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Diese Momente haben den Bundestag geprägt

Bild: Kay Nietfeld/dpa

Mehr als 4200 Plenarsitzungen hat der Bundestag bereits gehalten. Eine Auswahl an kuriosen und lustigen, aber auch kontroversen und emotionalen Debatten.


Von Robin Hetzel


Der 7. September 1949 ist für die deutsche Demokratie ein ganz besonderes Datum. Zum ersten Mal nach der nationalsozialistischen Diktatur treffen sich in freien Wahlen bestimmte Parlamentarier, um in einer ersten Sitzung des neu geschaffenen Bundestags der zweiten deutschen Demokratie Leben einzuhauchen.

19 Legislaturperioden später kann das Parlament auf eine bewegte Geschichte zurückschauen: fast 30 000 Stunden Debatten in mehr als 4000 Plenarsitzungen - erst in Bonn, dann in Berlin. In Erinnerung bleiben viele lustige und kontroverse Debatten, aber auch denkwürdige und emotionale Momente.


Wenn Herbert Wehner im Bundestag an das Rednerpult tritt, ist für Lacher gesorgt. So auch im November 1981. Der CSU-Abgeordnete Erich Riedl kritisiert das Wahlprogramm der SPD. Daraufhin entgegnet ihm der SPD-Politiker Wehner: "Sie haben wohl zu viel Alkohol getrunken!" Riedl kontert, er freue sich schon auf Wehners Ordnungsruf. Das hingegen lässt Wehner nicht auf sich setzen: "Sie verwechseln wohl den Bundestag mit der Oktober-Wiesn, Sie Flaschenkopf!"

In den 34 Jahren, die Wehner von 1949 bis 1983 als Abgeordneter im Parlament verbringt, erfindet er viele weitere Beleidigungen wie "Drecksschleuder", "Pappkamerad" oder "Düffel-Doffel". Noch heute ist der Sozialdemokrat alleiniger Rekordhalter der Politiker mit den meisten Ordnungsrufen. Am liebsten geht Wehner, oft auch Meister der Polemik genannt, die Union an. Den CDU-Abgeordneten Jürgen Wohlrabe bezeichnet er als "Übelkrähe".


Großen Unterhaltungswert bieten oftmals auch die Reden des SPD-Abgeordneten Lothar Binding, der seine Beiträge mit lustigen Visualisierungen unterstreicht. Mithilfe eines roten Zollstocks, den er aus dem Inneren seines Jacketts holt, will er 2017 den Abstand zwischen den Einkommen gewöhnlicher Arbeitnehmer und denen großer Manager verdeutlichen. Ironisch sagt er: "Das ist mir ein bisschen peinlich; denn mein Zollstock zu kurz, um das Gehalt der Manager zu messen."

Seine Visualisierungskünste zeigt Binding auch bei den Haushaltsberatungen 2015, wo er demonstriert , was Steuerschlupflöcher für den Bundeshaushalt bedeuten. Während seiner Rede zieht er einen Pappbecher und einen Schraubenzieher aus der Jacketttasche. Um zu zeigen, wie Steuerlöcher dem Haushalt schaden, sticht er mit dem Schraubenzieher mehrmals in den Pappbecher.


Eine der ersten besonders kontroversen Debatten, die sich auf mehrere Tage erstreckt, erleben die dagegen Abgeordneten des Bundestags drei Jahre nach dessen Gründung. Im Februar 1952 diskutieren die Parlamentarier angesichts des Koreakriegs eine Wiederbewaffnung Deutschlands. Die USA drängt auf eine Militarisierung, Frankreich lehnt eine solche strikt ab. Zwischen diesen Positionen müssen die Abgeordneten eine Entscheidung fällen.

Bundeskanzler Konrad Adenauer (hier am Rednerpult) eröffnet die Debatte mit einem zweistündigen Plädoyer für ein Militärengagement. Die linke Opposition hingegen lehnt die die deutsche Aufrüstung strikt ab. So entwickelt sich eine Debatte, die insgesamt zwanzig Stunden verteilt auf zwei Tage dauert. Der Aufbau der Bundeswehr, den Adenauer zunächst durchzusetzen scheint, scheitert letztlich am Veto Frankreichs und beginnt erst 1955.


Dass Bundestagsdebatten längst nicht immer fehlerfrei sind, zeigt eine sehr umstrittene Rede 1988. Am 10. November jähren sich die Novemberpogrome zum 50. Mal. Ein emotionales, aber eigentlich unstrittiges Thema. Die Gedenkrede des damaligen Bundestagspräsidenten Philipp Jenninger (links) ruft jedoch große Entrüstung hervor. "Statt Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit herrschten Optimismus und Selbstvertrauen", sagt Jenninger über den Nationalsozialismus. Es soll der Versuch sein, mithilfe verschiedener Stilmittel die NS-Zeit realitätsnah darzustellen.

Die Rede misslingt dem CDU-Politiker jedoch gänzlich. Die begriffliche Distanzlosigkeit und die misslungene Rhetorik lösen eine große Empörungswelle aus. Noch während der Rede verlassen Dutzende Abgeordnete den Plenarsaal. Nur einen Tag später sieht sich Jenninger gezwungen, von seinem Amt zurückzutreten.


Bonn oder Berlin? Die organistorische, aber kontrovers diskutierte Frage, wo der Bundestag im wiedervereinigten Deutschland tagen soll, sorgt 1991 für einen großen Disput zwischen den Parlamentariern und innerhalb der Parteien. Eine Gruppe von Abgeordneten aus SPD, Union und FDP möchte an Bonn als Geburtsort der Nachkriegsdemokratie festhalten, die andere sieht einen Umzug nach Berlin als wichtigen Beitrag zur innerdeutschen Einheit.

Am Tag der Entscheidung, dem 20. Juni, diskutieren die Volksvertreter zwölf Stunden lang über die Standortfrage. Mit nur knapp 20 Stimmen Unterschied macht Berlin das Rennen um den Regierungssitz. Bis 1999 dauert der anschließende Umzug aus dem alten Bonner Wasserwerk ins Berliner Reichstagsgebäude.


Während der entscheidenden Debatte zur amerikanischen Waffenstationierung in Deutschland 1983 bastelt Ex-Kanzler Helmut Schmidt aus dem Redetext von Willy Brandt einen Papierflieger. Schmidt ist kurz zuvor wegen der Wiederbewaffungsdebatte abgesetzt worden. Seinen Flieger beschriftet er mit "Pershing", dem Namen des Waffensystems, das in Deutschland stationiert werden soll. Im Sturzflug landet die Papierschwalbe ein paar Reihen vor ihm. Noch in derselben Sitzung stimmen die neue schwarz-gelbe Koalition und auch einige SPD-Abgeordnete wider Schmidts Ratschlag der Pershing-Stationierung zu.


Üblicherweise steht der Begriff Symbolpolitik für rhetorische Gesten von Politikern ohne tatsächliche Folgen. Im Fall der Grünen-Abgeordneten Marieluise Beck verdeutlicht eine kuriose symbolische Geste hingegen eindringliche politische Forderungen. Im März 1983 wird Helmut Kohl im Bundestag zum Kanzler vereidigt. Die Fraktionssprecherin der Grünen, die erstmals im Bundestag sitzen, geht kurz nach Kohls Vereidigung auf den Kanzler zu.

Doch statt wie erwartet Glückwünsche zu übermitteln, drückt Beck dem CDU-Politiker einen kränklichen Tannenzweig voller gelber Nadeln in die Hand. Der Tannenzweig schafft es als kuriose Symbolik für den sauren Regen und das Waldsterben nicht nur in die Geschichtsbücher des Bundestages, sondern markiert auch den Beginn einer erfolgreichen Parteigeschichte.


Außergewöhnlich ist auch der Streit, zu dem es 1984 zwischen dem jungen Grünen-Abgeordneten Joschka Fischer (vorne) und dem damaligen Bundestagsvizepräsident Richard Stücklen kommt. Die Grünen diskutieren mit der CDU über die Spendenaffäre von Kanzler Helmut Kohl. Stücklen schaltet das Mikrofon einer Grünen-Abgeordneten aus, woraufhin die Situation eskaliert. Fischer protestiert lautstark gegen Stücklen, der die Sitzung unterbricht und den jungen Politiker aus dem Saal schmeißt. Fischer reagiert mit acht Worten, die in die Geschichte eingehen sollen: "Herr Präsident, mit Verlaub, Sie sind ein Arschloch."


"Mein Bauch gehört mir" lautet Anfang der Siebziger die Parole der Frauenbewegung, die eine jahrzehntelange hochemotionale Debatte über den Abtreibungsparagrafen 218 entfacht. Seit 100 Jahren stehen Schwangerschaftsabbrüche unter Strafe. Im Bundestag streitet man nun über Abtreibungen gekoppelt an medizinische und ethische Voraussetzungen oder eine Regelung basierend auf einer Frist bis zur zwölften Schwangerschaftswoche.

Mehrere Gesetze kassiert das Bundesverfassungsgericht noch vor Inkrafttreten ein. Das emotionale Thema beschäftigt die Abgeordneten bis in die Neunziger. Mehr als 100 Wortmeldungen gibt es zu dem emotionalen Thema in einer Sitzung 1992. Drei Jahre dauert es danach, bis die Fristenregelung beschlossen ist. Auch die kommenden Jahre bleibt der Abtreibungsparagraf relevant: 2010 wird die Beratungspflicht ausgeweitet. Das Informationsrecht für Abtreibungen reformiert der Bundestag 2019.


Eine historische Entscheidung treffen die Parlamentarier im Juni 2017. Der Bundestag stimmt über einen Gesetzesvorschlag zur Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare ab. Bereits im Vorfeld der Entscheidung geht es im Parlament hochemotional zu, als Befürworter und Gegner am Rednerpult einen Schlagabtausch führen. Kanzlerin Angela Merkel erklärt die Abstimmung zur Gewissensfrage.

Frei vom Fraktionszwang entscheiden sich die Abgeordneten schließlich für die Ehe für alle. Die Abgeordneten feiern die historische Gesetzesänderung sichtlich erleichtert mit Konfetti, aber auch Freudentränen.


Mit dem Einzug der AfD in den Bundestag verschärft sich der Ton. Vielen Provokationen der AfD-Fraktion folgen emotionale Gegenreden anderer Parlamentarier. Ein Beitrag von Cem Özdemir im Februar 2018 sticht jedoch hervor. Voller Leidenschaft adressiert der Grünen-Abgeordnete die AfD: "Wenn Sie ehrlich wären, dann würden Sie zugeben, dass Sie dieses Land verachten." Unter lautem Beifall sagt er: "Sie verachten alles, wofür dieses Land in der ganzen Welt geachtet wird und respektiert wird."

Mit der Rede habe Özdemir gezeigt, wie wirksam und kraftvoll eine Parlamentsrede sein könne, lautet später das Urteil einer Jury aus Rhetorik-Wissenschaftlern, die den Debattenbeitrag als Rede des Jahres auszeichnet.

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