Roland Peters

Journalist, Korrespondent und Reporter

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Wut auf Chiles Elite und "Krieg" gegen das Volk

(Foto: Reuters)

Plötzlich landesweite Proteste in Chile, Militär auf den Straßen, Plünderungen und Tote. Präsident Piñera sagt: "Wir sind im Krieg." Später rudert er zurück. Aber es sagt viel über das angebliche Musterland. In Chile scheitert das große Wirtschaftsexperiment der Neoliberalen. 

Von Roland Peters

"Unser Land ist eine wahre Oase, denn wir haben ein stabiles politisches System", sagte Chiles Präsident Sebastián Piñera vor wenigen Tagen. Kurz drauf verhängt er den Ausnahmezustand, schickt das Militär auf die Straßen des südamerikanischen Landes. Soldaten, Panzer, Tränengas, Scharfschützen, Schüsse undTote sind das Resultat. "Wir sind im Krieg gegen einen mächtigen Feind", sagt Piñera zur Rechtfertigung. Eine Erhöhung der Ticketpreise der U-Bahn in Santiago war der Funke, der alles entzündete. Doch der Grund für die Unzufriedenheit ist vor allem ein System, das den Menschen seit Langem viel mehr aufgebürdet als Chancen verschafft hat.

Auf den Straßen bricht sich etwas Bahn, das über Jahrzehnte unterdrückt wurde: Ein mit Unzufriedenheit und Wut verbundenes Gefühl, ungerecht und unsolidarisch behandelt zu werden von derselben Elite wie früher. Die an der Gesellschaft gut verdient, aber sonst nichts mit ihr zu tun haben will. Piñeras martialische Sprüche und die Soldaten auf den Straßen erinnern an General Augusto Pinochet, der sich nach dessen Putsch im Jahr 1973 ähnlich geäußert hatte. Nun herrscht erstmals seit dem Ende der Militärdiktatur im Jahr 1990 der Ausnahmezustand.

Chile wird immer wieder als Musterland Südamerikas genannt, als Hafen der Stabilität. Das ist es auch - wenn man Geld hat. Einkommen und Besitz sind sehr ungleich verteilt. Chile ist das einzige südamerikanische Land unter den 36 Mitgliedern der OECD, der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. In keinem herrscht größere Einkommensungleichheit. Bei den Vermögen sieht das nicht anders aus.

Das reichste Prozent der chilenischen Bevölkerung besaß im Jahr 2017 rund ein Drittel des Gesamtvermögens, die oberen 20 Prozent insgesamt vier Fünftel. Für die anderen der 18 Millionen Einwohner blieb der Rest: Die ärmere Hälfte aller Haushalte kam nur auf 2,1 Prozent. Es ist wissenschaftlich belegt, dass mehr Ungleichheit in der Bevölkerung auch zu mehr Unzufriedenheit führt.

Die Proteste durch fast alle Teile der Gesellschaft losgetreten hatten Schüler und Studenten in der Hauptstadt Santiago, als sie zum Zahlungsboykott der Metro aufriefen. Studierende sind finanziell schwach: Die Bildung in Chile ist überwiegend privatisiert, die Schul- und Studiengebühren hoch. Die Finanzierung läuft über Kredite bei Privatbanken. Wer sein Studium abschließt, findet sich am Fuße eines verzinsten Schuldenbergs wieder, den er über viele Jahre abtragen muss. Nur 13 Prozent der Kinder aus Nicht-Akademikerfamilien erreichen einen Hochschulabschluss. 54 Prozent der Chilenen sagen, dass ohne gut gebildete Eltern kein Erfolg möglich sei.

45-Stunden-Woche und Altersarmut

Bei einer alltäglichen Fahrt im Bus sind die Unterschiede in Chile sichtbar. Im Zentrum der Hauptstadt Santiago drängen sich Banken und Bürotürme, in der Küstenstadt Viña del Mar an der Pazifikküste Häuser der Wohlhabenden - und neben der Straße dorthin manch notdürftig zusammengezimmerte Hütte an Hügelhängen. In Viña del Mar lebt auch der 33-jährige Pedro Cisternas mit seiner schwangeren Frau und seiner vierjährigen Tochter. "Um 6 Uhr gehe ich aus dem Haus zur Arbeit, um 20 Uhr komme ich wieder, ein Familienleben habe ich nicht", berichtet der Geschichtslehrer am Telefon. In Chile gilt die 45-Stunden-Woche.

Pedro Cisternas gehört zur Mittelschicht, also den 60 Prozent in der Einkommensmitte. Er verdient vergleichsweise viel, aber permanent jongliert er mit seinem Gehalt und Krediten für die Dinge des täglichen Bedarfs. Seine Frau gehe nicht arbeiten, weil die Kosten für die Kindertagesstätte und Fahrten ihren kompletten Mindestlohn wieder auffräßen, sagt er. "So fliegt hier die Zeit vorbei, ich arbeite und irgendwann bin ich alt und bekomme eine furchtbar niedrige Rente."

Das chilenische Rentensystem besteht aus einer Oligarchie privater Aktienfonds, das unter Pinochet eingeführt wurde. Die Teilnahme ist verpflichtend, die Auszahlungen sind gering, sie liegen meist unter dem Mindestlohn und deutlich unter OECD-Durchschnitt. Als der Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman während der weltweiten Finanzkrise nach Chile kam, unkte er: "Gott sei Dank haben wir noch ein staatliches Rentensystem" - sonst hätte es in den USA eine noch größere Krise gegeben.

Im Jahr 2013 stellte eine Studie des gemeinnützigen Thinktanks Cenda fest, dass die privaten Fonds in Chile nur 37 Prozent der Rentenbeiträge und staatlichen Subventionen wieder ausschütteten. Würde der Staat ein eigenes System einführen, verdoppelten sich die Rentenauszahlungen. Geändert hat sich trotzdem kaum etwas. Da 80 Prozent der Bevölkerung wegen ihres niedrigen Einkommens nicht sparen können, enden sie in Altersarmut. Wer dort hinkommt, hat auch kein Geld für eine private Krankenversicherung, die für qualitativ hochwertige Versorgung nötig wäre.

Gescheitertes Experiment

Der derzeitige Ausnahmezustand ist die Folge eines wirtschaftlichen Experiments der sogenannten Chicago Boys, einer Gruppe von neoliberalen Wirtschaftswissenschaftlern, die ihr Modell mithilfe von Pinochets Militärdiktatur zur Realität machten. Heute ist das Land bis hin zur Wasserversorgung fast komplett durchprivatisiert und Alltagszwängen unterworfen, die den Menschen einen dauerhaften sozialen Aufstieg kaum erlauben. Sechs Generationen dauert es laut OECD, bis ein Nachkomme einer Niedriglohnfamilie in Chile das Durchschnittseinkommen erreicht. Das Risiko für Mittelschichtler, zurück in die Armut zu fallen, ist so hoch wie in keinem anderen Land der Organisation: Mehr als ein Drittel der Aufsteiger rutschen innerhalb von vier Jahren wieder ab.

Die Gründe für die permanente ökonomische Unsicherheit sind ein kaum vorhandener Sozialstaat, rund 30 Prozent befristeter Jobs, ein prekärer Mindestlohn von 301.000 Peso - derzeit umgerechnet 414 US-Dollar -, und die Hälfte der arbeitenden Bevölkerung, die kaum mehr als das verdient. Rund 75 Prozent der chilenischen Haushalte sind überschuldet. Wenn dann noch Preiserhöhungen hinzukommen, brechen die notdürftig zusammengezimmerten Lebensentwürfe in sich zusammen. Abgesehen von der U-Bahn, deren Preis sich innerhalb von zehn Jahren in etwa verdoppelt hat (es gibt Familien, die ein Drittel ihres Einkommens nur für Transportkosten aufwenden müssen), sind etwa die Strompreise in diesem Jahr bereits um rund 20 Prozent angestiegen.

Derzeit wird in Chile häufig ein etwas schiefer, aber anschaulicher Vergleich gezogen: Auf der einen Seite geht die Polizei in der U-Bahn mit aller körperlichen Härte gegen solche vor, die nicht bezahlen wollen. Die militarisierte Polizei Chiles ist bekannt dafür, auch auf Verdacht mit Tränengas um sich zu schießen. Dabei bleibt es aber nicht mehr, Dutzende Menschen beklagen Schusswunden. Im Internet kursieren Videos, auf denen Polizisten zu sehen sind, die Barrikaden anzünden. Die andere Seite des Vergleichs: Unternehmer und Politiker kämen mit praktisch allem davon. Da ist etwa der Steuerbetrug des Finanzkonzerns Penta, unter dessen Dach ein Netzwerk von 122 Personen den Staat umgerechnet um rund 25 Millionen Euro geprellt hatte. Die Strafe für die Chefs war die Rückzahlung der Hälfte ihres Anteils - und ein Kurs in Sachen ethischer Unternehmensführung.

All das verstärkt das Gefühl, die alten weißen politischen und wirtschaftlichen Eliten hielten sich gegenseitig die Schlingen vom Hals und profitierten vom System, das den großen Teil der Bevölkerung knebelt. Präsident Piñeras Bruder etwa war einer derer, die unter Diktator Pinochets das derzeitige Wirtschaftssystem installierten. Die Familie wurde damit reich. Piñera und seine Geschäftspartner hinterzogen in der Vergangenheit mithilfe von Briefkastenfirmen Millionen Dollar an Steuern. Der Cousin des Präsidenten ist Innenminister Andrés Chadwick Piñera, der nun mit harter Hand gegen die Demonstranten vorgeht. Die Bildungsministerin ist Tochter eines Außenministers unter Pinochet und hatte sich vor dem Ende der Diktatur gegen die Einführung der Demokratie ausgesprochen.

Jahre warten auf OP-Termin

Anruf bei Priscilla Ross, einer Mutter mit zwei Kindern. Auch die 39-Jährige lebt in Viña del Mar. "Ich habe ein Gefühl der Machtlosigkeit", sagt sie. "Die da oben konnten immer machen, was sie wollen, sind davongekommen. Bis jetzt." Deshalb gehe sie auch auf die Straße, um zu protestieren. Wer das nicht kann oder Angst hat, schlägt bei offenem Fenster auf Töpfe oder Pfannen, um seinen Unmut zu bekunden. Das erste Mal protestierten die Chilenen in den 1970er-Jahren auf diese Weise gegen die Politik der Regierung. Im Internet gibt es Videos, bei denen ein wahres Konzert in der Küstenstadt zu hören ist. Waffen auf den Straßen können gegen Lärm aus Wohnungen wenig ausrichten.

Besonders betroffen ist Priscilla Ross wegen der Kinder von dem Notstand im Gesundheitssystem. "Die Ärzte im öffentlichen System sind total überlastet", berichtet sie. Für die Behandlung mit stundenlangen Wartezeiten für sich und ihre Kinder muss sie sieben Prozent ihres Lohns zahlen - und für jeden Termin und jede Behandlung extra. Sie gehört zu den 80 Prozent der Bevölkerung, die keine Privatversicherung haben. Wer sich etwas Gravierendes zuzieht, muss sich verschulden.

Als Priscilla Ross' inzwischen 85-jährige Großmutter vor ein paar Jahren Arthrose im Knie bekam, wartete diese sechs Monate auf den Termin beim Spezialisten, der ihr dann eine Operation verschrieb. Den Anruf aus dem Krankenhaus bekam die Großmutter drei Jahre später. Nun sei zwar ein Platz frei, aber wegen ihres Alters lohne sich eine OP ja nicht mehr, hieß es. Auch Geschichten wie diese treiben die Menschen auf die Straßen, denn sie ist kein Einzelfall. Insgesamt befinden sich zwei Millionen Personen auf solchen Wartelisten für Spezialisten.

Die chilenische Regierung hatte sich während der gewaltsamen Auseinandersetzungen am Wochenende darauf beschränkt, auf die Wahrung der öffentlichen Ordnung hinzuweisen, oder martialisch wie Präsident Piñera getönt. In mehreren Städten gab es am Montag erneut Demonstrationen, es blieb weitgehend friedlich. Dann sagte Piñera in einer Rede an die Nation zur Rechtfertigung seines "Krieg"-Satzes: "Ich weiß, dass ich manchmal heftige Dinge gesagt habe (..), der Schaden und der Schmerz, den ich sehe, macht mich wütend." Nun strebe er einen "Sozialpakt" an, um etwa das Wartelistenproblem im Gesundheitssystem anzugehen, die Löhne und Renten anzuheben sowie die Strom- und Wasserpreise staatlich zu regulieren. Es klingt, als hätten sich die Demonstranten beim Präsidenten Gehör verschafft.


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