Robert Schmidt

Freier Journalist, Straßburg

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Neue Ansätze in der Jugendarbeit stellen das Jugendhaus auf den Kopf: Jugendliche packen die Probleme von Jugendlichen an | NZZ

Die Jugendarbeit geht neue Wege. Von Jugendlichen gegründete Organisationen verfolgen partizipative Ansätze und möchten die Jugendlichen selbst zu Akteuren bei der Problembewältigung machen.

Sonntagnachmittag, Ende Mai in Potsdam bei Berlin. Jerónimo Calderón tippt auf seinem Laptop. Er schreibt eine E-Mail an die Mitstreiter seiner Jugend-NGO in Genf. In Potsdam ist der 25-jährige Schweizer, um die Gründung einer deutschen Jugendinitiative mitzuverfolgen. Rund 50 junge engagierte Potsdamer sind gekommen, um eine neue Art von Jugendarbeit zu erleben. "Changemakercity" heisst das Projekt, bei dem es um den Abbau von Hürden und Hemmschwellen für ein Engagement von Jugendlichen in ihrer konkreten Umgebung geht. Initiiert wurde es durch Ashoka, die weltgrösste NGO zur Förderung von sozialem Unternehmertum. Jerónimo reist quer durch Europa, um sich von Projekten wie "Changemakercity" für die eigene Jugendarbeit inspirieren zu lassen. "Globale Herausforderungen haben keine Grenzen", findet er.

Globales lokal anpacken

Jerónimo ist Gründer und Geschäftsführer der Jugend-NGO "EUforIA". Der Titel ist ein Wortspiel, bestehend aus "Euphorie", "Europa" und "Informierter Aktion". Seine Initiative will junge Menschen mobilisieren, damit sie sich konkreter engagieren, und sie unterstützt sie dabei. Im Zentrum der Tätigkeiten von "EUforIA" stehen Veranstaltungen wie beispielsweise der Europäische Jugendgipfel "EYS". Dort lernen Jugendliche von Jugendlichen, wie sie globalen Herausforderungen wie Armut oder Klimaerwärmung lokal begegnen können.

Wie passen die Angebote von "EUforIA" mit den klassischen Angeboten der Jugendarbeit zusammen? Laut Werner Thole, Sozialwissenschafter an der Universität Kassel und Herausgeber eines Standardwerkes zur Jugendarbeit, soll diese "öffentlich sein und pädagogische Ziele verfolgen". Jugendarbeit, so Thole weiter, habe "nicht kommerziell, bildungs-, erlebnis- und erfahrungsbezogen" zu sein. All dies erfüllt auch "EUforIA" mit Ausnahme eben, dass die NGO unternehmerisch arbeiten muss. Jerónimo ist ein sogenannter "Social Entrepreneur". Wie viele andere Organisationen dieser Art muss er die Aktionen etwa durch Zuwendungen von Stiftungen, kleinere und grössere Spenden sowie Teilnahmegebühren finanzieren.

Ein weiterer massgeblicher Unterschied besteht indes auch darin, dass eine Organisation wie "EUforIA" sich nicht einfach der Probleme der Jugendlichen annehmen will. Sie will vielmehr die Jugendlichen selbst dafür öffnen, sich globalen oder lokalen Herausforderungen zu stellen. Dabei will sie ihnen helfen, sich auch stärker gesellschaftlich einzubringen. Doch "EUforIA", selbst von Jugendlichen gegründet, ist ihrerseits Vorbild, wie eben ein solches Engagement aussehen könnte.

Die herkömmliche Jugendarbeit und das Jugendhaus werden durch solche partizipativen Ansätze keineswegs überflüssig. "Wir verstehen uns als Bindeglied zwischen der Nachfrage junger Menschen nach sinnstiftendem gesellschaftlichem Engagement und dem bereits existierenden Angebot", sagt Jerónimo.

Schweiz engagiert sich stärker

Und natürlich soll auch die Sicht über den eigenen Gartenzaun hinaus gefördert werden. Wer sich in Europa und der Welt engagieren will, musste Zug- oder Flugtickets bis jetzt oft aus eigener Tasche begleichen. Das wird sich ändern. Förderprogramme werden Jugendlichen Aufenthalte im Ausland und den interkulturellen Austausch mit dem europäischen Umfeld erleichtern - auch für Schweizer. Ab kommendem Jahr wird die Schweiz erstmals vollwertig an den beiden europäischen Bildungs-, Berufsbildungs- und Jugendprogrammen "Lebenslanges Lernen" und "Jugend in Aktion" teilnehmen. Für die Jahre 2011 bis 2013 leistet der Bund dafür einen Beitrag von insgesamt rund 77 Millionen Franken. Obwohl Jugendarbeit eine freiwillige Leistung der Gemeinde ist und somit auch vorwiegend auf dieser Ebene finanziert wird, gibt es auf Bundesebene ein Jugendförderungsgesetz, welches nationale Dachverbände finanziell unterstützt. Dieses Gesetz wird im Moment überarbeitet und soll noch dieses Jahr im National- und Ständerat behandelt werden.

"Das neue Jugendförderungsgesetz bietet mehr Offenheit in der Ausgestaltung der Jugendarbeit", lautet die Einschätzung von Bernard Wandeler vom Fachbereich Soziale Arbeit der Hochschule Luzern. Die Höhe der Finanzierung mit jährlich etwas mehr als 10 Millionen Schweizerfranken kritisiert er hingegen als zu niedrig: "Eigentlich müsste man dort investieren." In der Schweiz habe man aber "insgesamt traumhafte Bedingungen". Die Situation hierzulande sei nirgends zu vergleichen mit Berlin oder den Vororten von Paris. Doch auch in der Schweiz ist Jugendarbeit nicht gleich Jugendarbeit. "In der Westschweiz ist die Arbeit mit jungen Menschen - wie das Beispiel - stärker in die Gemeinschaft integriert als in der deutschsprachigen Schweiz", erklärt Wandeler. Und sie ist auch stärker partizipativ ausgerichtet. Etablierte Verbandsarbeit hingegen, wie man sie häufig in der Ostschweiz finde, erreiche aus seiner Sicht indessen nur einen Teil der Jugend. Der Anspruch dürfe nicht rein mittelstandsorientiert bleiben: "Wir müssen auch jene Jugendlichen ansprechen, die keinen grossen Rucksack mitbringen." Jugendarbeit müsse dort ansetzen, wo es Probleme gibt. "Neue Jugendarbeit geht weg vom klassischen Jugendhaus. Für mich ist eine gut konzipierte Jugendarbeit eine, die in den Zwischenräumen agiert."

Früh übt sich

Partizipative Jugendarbeit müssen Jugendliche aber auch erst lernen - und das am besten möglichst früh. Ein Projekt, das sie darauf vorbereitet, ist das "Ideenbüro". Das "Ideenbüro" hat an 37 Schweizer Schulen einen Raum geschaffen, in dem jeweils kleine Gremien von Kindern selbst Lösungen zu alltäglichen Problemen entwickeln. Zu Beginn des Projektes im Jahr 2002 widmeten sich die meist Elf- und Zwölfjährigen vor allem den Fragen ihrer Mitschüler. Mobbing oder Streit standen damals auf der Traktandenliste ganz oben. Später kamen neue Herausforderungen hinzu: Lehrer und auch normale Bürger wandten sich an die Mitglieder der "Ideenbüros".

So verwirklichten beispielsweise die Schüler der Primarschule Leubringen im Kanton Bern gemeinsam mit dem Leubringer Gemeinderat das Konzept einer Skate-Park-Anlage. "Wir wollen Jugendliche auf das Mitbestimmen in der Gemeinde vorbereiten, auf Mitbestimmen in der Gesellschaft überhaupt", erklärt Projektinitiatorin Christiane Daepp, die ihr Engagement als ein Verbindungsstück zwischen Elternhaus und Schule versteht. "Die <Ideenbüros> sind eine gute Ergänzung zum Schulunterricht, hier können die Jugendlichen ohne Leistungsdruck ganz viel leisten." Und damit von diesen Leistungen auch andere erfahren, wird die Webseite gerade überarbeitet - von Schülern natürlich. Auch Jerónimo unterstützt solche Projektideen, denn für ihn sind "Jugendliche nicht bloss die Entscheidungsträger von morgen, sie sind auch die gesellschaftlichen Akteure von heute".

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