Roland Rosenbauer

Redakteur, Autor, Reporter, Kunreuth

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Richard von Weizsäcker und seine 365 Tage in Nürnberg - Magazin mit Podcast

Richard von Weizsäcker und seine 365 Tage in Nürnberg Veröffentlicht am 01. Februar 2015 von Richard von Weizsäcker ist gestern im Alter von 94 Jahren gestorben. Kein anderer hat das Amt des Bundespräsidenten so geprägt, wie er. Auch nach seiner Amtszeit stand er hoch im Ansehen der Bevölkerung. Ein Rentnerdasein hatte er nie geführt, eher schon einen "hochaktiven Unruhestand", wie er es selbst mal ausdrückte.

Sein Alter war jedenfalls der Grund dafür, dass sich Richard von Weizsäcker am 3. März 2000 aus der Jury zur Vergabe des Nürnberger Menschenrechtspreises verabschiedete. Dabei verband den Alt-Bundespräsidenten mit Nürnberg viel mehr als nur dieser Preis. Die wenigsten wissen, dass er sogar mal in Nürnberg gewohnt hat. Bei der Eröffnung des Altstadtfestes 1998 wies er schmunzelnd darauf hin: "Ich habe mal ein ganzes Jahr lang in Nürnberg gelebt - in der Kirschgartenstraße 15. Wissen Sie, wo das ist?"

Wer die Adresse sucht, findet Häuser der Städtischen Wohnungsbaugesellschaft in Johannis, Mitte der 20er Jahre erbaut, die den Krieg nahezu unbeschädigt überdauert haben. In den Archiven der WBG sucht man jedoch vergeblich nach dem Namen "Weizsäcker", denn er wohnte damals (1947/48) zur Untermiete bei Maria Dolles "einer menschenfreundlichen, wamherzigen und umgänglichen Frau um die 50", wie er sich im Interview erinnert. Die Vermieterin tippte damals auch Ernst von Weizsäckers handgeschriebene Aufzeichnungen aus dem Gefängnis ab. Wegen seinem Vater, dem Staatssekretär unter Ribbentrop, der Hauptperson im "Fall 11" der Nürnberger Prozesse, war Richard von Weizsäcker von Göttingen nach Nürnberg gezogen. Er stellte sich Rechtsanwalt Helmut Becker als Assistent der Verteidigung zur Verfügung und trug einen wesentlichen Anteil zur fünf Bände umfassenden Verteidigungsschrift bei. Über 1000 Seiten soll er damals geschrieben haben.

Schon im Winter 1945/46 war Richard von Weizsäcker nach Nürnberg gekommen. Sein Vater Ernst war damals noch als Zeuge beim Hauptkriegsverbrecherprozeß geladen, ohne selbst angeklagt zu sein. Zusammen mit Marion Gräfin Dönhoff und Axel Busche nutzt der junge Richard die Gelegenheit, den Vater wiederzusehen. Der Anblick der zerstörten Stadt erschüttert ihn, denn schon als Kind hatte ihn Nürnberg bei verschiedenen Besuchen als "Stadt der Fachwerkhäuser" fasziniert. Um so mehr fällt ihm jetzt der nahezu unzerstörte Justizpalast ins Auge, der offensichtlich bereit ist, die Lebenden zu richten.

Im Winter 1945/46 ist Richard von Weizsäcker nach Nürnberg gekommen.

Zwei Jahre später beginnt er selbst, in diesem Gebäude ein und aus zu gehen. Als einer der ersten Deutschen lernt Richard von Weizsäcker damals den Ablauf der systematischen Ausrottung von Millionen von Menschen durch das NS-Regime kennen. "Gegenüber seinen offenen Augen", erinnert sich der amerikanische Hauptankläger Robert M. Kempner anerkennend, "konnten alle Verdrängungsakrobaten nicht bestehen." Hauptverteidiger Becker hält die Nähe des Sohnes heilsam für seinen Mandanten, denn die psychische Belastung, durch einen Prozess, der mit der Androhung der Todesstrafe begonnen hatte, lässt sich dadurch ertragen und in einen heilsamen Klärungsprozess verwandeln. Der Sohn andererseits habe dadurch "die Unlösbarkeit der Frage nach der Wahrheit wie die Unvermeidlichkeit der Verstrickung in Schuld im politischen Zusammenhang genau kennengelernt." Für Richard von Weizsäcker sind die zwölf Monate als Hilfsverteidiger nach eigenen Worten "sowohl in menschlichem Sinne dem Vater gegenüber als auch im zeitgeschichtlichen Sinne vielleicht die größte und intensivste Lehrzeit, die ich in meinem Leben überhaupt erlebt habe."

Wegen der intensiven Arbeit im Justizpalast bleibt ihm wenig Freizeit. In den Ruinen gibt es auch wenig Gelegenheit zur Entspannung. Er besucht die Städtischen Bühnen, erinnert sich noch gut an Shakespeare-Stücke und die Schauspielerin Elfriede Kusmani, die er damals verehrte. Um Abstand zu gewinnen, fährt er zwischendurch in die Berge. Die schwer mitgenommene Stadt Nürnberg stimmt ihn traurig. Er kann sich damals nicht vorstellen, dass das geschichtlich nicht nur für die Franken bedeutsame Erbe, in irgendeiner Form wieder hergestellt werden kann. So erfüllt es ihn, nach seinen eigenen Worten, bei seinen späteren Besuchen "mit Hochachtung, wie es gelungen ist, aus diesem Bild der Verwüstung und Zerstörung wieder eine humane historisch lebendige und kulturell bedeutsame Stadt Nürnberg erstehen zu lassen, an der wir uns alle erfreu'n."

Mitte Januar 1949 kehrt der Jurastudent an die Universität Göttingen zurück, um im April des gleichen Jahres erneut nach Nürnberg zu kommen. Das Urteil gegen seinen Vater wird verkündet - sieben Jahre Haft. In den nächsten Monaten unterstützt er Rechtsanwalt Becker bei Berufungsversuchen und kümmert sich um das Erscheinen der im Nürnberger Gefängnis und in der Kirschgartenstraße entstandenen "Erinnerungen" Ernst von Weizsäckers. Der Vater wird im Herbst 1950 vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen und stirbt im August 1951 an den Folgen eines Schlaganfalls.

1950 legt Weizsäcker das Referendarexamen offen. Wegen seiner Nürnberger Erfahrungen stand ihm damals der Weg zum deutschen Institut zur Erforschung der nationalsozialistischen Zeit, dem heutigen Institut für Zeitgeschichte in München offen, doch der 30jährige entschied sich für eine Karriere in der Wirtschaft. 1953 promoviert er in Göttingen. Mit dem Eintritt in die CDU beginnt 1954 die Politik eine wichtige Rolle zu spielen, aber Berufspolitiker wird er noch lange nicht.

Richard von Weizsäckers Wurzeln liegen im Hohenloher Land.

Mit Billigung seines damaligen Arbeitgebers Boehringer tritt er 1962 in das Präsidium des Deutschen Evangelischen Kirchentages ein. Von 1964-1970 und von 1979-1981 ist er dessen Präsident. Bei den Kirchentagen macht Weizsäcker die Erfahrung, dass er vor Menschenmassen reden und Zuhörern das Gefühl des Angesprochenseins vermitteln kann. Weizsäckers Auftritt 1979 auf dem Podium des Kirchentages in Nürnberg ist ganz politischer Natur: Als Bundestagsabgeordneter steht er zusammen mit Hildegard Hamm-Brücher und weiteren internationalen Teilnehmern auf dem Podium und diskutiert zum Thema "Europa - wozu?"

1982 wird Richard von Weizsäcker zusammen mit seiner Frau Marianne auf dem Nürnberger St. Johannisfriedhof gesehen. Er amtiert inzwischen als regierender Bürgermeister von Berlin. Alfred Hahn, der damalige Oberaufseher des Friedhofs beobachtet ein Ehepaar auf der Suche nach einem historischen Grabmal. Er erfährt, dass Marianne von Weizsäcker das Grab ihrer Vorfahren sucht. Hahn zeigt ihr das Grab Nr. 704 derer von Kretschmann. Die Familie stammt aus dem Fränkischen und wurde als evangelisches Geschlecht urkundlich erstmals im 16. Jahrhundert in Rothenburg ob der Tauber erwähnt. Hundert Jahre später war ein Georg Klemens Kretschmann bereits Hauptmann sowie Ratsherr der Stadt Nürnberg und führte seit 1666 ein vom Kaiserhof in Wien anerkanntes Wappen.

Auch Richard von Weizsäckers Wurzeln liegen in Franken, genauer gesagt im Hohenloher Land. Noch heute halten die Weizsäckers alle fünf Jahre in Öhringen ein Familientreffen ab, bei dem regelmäßig über 100 Familienmitglieder zusammen finden.

Richard von Weizsäcker wird am 15. April 1920 in Stuttgart geboren. Bedingt durch die Diplomatentätigkeit seines Vaters ist seine Kindheit sehr europäisch geprägt. 1922 zieht die Familie nach Basel um, 1924 nach Kopenhagen und 1927 nach Berlin, wo er bis 1933 zur Schule geht, bis ihn sein Vater nach Oslo mitnimmt. Auf die vielen Ortswechsel in seiner Kindheit führt Richard von Weizsäcker "etwas Zigeunerhaftes" in seinem Wesen zurück: die Neugier auf fremde Menschen und die Lust zu reisen. Diese Reisen prägen auch seine politische Laufbahn. Schon in den siebziger Jahren unternimmt er mehrere Auslandsreisen zusammen mit Helmut Kohl, als er am 1. Juli 1984 zum Bundespräsidenten ernannt wird, ist das der Auftakt von noch zahlreicheren Reisen. Weizsäcker wird auf dem internationalen Podium wie kein anderer als Staatsmann wahrgenommen und prägt das gute Ansehen der Bundesrepublik in der Welt.

Natürlich kam er auch als Bundespräsident nach Nürnberg. 1993 eröffnet Richard von Weizsäcker als erster Bundespräsident des Vereinigten Deutschlands den Erweiterungsbau des Germanischen Nationalmuseums mit der hochkarätigen Ausstellung "LudwigsLust". Gezeigt werden berühmte Gemälde aus der Sammlung Ludwig.

Er lernt Dani Karavan kennen, den Schöpfer der "Straße der Menschenrechte" in Nürnberg. Von 1994 - 1999 ist er zusammen mit Vaclav Havel, Dani Karavan, Daniel Jacoby, Theo van Boven, Asma Jahangir Frederico Mayor, José Miguez Bonino und dem jeweils amtierenden Oberbürgermeister Mitglied in der Jury des Internationalen Nürnberger Menschenrechtspreises, eine Aufgabe, die er sehr ernst nimmt. In den fünf Jahren werden vier Preisträger gekürt. Am 3. März 2000 erklärte Weizsäcker auf einer Jurysitzung in Nürnberg, dass er aus Altersgründen für eine zweite Amtsperiode nicht mehr zur Verfügung steht.

Info: Eine ältere Version dieses Textes erschien in "Nürnberg Heute" Du willst nichts verpassen?

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