Noch immer sind schwule Fußballer die absolute Ausnahme - zumindest offiziell. Denn natürlich gibt es sie. Und in Münchens Kreisliga C gibt es sogar ein ganzes Team, das keine Lust mehr auf Versteckspiele hat.
In der U-Bahn-Station am Sendlinger Tor herrscht reger Trubel. Die Rolltreppe mit nächstem Halt "Frische Luft" ist voll wie manch ein Tourist, der den genervten Anwohnern im Weg steht. Oben angekommen säumen Bars, Clubs und Cafés die Müllerstraße. Im Szeneviertel Glockenbach sind an einem warmen Freitagabend wie diesem freie Stühle und Tische ähnlich begehrt wie Liegestühle in Rimini.
Das "Café Nil" befindet sich in einer etwas ruhigeren Seitenstraße. Links vom Eingang schimmert im orangefarbenen Licht der Straßenlaterne eine Regenbogenfahne. Es scheint, als strahle sie an diesem Abend noch etwas heller. Nur wenige Stunden zuvor hat Bundespräsident Steinmeier das Gesetz zur "Ehe für Alle" unterzeichnet. Unter ihr haben Nils und Patrick an einem der Holztischchen Platz genommen, sie würden es gerne beim Vornamen belassen. Nils ist Mitte Dreißig, sportlich und groß gewachsen, kurze blaue Hose und graues T-Shirt. Vor ihm steht ein Glas Weißweinschorle, mit Eiswürfeln. Ihm gegenüber sitzt Patrick, etwas jünger, braune Wuschelhaare und ein blaues, bis oben zugeknöpftes Jeanshemd. Vor ihm: Rote Johannisbeersaftschorle.
Das einzige schwule Fußballteam in einer offiziellen, deutschen Liga
Sie spielen gemeinsam Fußball, in der Münchner Kreisliga C. Ihr Team: Die Streetboys München, das einzige schwule Fußballteam in einer offiziellen, deutschen Liga. Wer bislang glaubte, oder glauben wollte, dass es - warum auch immer - keine schwulen Profifußballer gibt, wurde spätestens mit dem Coming-Out von Thomas Hitzlsperger nach dessen Karriereende vor ziemlich genau vier Jahren eines Besseren belehrt.
Und natürlich gibt es sie auch im Amateurfußball. Aber gleich eine ganze Mannschaft? Da fällt so manchem Stammtischler glatt der Maßkrug aus der Hand. Doch genau darum geht es: Berührungspunkte zu schaffen. Denn sowohl im Profifußball als auch im Amateurfußball gilt noch immer die vorherrschende Idealvorstellung vom hart spielenden, starken und heterosexuellen Mann.
"Das hat mir wahnsinnig geholfen"
Die Streetboys sind die Fußballer des "Team Münchens", ein schwul-lesbischer-transgender Sportverein, der noch zahlreiche weitere Sportarten anbietet und in dem aber auch heterosexuelle Spieler willkommen sind. Die Mannschaft ist bunt gemischt. Die meisten Spieler sind wegen des Studiums oder der Arbeit nach München gezogen. Viele haben bereits in ihrer Heimat im Verein gespielt, die meisten davon ohne sich den Mitspielern zu offenbaren. So war es auch bei Nils und Patrick.
Nils zog aufgrund der Arbeit 2002 nach München und kommt ursprünglich aus Dortmund. Hier, im "Café Nil", war er das erste mal überhaupt in einer Schwulenbar. Mit einem der Spieler kam er ins Gespräch. "Ich habe mein Leben lang Fußball gespielt und konnte mir gar nicht vorstellen, dass es so ein Team gibt", sagt Nils. Anfangs habe er sich geziert, im Training vorbeizuschauen, aber irgendwann überwog die Lust, wieder Fußball zu spielen. Er selbst war überrascht, dass es einfach ein ganz normales Training war. So fand er schließlich Anschluss in der neuen Stadt und auch persönliche Hilfe. Nils, damals noch ohne Coming-Out, sagt: "Das hat mir wahnsinnig geholfen, um mich meiner Familie und meinen Freunden zu öffnen." Er glaubt: "Viele können bei uns im Verein zum ersten Mal so richtig ihre Identität ausleben."
Ähnlich verlief es bei Patrick. Er kam 2010 nach München, zunächst für ein Praktikum, ein Jahr später dann beruflich. An seinen ersten Besuch bei einem Spiel der Streetboys erinnert er sich noch genau: »Die waren nur zu Neunt. Einer noch komplett besoffen. Die haben gegen eine richtig schlechte Mannschaft gespielt und trotzdem 0:6 verloren.« Bald darauf spielte er mit, allerdings noch auf einen anderen Pass, weil er befürchtete, dass sie bei seinem alten Verein merken, wohin er wechselt. »Da hätte ja nur mal einer nachsehen müssen, Streetboys München, schwuler Verein, schon geht dort die Bombe hoch«, sagt Patrick.
Irgendwann forderte er seinen Pass dann doch an und meldete sich bei seinem alten Verein ab. Mit seinem Coming-Out brauchte er allerdings noch eine ganze Weile. Auch heute weiß es noch nicht jeder in seiner Familie. Dabei waren die Reaktionen in den Familien und Freundeskreisen der beiden absolut positiv. »Einige haben sogar gefragt, warum ich das nicht schon früher gesagt habe und wie ich sie denn einschätzen würde«, sagt Patrick.
»Zum Glück könnt ihr keine Kinder in die Welt setzen«
Auf dem Platz hingegen sind die Reaktionen nicht immer positiv, auch wenn es meistens ruhig bleibt. »Solange wir verlieren, sind wir die besten Kumpels. Aber es gibt eben auch Teams, die ungern verlieren, schon gar nicht gegen Schwule«, sagt Patrick. Dann wird es schnell persönlich und beleidigend. »Zum Glück könnt ihr keine Kinder in die Welt setzen« ist eine der verletzendsten Beleidigungen, die sie zu hören bekommen. Da sind sich die beiden einig. Es ist zu spüren, dass ihnen Äußerungen wie diese wehtun. Nils fragt sich oft: »Ist es das wert, mich hier beleidigen und den Sonntag versauen zu lassen, weil ich mich noch Stunden nach dem Spiel so dermaßen über gewisse Aussagen aufrege?« Er wird auch oft gefragt, warum sich die Streetboys ausgrenzen. Schließlich sei die Gesellschaft mittlerweile doch so offen und tolerant. Doch Nils entgegnet: »Wir grenzen uns nicht aus. Wie bieten vielen Menschen eine Anlaufstelle.« Patrick nickt und bestellt beim vorbeilaufenden Kellner ein Stück Prinzregententorte. Nils fängt an zu lachen, auch der Kellner schmunzelt, kurz vor Elf am Abend scheint nicht die typische Kuchenzeit zu sein.
Ist es »schwul«, sich so spät noch ein Stück Torte zu bestellen? Nils stellt fest, dass im normalen Sprachgebrauch einige Dinge als »schwul« angesehen werden. »Das ist dann wahrscheinlich gar nicht direkt gegen uns gerichtet, sondern ein Synonym für Missmut, Enttäuschung oder Ärger«, glaubt er. Patrick ist hier anderer Meinung. »Bei uns wird das denke ich schon gezielt so platziert«, sagt er, während er versucht die hartnäckige Schokoladenschicht der Torte mit der Gabel zu durchtrennen.
»Halt einfach die Fresse und verdiene in Ruhe deine Millionen«
Doch wie kann es überhaupt sein, dass Homosexualität im Fußball immer noch ein Tabu ist? Während ein Coming-Out in der Politik oder der Unterhaltungsindustrie höchstens noch eine Randnotiz ist, lässt der deutsche Profifußball weiter auf seinen ersten aktiven, schwulen Fußballer warten. In den USA beendete mit Robbie Rogers erst kürzlich der erste und einzige, offen schwule Fußballprofi seine Karriere.
»Als junger Profi hast du sicher einen Berater, der dir sagt: Halt einfach die Fresse und verdiene in Ruhe deine Millionen«, glaubt Patrick. »Ich würde es genauso machen. Du weißt ja nicht, was nach dem Coming-Out passiert«, sagt Nils nachdenklich. Es entwickelt sich eine Diskussion. Patrick sagt: »Die Frage ist doch, ob ich alles auf eine Karte setze und diesen Weg gehe, weil es für mich wichtig ist. Aber da steht dieser ganze Fußballwirtschaftsapparat dahinter, der einen in dieses Korsett zwingt.« Das Korsett schnürt sich in erster Linie durch die Berater, die durch ein Coming-Out ihres Spielers schlechtere Vermarktungsmöglichkeiten fürchten. Schließlich muss der Fußball längst auch global betrachtet werden und der Spieler auch in Ländern »vorzeigbar« sein, in denen Homosexualität noch weit kritischer als in Deutschland betrachtet wird. Oder auch durch rechtliche Bedingungen. So ist in Katar, Austragungsland der Weltmeisterschaft 2022, Homosexualität verboten. Wie würde sich dieser Umstand auf einen offen schwulen Nationalspieler auswirken?
Nils und Patrick sehen deshalb auch die Verbände in der Verantwortung. 2013 unterschrieb der damalige DFB-Präsident Wolfgang Niersbach die sogenannte »Berliner Erklärung«, eine Selbstverpflichtung der Initiative »Fußball für Vielfalt«. Damit verpflichtete sich der DFB, sich aktiv für die Akzeptanz sexueller Vielfalt zu engagieren. 2014 veröffentliche der Verband die Informationsbroschüre »Fußball und Homosexualität«. Patrick geht das nicht weit genug: »Das ist doch pseudomäßig, es muss auch gelebt werden.« Und tatsächlich lassen größere, öffentliche Aktionen bisher auf sich warten.
Eine die weiß, wie die Mühlen innerhalb des Verbandes mahlen, ist die ehemalige Bundesligaspielerin Tanja Walther-Ahrens. Sie war Mitglied in der DFB Kommission für Nachhaltigkeit, bis diese nach dem Wechsel von Theo Zwanziger zu Wolfgang Niersbach aufgelöst wurde. Walther-Ahrens ist lesbisch und setzt sich seit Jahren gegen die Diskriminierung von Homosexuellen im Fußball ein. Sie sagt: »Es hört dort auf, wo es eigentlich erst losgehen sollte. Die Broschüre ist ein erster Schritt, aber dann müssten eben noch 20 andere Schritte kommen.«
Eckfahnen in Regenbogenfarben
Patrick würde sich einen deutschlandweiten Aktionsspieltag wünschen. So wie ihn in der vergangenen Saison Borussia Dortmund, in Zusammenarbeit mit der Faninitiative »ballspiel.vereint!«, beim Heimspiel gegen Frankfurt durchführte. Beim Einlaufen stiegen bunte Luftballons in den Himmel, die Eckfahnen waren in Regenbogenfarben gehalten und auf der Videowall war »Gemeinsam gegen Homophobie« zu lesen.
Eine Woche nach dem Gespräch im »Café Nil« steht das erste Vorbereitungsspiel der Saison an. In der Kabine geht es zu, wie es in der unteren Kreisliga nun mal zugeht. Die Trikots sind über die Sommerpause etwas eingegangen. Die Stutzen werden unter größten Anstrengungen über die Waden gezogen. Einer knallt sich noch eben einen Energy-Drink rein. Die Kabinenansprache – wie aus dem Lehrbuch. »Es ist ein Vorbereitungsspiel, da können wir auch mal was ausprobieren«, sagt Roland, einer der älteren Spieler, der den fehlender Trainer heute vertritt. Es folgt ein taktischer Exkurs an der Magnettafel, »die Grundfunktion steht«, es soll versucht werden »konsequent zu verschieben«. Das mit dem Verschieben klappt auch hervorragend, bis zum ersten Angriff des Gegners. 0:1, nach gut fünf Minuten. Nicht nur die Spieler sind gefrustet, auch ein älterer Zuschauer: »Die Wirtschaft hat noch gar nicht auf, Kruzifix.« Es ist kurz nach elf.
»Wir wollen hier eine Anlaufstation schaffen.«
Zum Vorsitzenden des Bayrischen Fußballverbands im Kreis München, Bernhard Slawinski, haben die Streetboys einen guten Draht. Slawinski sitzt am Seitenrand und erklärt: »Wir wollen hier eine Anlaufstation schaffen.« Gemeinsam soll ein Aufklärungskonzept erarbeitet werden. Aber Slawinski weiß, dass noch viel zu tun ist: »Viele sagen sie hätten nichts gegen Schwule, aber wenn dann der eigene Sohn von einem schwulen Trainer trainiert wird, ist es manchen plötzlich doch nicht mehr so recht.«
Zur Halbzeit steht es 1:4. In der Kabine hängen die roten, schwitzenden Köpfe nach unten. Trinkflaschen machen die Runde. In der zweiten Hälfte läuft es besser, das Spiel wird aber nicht mehr gedreht. Immerhin hat die Wirtschaft mittlerweile geöffnet. Die ersten Hellen gehen über die Theke – sehr zur Freude des Rentners. Auf dem Feld rennen derweil 22 Spieler dem Ball hinterher. Viele von ihnen lieben Männer. Keiner scheint ein Problem damit zu haben. Eine Ausnahme? Oder wäre das auch in anderen Städten möglich? Oder in einer anderen Spielklasse; zum Beispiel in der Bundesliga?