Robert Schmidt

Freier Journalist, Straßburg

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Ein Dach über dem Kopf für das Erasmus-Semester: WG-Castings und Betrüger | NZZ

Im Erasmus-Aufenthalt gibt es ein neues Land, eine Kultur, eine Sprache zu entdecken. Am besten gelingt das, wenn man sich in einer WG, also Wohngemeinschaft, mit Einheimischen einmietet. Schweizer Studierende zog es im Wintersemester 09/10 am häufigsten nach Deutschland (20 Prozent), Spanien (16 Prozent) und Frankreich (15 Prozent). Doch wie kommt man in diesen Ländern zu einem WG-Zimmer?

"Wenn Sie hier mit ihrer kleinen Tochter einziehen, werde ich wohl mit dem Rauchen aufhören", verspricht die potentielle französische Vermieterin. Die Wohnung in Oullins, einem kleinen Vorort Lyons, riecht stark nach Putzmittel. Nach Rauch wohl auch, aber das Putzmittel ist stärker. Im rund zehn Quadratmeter grossen "Familienzimmer", in dem gerade noch ein Student wohnt, hängt die Tapete von der Decke, im Fensterrollo ist ein Loch. Stolze 600 Euro soll das Zimmer kosten.

Das ist zu viel für Eva Förster. Bereits seit zwei Monaten sucht die 28-jährige Kunststudentin gemeinsam mit ihrem Freund Dennis Söhl und ihrer sechsmonatigen Tochter eine Wohnung in der zweitgrössten Stadt Frankreichs. Doch das junge Paar aus Leipzig ist am Ende seiner Kräfte.

Zunächst hätten sie von Leipzig aus über das Internet gesucht. "Anfangs waren wir noch so naiv, auf Wohnungsannoncen per E-Mail zu antworten", lacht Eva trocken. Einmal wollte ein vermeintlicher Vermieter die Kaution vorab auf ein "Treuhandkonto in den USA" überwiesen haben. Rechtzeitig bemerkten die beiden den Betrug und sprangen ab.

Eine Odyssee durch Lyons Wohnungsmarkt

Als "Ferienwohnung" angeboten wurde ihnen später ein "Betonkasten mit Fenstern", wie Dennis sich ausdrückt, beziehungsweise ein "ausgebautes Gartenhaus", wie Eva die Behausung umschreibt. Dank Couchsurfing wohnten die beiden wenigstens während der Wohnungssuche kostenlos bei Privaten.

Die Uni hat sie hängen lassen, ebenso die für die Studentenwohnheime zuständige Studentenorganisation CROUS - "Das dürfen sie nicht mit Kind", hiess es dort. Ein paar Tage nach der Wohnungsbesichtigung in Oullins gelangten die beiden über Freunde von Freunden auf Facebook an eine kleine Wohnung.

70 Prozent der 130'000 Studierenden in Lyon, die nicht bei ihren Eltern wohnen, kommen in einem Studentenwohnheim unter, einer sogenannten "résidence". Die meisten zahlen dabei einem privaten Anbieter 500-700 Euro für eine 1-Zimmer-Wohnung. Der Rest tritt in Wohnungswettbewerben und WG-Casting-Duellen gegeneinander an - für ein Zimmer zu etwa 400 Euro ohne Nebenkosten. Einen Teil der Miete bekommen viele auf Antrag später über die Familienkasse (CAF) zurückerstattet. Mindestens zwei Wochen sollten künftige Erasmus-Studenten allein für die Suche und Besichtigungen vor Ort einplanen, weitere Zeit für Organisatorisches.

WG gesucht in: Frankreich

Durchschnittliche Monatsmiete für ein WG-Zimmer (ohne Nebenkosten): 350-450 Euro (Beispiel Lyon; Quelle: Stadt Lyon) Besonderheiten: Eine "assurance habitation", also Haftpflichtversichterung, ist obligatorisch. Als Student kann man diese bei der Bankkontoeröffnung (fast) kostenlos abschliessen. Fast überall ist eine Monatsmiete als Kaution und ein französischer "garant" (Bürge) notwendig (wird evt. aber ab WS 2012/13 abgeschafft sein → bei CROUS informieren). Studenten-WGs sind noch nicht so bekannt. Alternativen zur WG: Studentenwohnheime sind teurer, Bewerbungsfristen für günstige CROUS-Wohnheimplätze sind im Frühjahr (für WS). Anlaufstellen und Links: "Service des Relations Internationales" der jeweiligen Universität Centres régionals des œuvres universitaires et scolaires ( CROUS) Centres régionals d'information jeunesse (CRIJ) www.appartager.com (kostenpflichtig) www.leboncoin.fr (kostenlos) www.studieren-in-frankreich.de Französisches Erasmus-Netzwerk

Die Schweizerin Daniela, die in Konstanz Politikwissenschaften studiert, hatte mehr Glück - oder die bessere Strategie. Für ihren Austausch in Lyon hatte sie über ihre Hochschule die Lyoner Erasmus-Studentin des Vorjahres angeschrieben und schließlich deren Wohnung übernommen. Auch einen französischen Bürgen (siehe Infokasten) brauchte sie nicht.

Die Wohnungssuche in Deutschland, als sie für das Studium nach Konstanz ging, habe sie hingegen "psychisch fertig gemacht". Vier bis fünf Wochen habe sie in Konstanz gesucht, habe sich dabei als "Casting-Gegner" gefühlt. Am Ende hätte sie eine schöne, aber teure WG im nahegelegenen Kreuzlingen gefunden, wo sie auch während ihrer Wohnungssuche bei der Großmutter untergekommen war.

"In der Schweiz ist es für junge Leute viel einfacher, eine WG zu gründen als in Deutschland oder Frankreich", meint Daniela. Außerdem seien im Gegensatz zu Deutschland in der Schweiz Einbauküche und Waschmaschine Standard.

Berlin und München besonders beliebt

Die bei ausländischen Studenten beliebtesten deutschen Städte sind Berlin und München. Die TU Berlin empfängt im aktuellen Wintersemester 500 internationale Austauschstudierende aus mehr als 30 Ländern, die Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München hat in Deutschland mit 15 Prozent den höchsten Anteil an internationalen Studierenden.

WG gesucht in: Deutschland

Durchschnittliche Monatsmiete für ein WG-Zimmer (ohne Nebenkosten): 300 Euro (Berlin), 400 Euro (München, Quelle für beide www.wg-gesucht.de) Besonderheiten: Oft eine Monatskaltmiete als Kaution. Ein Gehaltsnachweis und eine Haftpflichtversicherung sind nicht gesetzlich vorgeschrieben, aber gängig. Vereinzelt wird auch eine Mietschuldenfreiheitsbescheinigung durch den Vorvermieter verlangt. Alternativen zur WG: Studentenwohnheime sind teurer und begehrt. Anlaufstellen und Links: "Akademisches Auslandsamt" der jeweiligen Universität Studentenwerke der jeweiligen Universität www.wg-gesucht.de www.studenten-wg.de Deutsches Erasmus-Netzwerk

Von den mehr als 45'000 Studierenden in München kommt nicht einmal jeder Vierte im Wohnheim unter, die Wartezeit für die heissbegehrten Plätze beträgt bis zu vier Semester. Die Uni vermittelt aber auch Zimmer in Privatwohnungen. Aufgrund der großen Nachfrage und der Bürokratie (siehe Infokasten) ist es ratsam, mindestens einen Monat vor Semesterbeginn anzureisen.

"Auberge Espagnole" oder doch lieber Einheimische?

Die Geschichts-Studentin Lucia Herrmann ist zur Wohnungssuche zwei Wochen vorher aus der Schweiz nach Barcelona gereist. Sie hat ihren Erasmus-Aufenthalt nicht in einer "Auberge Espagnole" - also einer reinen Erasmus-WG - verbracht, sondern mit "echten Katalanen und Spaniern". Im Vergleich zu anderen Ländern sind WG-Zimmer in Spanien generell günstiger und das Angebot ist oft grösser.

"Man sollte allerdings auf der Hut sein, dass man nicht übers Ohr gehauen wird", warnt Lucia. So etwas wie Mietverträge gäbe es bei Studenten-WGs grundsätzlich nicht, sie habe ihrem Vermieter selbst einen geschrieben. Die Kaution, meist maximal eine Monatsmiete, empfiehlt Lucia, solle man "ganz pragmatisch" von der letzten Mietzahlung abziehen.

Um die Wohnung zu Hause, übrigens, die man nach dem Auslandaufenthalt gerne wieder beziehen möchte, muss man sich auch kümmern. Eva und ihr Freund haben ihre untervermietet: an drei Erasmus-Studenten aus England.

WG gesucht in: Spanien

Durchschnittliche Monatsmiete für ein WG-Zimmer (ohne Nebenkosten): 250-300 Euro (Beispiel Barcelona, Quelle: Barcelona Centre Universitari) Besonderheiten: Zum Einzug wird die "fianza" (Kaution, meist eine Monatsmiete) fällig. Oft gibt es keine Mietverträge für Studenten. Wer auf Nummer sicher gehen will, setzt selber einen Vertrag auf. Alternativen zur WG: Studentenwohnheime sind meistens deutlich teurer, aber auch luxuriöser als WG-Zimmer. Anlaufstellen und Links: "Departamento de Relaciones Internacionales" der jeweiligen Universität www.loquo.es Spanisches Erasmus-Netzwerk

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