Robert B. Fishman

Journalist, (Hörfunk-)Autor, Fotograf, Moderator, Workshop-Trainer, Bielefeld

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Artikel

Pilsen: Entdeckungen in der versteckten Stadt

Robert B. Fishman (Bilder und Text)

Umrahmt von schmuck restaurierten
Bürgerhäusern aus fünf Jahrhunderten,
glitzern drei hypermoderne
vergoldete Brunnen in der Sonne. Das
Ding, das aussieht wie ein griechisches
Pi, ist ein Kamel. Die Figur mit den beiden
Armen ein Engel. Das Stadtwappen
lieferte die Vorlage für die umstrittenen
Kunstwerke auf dem Hauptplatz
(Platz der Republik) – Pilsens gute Stube
und einer der größten Marktplätze
Europas.
Nach allen
Seiten offen
Die Hussiten belagerten Westböhmens
Metropole während des Dreißigjährigen
Krieges. Mit einem Kamel wollten
sie den Eingeschlossenen Angst einjagen.
Vergeblich. Die Pilsener holten
sich das Tier und hielten durch. Die Belagerer
gaben bald auf. Die Stadt blieb
ein Zentrum der katholischen Gegenreformation.
Seit 1993 residiert in Tschechiens viertgrößter
Stadt wieder ein Bischof. »Gulasch
« nennt er den modernen Glaubensmix
im angeblich atheistischsten
Land Europas, ein bisschen Buddhismus,
etwas Esoterik, ein Schuss Christentum.
Frantisˇek Radkovsky´ verzieht
kurz das Gesicht und fährt in wohlwollendem
Ton fort: »Die Menschen seien
auf der Suche. Sie hätten gedacht, dass
das Glück mit Freiheit und Wohlstand
komme. Ein Irrtum«, findet der agile
75-Jährige.
In der Stadt werde er als Bischof gehört.
»Die Leute«, sagt Radkovsky´
in seiner mit Deckenfresken prächtig
dekorierten Residenz am Platz der Republik,
»sind nach allen Seiten offen,
tschechisch.«
Zu Zeiten der Tschechoslowakischen
Sozialistischen Republik (CSSR) seien
sie hier »besonders stramme Kommunisten
« gewesen. Die Stadt lag 70 Kilometer
vor der Grenze zum »nichtsozialistischen
Wirtschaftsgebiet« im
Schatten des »Eisernen Vorhangs«.
Viele der Grenzdörfer ließ die Partei in
den 1950er Jahren räumen. Die Deutschen
hatte man nach den Verbrechen
der Nazi-Besatzer davongejagt.
1938, als die Wehrmacht das »Sudetenland
« besetzte, stoppten die Panzer aus
Vergangenheitsbewältigung
durch die Kunst
Der Fotograf Lukáˇs Houdek hat
mit seinem Projekt »The Art of
Killing« Verbrechen während
der Vertreibung der Sudetendeutschen
nach dem Zweiten
Weltkrieg mit Barbiepuppen
nachgestellt und fotografiert
(www.houdeklukas.com).
Bei dem EU-geförderten grenzüberschreitenden
Projekt
»Geschichten aus dem Sudetenland
« hat man in den Jahren
2012 und 2013 15 Interviews mit
Zeitzeugen durchgeführt, die
vor dem Krieg im Sudetengebiet
lebten (memory.cpkp-zc.cz).
Mehr Infos über Deutsche in
Westböhmen (Deutsche Volksgruppe
im Egerland) gibt es
unter www.egerlaender.cz.
Im alten Südbahnhof versucht
das Kulturzentrum »Johan«,
Kultur und Bildung zu verbinden
und plant Projekte mit der
Europäischen Kulturhauptstadt
(www.johancentrum.cz).
TSCHECHIEN
Die Große Synagoge
in Pilsen ist Europas
zweitgrößte Synagoge
und die drittgrößte
der Welt.

Mit Humor
Grenzen überwinden
Pilsen überrascht nicht nur mit diesem
Bauwerk, das den Krieg unbeschadet
überstanden hat. In Kellern
und Hinterhöfen um die beschauliche
Altstadt blüht ein buntes Kulturleben:
Musikkneipen, die fast jeden Tag ein
Livekonzert bieten, oder ein Theater,
das Stücke in einer eigenen Sprache
spielt. In einer Mischung aus Tschechisch
und Deutsch, dem »Tscheutsch«,
nehmen die jungen Schauspieler
von »Abasta« Verständigungsprobleme
der Nachbarn auf die Schippe: Zwei
Männer stecken Rücken an Rücken in
einem T-Shirt. Mal spricht der eine auf
Deutsch zum Publikum. Dann drehen
sich beide ruckelnd um, bis der Andere
auf Tschechisch fortfährt. Der nächste
Eine der drei goldenen Brunnen-Skulpturen auf dem
Platz der Republik – diese stellt einen Engel dar.
Vorlagen der Skulpturen war das Stadtwappen.
Foto: Fotolia – sushaaa; Karte: Dworak & Kornmesser
dem Westen kurz vor der Stadtgrenze.
Bei Hitlers Weltkriegs-Generalprobe
ein Jahr später mussten die Pilsener
mitspielen: Die braune Pest ergoss sich
in die »Rest-Tschechei«. Von den rund
4000 Juden überlebte kaum einer den
»Schutz« des Dritten Reichs im »Protektorat
Böhmen und Mähren«; 120
Mitglieder zählt die jüdische Gemeinde
heute. Ihr backsteinernes Gotteshaus,
deren Türme mit den goldenen Davidsternen
die Altstadt überragen, diente
nach der Befreiung als Lagerhalle.
Später wollten die realsozialistischen
Stadtplaner Europas zweitgrößte Synagoge
einem Parkplatz opfern. Dann
kam 1989 die Wende. Seit der Sanierung
finden hier Konzerte statt.
1600 Plätze habe die 1857 bis 1859 erbaute
Synagoge, erzählt Jana Zazkova,
die Besucher straff durch den prächtigen
Bau führt. Sie hat einige Jahre in
Israel gelebt.......