen des Projekts „Faster than Corona" gewählt. Sie wollen „ schneller als Corona " sein, indem sie enorme Mengen an Daten von Freiwilligen zusammentragen, um möglichst viel über das Virus lernen zu können. Jede:r kann online einen Fragebogen ausfüllen mit Fragen zu Gewohnheiten, Vorerkrankungen und eventuellen Symptomen. Das Team trainiert mit diesen Datenspenden ein KI-System darauf, mögliche Muster zu erkennen - etwa Häufungen bei Alter oder Geschlecht oder Vorerkrankungen im Hinblick auf die Verläufe der Infektionen. Ziel ist es, die Datensätze Forschungseinrichtungen zur Verfügung zu stellen, damit diese die Hypothesen überprüfen und neue Informationen über das Virus gewinnen können.

„Faster than Corona": „Man kann nicht erwarten, dass alle Menschen detaillierte Kenntnisse haben"

Das war zumindest der Plan beim Start im Februar 2020. Doch viele Erkenntnisse habe das Team noch nicht aus den Daten ziehen können, „da wir schlicht zu wenig Datensätze bekommen haben", sagt Tobias Gantner. Der Chirurg und Unternehmer ist einer von elf Ehrenamtlichen aus Medizin, Informatik und anderen Fachrichtungen, die das Projekt auf die Beine gestellt haben. Zu Beginn der Pandemie seien die Bedenken von Datenschützer:innen groß gewesen, mittlerweile halte wohl vor allem die Corona-Müdigkeit viele davon ab, den Fragebogen auszufüllen. So haben bis Mitte März gut 13 000 Menschen Daten gespendet. Um Hypothesen generieren und die Datensätze Forschenden zur Verfügung stellen zu können, bräuchte das Team ein Vielfaches an Datenspenden, sagt Gantner.

Dass sich nur wenige Freiwillige für Projekte wie „Faster than Corona" finden, ist für Tobias Matzner nicht überraschend. Matzner ist Professor für Medienwissenschaft an der Universität Paderborn und forscht dort zu den Zusammenhängen zwischen Technologie, Kultur und Politik. Er beobachtet eine Distanz zwischen den Menschen und dem Wissenschaftsbetrieb. „Auch wenn man annimmt, dass Menschen in dieser Pandemie gern etwas für die Gemeinschaft tun wollen - und das ist bei vielen der Fall -, ist das sehr abstrakt." Viele wüssten nicht, dass es helfen könne, wenn sie sich beteiligten. „Man kann nicht erwarten, dass alle Menschen detaillierte Kenntnisse darüber haben, wie Wissenschaft funktioniert", sagt er der FR.

Für ältere Menschen sind Technologien gegen Corona häufig schwerer verständlich

Dazu kommt, dass es für viele - gerade ältere - Menschen schwer nachzuvollziehen ist, wie Algorithmen und KI-Systeme arbeiten. Dennoch nimmt die Offenheit gegenüber künstlich intelligenten Systemen zu, das belegen Umfragen. So gaben gut zwei Drittel der Befragten (68 Prozent) bei einer repräsentativen Umfrage des Digitalverbands Bitkom im vergangenen Jahr an, künstlich intelligente Systeme allgemein eher als Chance denn als Gefahr zu sehen; 2018 waren es noch 62 Prozent, im Jahr davor 48 Prozent. KI-Expertin Jil Sander bestätigt diesen Trend, betont aber, es sei trotzdem noch viel Aufklärungsarbeit nötig. „Wichtige Themen dabei sind Verlässlichkeit und Transparenz von Systemen."

Dazu beitragen könnte eine der Erfolgsgeschichten über den Einsatz von KI-Systemen in der Pandemie: Bei der Entwicklung der mRNA-Impfstoffe, wie etwa dem von Biontech/Pfizer, spielte die Technik eine entscheidende Rolle. Genauer gesagt bei der Analyse der Genstrukturen von Sars-CoV-2 und damit der Grundlagen für die Bauanleitung für das Spike-Protein, das die Zellen von Geimpften selbst herstellen sollen. „Ohne Datenanalyse und KI wäre die Gensequenzierung des Virus und die sehr schnelle Entwicklung der Impfstoffe überhaupt nicht denkbar gewesen", sagt Wirtschaftsinformatiker Ingo Timm.

Potenzial von KI-Systemen in der Corona-Krise bislang nicht ausgeschöpft

Er glaubt aber auch, dass das Potenzial von KI-Systemen in der Krise bislang nicht ausgeschöpft sei, „insbesondere weil es keine Strukturen gibt, um Personen und Algorithmen der KI-Spitzenforschung, die wir in Deutschland haben, mit den Menschen und Daten im Gesundheitswesen zu vernetzen." Die Gesellschaft müsse aber auch einen Diskurs über Digitalisierung und Datennutzung bei angemessener Berücksichtigung des Datenschutzes in Krisenlagen führen. „Das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe für die nächste Legislaturperiode", sagt Timm und schlägt ein Gremium analog zur Datenethikkommission oder der Enquete-Kommission Künstliche Intelligenz vor.

Auch Tobias Gantner findet, dass der Umgang mit Daten in der Öffentlichkeit viel mehr diskutiert werden müsste. „Ich glaube, es ist eine Pflicht, dass die in einem Solidarsystem entstehenden Daten auch solidarisch genutzt werden können, wenn sich Datenschutz und Anonymität sicherstellen lassen." Sein Projekt „Faster than Corona" läuft vorerst auf Sparflamme, also mit weniger Serverkapazitäten weiter. Das reicht für die, die derzeit den Fragebogen ausfüllen. „Sollten wieder mehr Menschen mitmachen, können wir jederzeit wieder hochfahren", sagt Gantner.

KI-Diagnose-System gegen Corona vor Einsatz im realen Klinikalltag

Meinrad Beer und Reinhold von Schwerin dagegen wähnen sich mit der Covid-Diagnose an Hand von Röntgenbildern auf der Zielgeraden. Auch aus der Erfahrung von anderen KI-getriebenen Forschungsprojekten könne er sagen, „dass ich begeistert bin, wie schnell wir bei allen noch zu lösenden Punkten bisher voran gekommen sind", meint Beer und nennt als Beispiel die Absprache mit den Datenschutz-Teams. Das zahlt sich aus: Im Laufe dieses Jahres wollen sie, wissenschaftlich begleitet, ihr KI-Diagnose-System zum ersten Mal im realen Klinikalltag einsetzen. (Ruth Herberg)

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