Robert Schmidt

Freier Journalist, Straßburg

1 Abo und 1 Abonnent
Artikel

Kulturhauptstadt Marseille: "Wir machen die Kultur selbst"

Mit einer bunten Parade im Norden der Stadt hat Marseille das Europäische Kulturjahr eröffnet. Es wird einer der wenigen Höhepunkte dort bleiben. Das kulturelle Leben der 280.000 Bewohner im Norden spielt sich in Hinterhöfen und Vorgärten ab, in Sozial- und Einkaufszentren.

Blitze zucken, Bass vibriert, ein Raunen geht durch die Menge. Eine Nebelmaschine bläst farbigen Rauch in die Menschentraube. Tausende säumen das Parkdach des Einkaufszentrums Grand Littoral im Marseiller Norden. Eltern haben ihre Kinder auf die Schultern gehoben, stehen mit ihren Einkaufswagen am Rand der großen Parade, wollen nichts verpassen vom ersten Ereignis der Stadt als Europäische Kulturmetropole. Riesige, sich drehende Zahnräder ziehen vorüber, tanzende Männer in neongelben Westen, ein Fass, in dem Stahl zu kochen scheint. Wochenlang, so hört man, hätten Schulklassen aus dem Norden eine Choreografie eingeübt, wie Lemminge wuseln die als Hafenarbeiter verkleideten Kinder nun zwischen den Festwagen umher.

Diese Parade soll heute an die glorreiche Zeit Marseilles erinnern, als in den sechziger Jahren mit den Algeriern die ersten Einwanderer aus den ehemaligen Kolonien kamen und gemeinsam mit den Einheimischen etwas aufbauten. Als der Hafen wuchs und wuchs, der jahrelang Tausenden Alt-Marseillern und Neu-Marseillern, vorwiegend aus Nordafrika, eine Arbeit bot. Heute werden die Container vor allem in Barcelona und Hamburg gelöscht, die Menschen sind trotzdem geblieben. In dieser Nacht aber wird gefeiert, für heute haben die Kulturstadt-Organisatoren Busse vom Einkaufszentrum in die Innenstadt und zurück organisiert. Für einen Abend darf auch der Norden dazugehören.

Zwei Stunden verstreichen. Die Raupe aus Menschen, Tönen und Licht ist längst weiter ins Zentrum gezogen. In einem nahegelegenen Festzelt treffen sich derweil Unternehmer, denn es gibt etwas zu feiern. Bei Kaviar, Pastetchen und bei Champagner vereinen sich Manager, Kommunikationsberater und Ladenbesitzer. "Unser Einfluss auf die Kultur? Enorm", resümiert Gurvan Lemée, frischgebackener Chef des Grand Littoral. Lemée ist ein sportlicher, kahlköpfiger Mann mittleren Alters. Viele suchen an diesem Abend seine Nähe. Lemée plant, bis 2014 aus dem Einkaufs- auch ein Sport- und Kulturzentrum zu machen: "Wir wollen lokalen Künstlern eine Bühne bieten." Man werde viel Platz haben, verspricht er: für Ausstellungen, Breakdance, Konzerte. Lemée nippt an seinem Schampusglas: "Jetzt hören wir aber mal auf mit diesem Gerede, immer alles billiger und noch billiger zu verkaufen." Die Leute kämen doch, "wenn was los ist". Die Gäste werfen sich Zahlen an den Kopf, es herrscht eine Goldgräberstimmung in der illustren Gesellschaft, zu der weder lokale Akteure eingeladen wurden noch gewöhnliche Konsumenten. "Unter uns gesagt", meint die künftige, etwas beschwipste Sprecherin, "die Meinung dieser Leute ist uns auch ziemlich egal."

Marseille, Kulturhauptstadt 2013

Termine, Eintrittskarten, Veranstaltungen und weitere Informationen unter www.mp2013.fr (frz./engl.)

Eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber dem Norden könnte man auch den Organisatoren unterstellen. Rund 600 Millionen Euro - gesponsert von staatlichen Stellen und Unternehmen - fließen in die kulturelle Infrastruktur, weitere 100 Millionen in das Programm. Ein einziges Kino gibt es im Norden, ein großes Theater, zwei Bibliotheken, soziokulturelle Zentren gibt es nur wenige. Nicht nur in der Innenstadt, besonders in den quartiers nord gibt es also Nachholbedarf. Dennoch entfallen auf die vier nördlichsten Bezirke nur drei der insgesamt 52 Großbaustellen: Ein ehemaliges Kino ist darunter, ein unterfinanziertes nationales Theater - übrigens auch in einem Einkaufszentrum - und ein Künstlerhaus. Jeder dritte Marseiller kommt 2013, wenn er nicht in die Innenstadt fahren kann oder will, lediglich in den Genuss von weniger als fünf Prozent des Programms. Der größte Teil der Gelder, die im Norden überhaupt ankommen, fließt in sogenannte Kreative Bezirke. Künstler machen darin beispielsweise Gartenarbeit mit Bürgern, drucken Spielgeld und basteln bunte Modelle aus Styropor. Was Stadt und Unternehmen damit bezwecken, liest sich dann so: "Die kreativen Bezirke fügen sich ein in ein Konzept der Stadterneuerung." Sie seien "Werkzeug der sozialen Arbeit".

Er verstehe die Empfindlichkeit im Norden, "von der städtischen Sozial-, Kultur- und Transportpolitik abgehängt zu sein", sagt Ulrich Fuchs. Der Norddeutsche ist als Co-Direktor von Marseille-Provence 2013 zuständig für das kulturelle Programm. Seine Arbeit werde nicht alle Probleme lösen, vielmehr könne das Kulturjahr Impulse geben, erklärt er bei einem Kaffee in seinem Büro am Alten Hafen. Der korpulente Fuchs spricht ruhig und wirkt zufrieden. Den Vorwurf, den Norden prinzipiell zu benachteiligen, weist er entschieden von sich. Vielmehr seien die lokalen Kulturakteure "lange skeptisch" gewesen. Viele hätten nur versucht, das zu machen, was sie ohnehin machten. Da hätten Projektanträge abgelehnt werden müssen: "Es gab Härten."

Was diese Härten bedeuten, sieht man, wenn man nach Bougainville fährt. Dort, wo die Metrolinie B endet und man in einem Bistro nur labberige aufgewärmte Brote kaufen kann, zieht sich die kulturelle Grenze durch die Stadt. Vorbei an verfallenen Häusern und überquellenden Mülltonnen, geht es noch einmal in den als gefährlich geltenden Norden. Dort, wo Schulabbruch ein Massenphänomen und die Jugendarbeitslosigkeit doppelt so hoch ist wie im Rest des Landes. Dort, wo es überdurchschnittlich viele junge Dealer gibt, von denen mehr als zwei Dutzend im vorigen Jahr ihr Leben ließen.

Ganz so schlimm sei es im 15. Arrondissement nicht, stellt Dominic "Doume" Santiago gleich zur Begrüßung klar. "Das ist hier der Süden." Sein Hochhaus, so erklärt er, befinde sich im südlichen Teil der Nordbezirke, ergo im Süden. Der Sohn eines Spaniers und einer Rom ist einer der aktivsten Kulturakteure der Gegend. "Hier machen wir die Kultur selbst", erklärt der klein gewachsene Mann mit einem Lächeln im Gesicht. Santiagos Kulturjahr beginnt im April. "Mit einem Flamenco-Konzert." Da es keine passenden Räume gibt, findet alles draußen statt. Zu Santiagos ganzem Stolz zählen: ein Schuppen, ein Gemeinschaftsgarten, eine Bar, ein Grill, ein Fußballfeld und eine selbst gezimmerte Bühne mit einem Wellblechdach, das im Winter ein wenig verrutscht zu sein scheint.

Von den staatlichen Stellen vergessen

Hunderte, sagt Santiago, kämen im Sommer zu den Konzerten. "Seit 47 Jahren, mein ganzes bisheriges Leben lang, wohne ich schon hier", erzählt er. Früher hätten sie nur den Schuppen gehabt. Erst vor zwei Jahren habe man sich mit dem Vermieter einigen können. "Vor ein paar Jahren klopften die Jungs von hier schon mal mit dem Baseballschläger bei ihm an." Jetzt habe sich das Verhältnis sehr entspannt: "Wir halten hier nicht stundenlange Besprechungen ab, wir treffen uns einfach an der Ecke." Die Stühle und Bänke im Garten habe er nicht festgekettet. "Die klaut hier keiner."

Er baue gemeinsam mit den Jugendlichen aus dem Quartier etwas Eigenes auf, sei es einen Garten, eine Bühne oder den Parkplatz. Natürlich habe er auch mit staatlichen Stellen zu tun. "Am Anfang kamen sie alle. Die mit den dicken Autos haben sich mit mir fotografieren lassen." Viele habe er danach nicht mehr wieder gesehen. Eine Stelle als Sozialarbeiter habe man für ihn schaffen wollen. "Sie haben mich hängen lassen. Deswegen höre ich aber noch lange nicht auf." Ein wenig Geld fließe zwar immer noch, aber bevor er noch einmal ein Jahr auf ein neues Fußballnetz warte, kümmere er sich lieber selbst. "Vor Kurzem hat mich jemand gefragt, wie ich eigentlich die Feldstudie durchgeführt habe." Er lacht: "Mit meinem Herzen, hab ich dem gesagt, mit meinem Herzen."

Zum Original