Vor fünf Jahren haben die Indignados, die „Empörten", erstmals Madrids zentralen Platz besetzt. Seitdem hat sich Spanien verändert. Aus dem Protest ist die Partei Podemos entstanden. Wegen ihr wählt das Land am 26. Juni neu. FORUM hat ein Stimmungsbild aus Madrid eingefangen. Auf dem eingezäunten Grundstück neben der etwas heruntergekommenen Markthalle La Cebada gedeihen in Holzkisten Kräuter, Spinat, Tomaten und anderes Gemüse. „Wir machen auf, wenn wir da sind" steht in Sprühbuchstaben auf dem Rolltor zum „Campo de la Cebada". Auf selbstgebauten rohen Holzbänken sitzen junge Leute. Sie lesen, unterhalten sich und genießen die ersten warmen Sonnenstrahlen des beginnenden Frühlings. Auf dem betonierten Platz in der Mitte spielen einige Basketball. In einer Ecke des 2.500 Quadratmeter großen Areals kniet ein bärtiger Mann mit einem Maßband auf einer am Boden ausgebreiteten hauswandgroßen Plastikfolie. „Die Folie hat uns das Theater da drüben geschenkt", erzählt er und zeigt auf das Teatro La Latina. „Wir bauen uns daraus eine Kuppel für ein Veranstaltungszelt." Musiker Pedro schreibt Lieder und Gedichte. Zusammen mit Monica leitet er das Campo de la Cebada. Rund 15 Freiwillige kümmern sich um den Gemüsegarten, Feste, Konzerte, Lesungen, Theateraufführungen und das Freiluftkino. Als Leinwand dient ein weiß gestrichenes Rechteck auf der Brandmauer am oberen Ende des Geländes. Wer etwas veranstalten möchte, bringt die Vorschläge montags auf der Vollversammlung ein.
Die Menschen helfen sich in ihrer Not gegenseitigDie seit zehn Jahren wütende Wirtschaftskrise hat Spanien verändert. Vor allem in den großen Städten helfen sich Menschen in Not gegenseitig, legen auf Brachflächen Gemüsegärten für die Selbstversorgung an. Was sie nicht mehr bezahlen können, stellen sie selbst her: Musik, Kunst, Lebensmittel. Das Campo de la Cebada hat lange leer gestanden. „Wir haben uns mit ein paar Nachbarn zusammengetan und die Stadt gefragt, ob wir das nicht nutzen können." Pedro wundert sich heute noch, dass er im Rathaus auf offene Ohren gestoßen ist. „Das Viertel atmet und lebt die Vielfalt", schwärmt er. Auf den Bänken am Nelson-Mandela-Platz oder an der U-Bahn-Station Lavapiés sitzen Afrikaner arbeitslose Tage ab. Jobs gibt es für sie nicht. Andere eröffnen ein Café, einen Imbiss, einen Laden oder betteln. Manche der zahlreichen Bars und Kneipen öffnen nach Laune der Besitzer, andere sind rund um die Uhr geöffnet. An den Wochenenden veranstalten viele Live-Konzerte, oft spontan, wenn Musiker vorbeikommen und eine Jam-Session spielen. „Peluqueria", Friseursalon, steht in leuchtend blauem, geschwungenen Schriftzug auf den historischen Fliesen über der Tür eines mehr als 100 Jahre alten Hauses an der Calle Embajadores. „Wir sind kein Friseur, sondern ein soziales Café", hat jemand auf die Tafel am Eingang geschrieben. Drinnen duftet es nach Kaffee und Kuchen. Die Kaffeemaschine zischt. Zwei junge Frauen arbeiten die vielen Bestellungen ab. Zwischen Cappuccinotassen und Kuchentellern erklärt eine der beiden das Konzept: ein selbstverwalteter Betrieb ohne Chef, von einer Handvoll Enthusiasten gegründet, verkauft Bio-Obst, Gemüse und Selbstgebackenes aus frischen Bio-Zutaten und Produkten aus fairem Handel. Wer keinen Job findet, schafft sich einen oder versucht es zumindest: Architekten, die sich mit Stadtführungen selbstständig machen, ein ehemaliger Vodafone-Manager, der eine Kochschule eröffnet oder Kulturbegeisterte, die das Teatro del Barrio, das Theater des Viertels, gegründet haben. In einer dunklen Gasse raucht Fernando mit ein paar Partygästen eine Zigarette vor der Tür. Nein, erklären könne er das Konzept des Theaters heute nicht mehr, „zu betrunken" sei er, aber „komm doch rein und feiere mit". Drinnen tanzt ein Dutzend Leute, andere schauen zu und unterhalten sich. Es gibt Wein, Nüsse und Knabbereien. Das Teatro trägt Kultur in die Nachbarschaft: Eigenproduktionen, Theaterworkshops, Gastspiele und eine eigene Universität. Montags und dienstags holt das Teatro del Barrio Wissenschaftler zu kostenlosen Vorträgen und Diskussionsabenden in seine Räume. Es geht um Politik, Wirtschaft, Naturwissenschaften, oft um Themen, „über die man sonst nicht so gerne spricht": die Aufarbeitung der Franco-Diktatur oder das Königshaus.
Der Ort, an dem Podemos entstanden istEntstanden ist hier die Bewegung, die Spanien verändert hat: Podemos lud 2011 zu einer ihrer ersten Versammlungen ins Teatro del Barrio. Gegründet wurde die spätere Partei im Laden gegenüber. Von den „Indignados", den Empörten und der Protestbewegung 15M, die monatelang den zentralen Platz Puerta del Sol oben im Stadtzentrum besetzt hielt, ist in Madrid kaum noch etwas zu sehen. Musiker Yerik, der den „Mädchen von Lavapiés" ein Lied geschrieben hat, weiß Rat. In seinem Stück erzählt er von Punkerinnen mit bunten Haaren, von Frauenbewegten, Eigenwilligen, Mutigen und Engagierten. Wie Fanni und ihrer Freundin Yolanda. Die beiden könnten unterschiedlicher nicht sein: schnell, klein, drahtig, hellwach und quirlig die eine; groß, kräftig und ein wenig behäbig die andere. Fanni, die Intellektuellere, Informatikerin, analysiert die spanischen Zustände, sieht 2011 Tausende an der Puerta del Sol, die die gleichen Fragen stellen wie sie, sich über Korruption und Ungerechtigkeit im Lande empören: Junge Leute, gut ausgebildet, ohne Chance auf einen Job. Polizisten tragen Familien mit kleinen Kindern aus ihren Wohnungen, weil sie, arbeitslos geworden, den Kredit nicht mehr bedienen können. Bittere Armut neben protzigem Reichtum, hungernde Bettler vor den Filialen internationaler Luxusmarken an der Preciados, einer der teuersten Einkaufsmeilen Europas. Fanni war fasziniert von der Aufbruchstimmung an der „Sol". Sie fing an, mit den Leuten dort zu reden. „Wir wollen das Land verändern", erklärt sie mit einer Bestimmtheit, die jeden Zweifel an ihrer Entschlossenheit verbannt. Der diffuse Protest wurde zur Bürgerbewegung. Daraus entstand die Partei Podemos („Wir können"), die seit Herbst 2015 mit in der Stadtregierung sitzt. Fanni geht neben dem Fulltime-Job zu Versammlungen und arbeitet in Bürgerinitiativen mit. „Privatleben habe ich keines mehr", sagt die 36-Jährige. Sie klingt müde. Doch aufgeben kommt für sie ebenso wenig in Frage wie für Yolanda, die wegen einer Behinderung Rente bekommt. Abgekämpft wirkt auch sie, aber voller „ilusión" - ein Wort, das sich mit Illusionen, Träumerei übersetzen lässt - oder als Hoffnung und Vorfreude auf die Veränderungen, die Podemos in Spanien noch bewirken kann. Die 35-Jährige engagiert sich in der Nachbarschaft, hilft Leuten in Not. Oft denkt sie an die Frau, die mit ihrem Baby weinend vor ihr stand: Das Kind schrie, und die Mutter hatte kein Geld, um etwas zu essen zu kaufen. „Leute haben sich umgebracht, weil die Krankenkasse lebensnotwendige Medikamente nicht mehr bezahlt", erzählt Yolanda, selbst den Tränen nahe. Kraft schöpft sie aus den Veränderungen, die die Protestbewegung schon bewirkt hat: „Menschen wie Du und ich finden Gehör und regieren mit! Was Podemos landesweit erreichen will, setzen einige in Lavapiés und anderen Madrider Vierteln schon um - sie teilen. Mario Chaamaño feiert mit ein paar Freunden gerade Geburtstag. Seine Werke scheinen wie übergroße Alltagsfotos aus befremdlichen Perspektiven: Putzeimer auf schachbrettgemusterten Fußböden oder farbige Flächen. Realer Raum und Bilder lassen sich kaum voneinander unterscheiden. „Ich male realistisch", erklärt der junge Chilene. Sein Nachbar restauriert alte Kunstwerke. Gegenüber hat ein Bildhauer eine Galerie eröffnet. „Wir arbeiten zusammen", erzählt der 33-Jährige. Jeden Mai öffnen die vielen Künstler unter dem Motto „Los Artistas del Barrio" ihre Ateliers. Dann ziehen Scharen von Besuchern durch den Stadtteil. Zum Leben reicht Marios Kunst noch nicht. In der nahen Tabacalera gibt er Malkurse.
Was Podemos erreichen will, setzen einige schon umDie Stadt hat die mehrere Häuserblocks große stillgelegte Zigarettenfabrik vor ein paar Jahren zum Kulturzentrum umgebaut. In der oberen Hälfte betreibt sie Ausstellungsräume. Einige der weitläufigen Hallen und Innenhöfe verwalten junge Leute selbst. „Was sich nicht teilen lässt, ist keine Kultur", bringen die Macher ihr Anliegen auf den Punkt. In eines der ehemaligen Fabrikgebäude ist eine Fahrradwerkstatt eingezogen. Andere bieten Werkstätten für Malerei, Bildhauerei oder Fotografie an. Gleich oberhalb der Tabacalera gedeihen weitere Zeichen des Aufbruchs im Kleinen. Vor der Markthalle San Fernando sitzen Leute auf den Treppen in der warmen Nachmittagssonne, manche mit einer Flasche Bier in der Hand. Drinnen schließen die letzten Bars und Marktstände. Nebenan hat eine Genossenschaft von Anwohnern einen Bio-Laden eröffnet: Zu Obst und Gemüse gibt es Saatgut und Kurse in biologischem Gärtnern. Wer mag, pflanzt Gemüse auf dem Campo de la Cebada oder gleich um die Ecke auf dem Grundstück „Esta es una Plaza" (Das ist ein Platz). Aktivisten haben das leerstehende Gelände der Stadt abgetrotzt, Beete in großen Holzkisten angelegt, eine Bar, einen Kinderspielplatz gebaut und einen alten Baucontainer aufgestellt. In der Fahrradwerkstatt reparieren Interessierte unter Anleitung Räder. Pedro, der Musiker vom Campo de la Cebada, erlebt die Vielfalt in Lavapiés „als Mehrwert, nicht als Barriere". „Da arbeitet ein Afrikanerin mit einem Australier zusammen, Spanier mit Argentiniern, die gemeinsam eine Jam-Session spielen." All das passiere von selbst. „Da brauchst du keine Zuschüsse von der Stadt." Auch politisch hat sich einiges verändert. Nach Jahrzehnten der konservativen Ratsmehrheit hat das linksalternative Bündnis „Ahora Madrid" (Jetzt Madrid) die Stadtregierung übernommen. Bei den Wahlen im letzten Herbst verlor die Volkspartei PP überall im Land deutlich an Stimmen. „Korruption schreibt man mit zwei P", lästern manche. Sogar skandalgewohnten Spaniern sind Vetternwirtschaft und Schmiergeldgeschichten zu viel geworden. „Nach Jahren des neoliberalen PP-Mottos ‚Bereichert Euch, wo Ihr könnt' schlägt das Pendel in die andere Richtung", fasst Thomas Büser den Stimmungswandel zusammen. 23 Prozent offizielle Arbeitslosigkeit, mehr als die Hälfte aller Jugendlichen ohne Job. Die „ni-ni"-Generation (ni formación ni trabajo, weder Ausbildung noch Arbeit) sucht eine Zukunft. Die Bauwirtschaft, bis 2007 Konjunkturmotor der Wirtschaft, ist zusammengebrochen. Viele Architekten wie Werner Durrer oder Fremdenführer Javier finden weder Job noch Auftraggeber. In Madrid konzentrieren sich die Sorgen und Hoffnungen der Menschen. „Rau" nennt Journalist Thomas Büser das Klima in der Hauptstadt und meint damit nicht nur das extreme Wetter: brütend heiße Sommer mit über 40 Grad, eisige Winter. Die meisten Madrilenen seien direkt, schnoddrig im Ton und gesprächig. „Diese Stadt ist wie eine Flasche Ketchup. Du schüttelst und schüttelst und nichts passiert, bis dann plötzlich die ganze Ladung herauskommt". Büser, aus Deutschland zugezogener Autor und Journalist, hat einen Reiseführer über Madrid geschrieben. Mit seinem kubanischen Lebenspartner wohnt er am südlichen Stadtrand.
Mehr als die Hälfte der Jugendlichen ist ohne JobNoch in den 80er-Jahren steckte der spanische Staat Schwule ins Gefängnis. Dann kam die Movida Madrileña, die bunte, fröhliche Jugendbewegung derer, die alles nachholen wollte, was sie unter der faschistischen Diktatur bis 1975 versäumt hatte. In Chueca und Malasaña, wo die Jugend damals feierte, Künstlerateliers und Galerien und stylische Bars eröffnete, wehen heute viele Regenbogenfahnen. Homosexuelle Paare haben sich Eigentumswohnungen gekauft, die inzwischen ein Vermögen wert sind. Jedes Jahr Anfang Juli findet in Chueca die größte Schwulen-, Lesben- und Transgenderparade Europas statt. Spanien hat als eines der ersten Länder gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften der Ehe gleichgestellt, erzählt Thomas. In Madrid mag er die Dichte und hohe Geschwindigkeit des Lebens, die Fülle an Kultur. Ständig entstehe Neues. Stadt und Region verlegten die Umgehungsautobahn M30 unter die Erde. Das Flüsschen Manzanares wurde renaturiert. Eine Studenteninitiative setzte durch, dass ein 7,5 Kilometer langes Gelände über der Autobahn zum Park wurde: Madrid Rio mit Sportanlagen, Spielplätzen, Rad- und Wanderwegen. Thomas zeigt auf das betongraue verkommene Fußballstadion. Die Arena des Vereins Atlético, Club der Arbeiter und einfachen Leute, weicht zwei Wolkenkratzern mit Büros, Luxuswohnungen und Einkaufszentrum: „Das nächste große Ding." Der Viktualienmarkt gegenüber, ein konturloser Betonkasten, soll zum Kulturzentrum werden. In die mehr als 100 Jahre alten Back- und Bruchsteinbauten des einst größten Schlachthofs Spaniens sind auf 120.000 Quadratmetern Galerien, Restaurants, eine Biblio- und Mediathek mit Leseräumen, Ausstellungsflächen und eine Außenstelle des Nationaltheaters gezogen. Zu den Veranstaltungen kämen die kulturbegeisterten Madrileños in Scharen. Von der allgegenwärtigen Krise ist auf den ersten Blick in Madrids Straßen mit ihren vielen vollen Kneipen, Bars, Cafés, wenig zu spüren. Verändert hat die Protestbewegung, die vor genau fünf Jahren auf der „Puerta del Sol" begonnen hat, schon einiges. Am 26. Juni wählt Spanien wieder ein neues Parlament, weil sich die inzwischen vier dort vertretenen Parteien auf keine Regierung geeinigt haben. Neben Konservativen und Sozialisten, die bisher immer abwechselnd regierten, sitzen jetzt die Vertreter der liberal-bürgerlichen Ciudadanos („Bürger") und von Podemos im Parlament. Gut möglich, dass sie keine fünf Jahre nach ihrer Gründung bald mitregieren werden. Robert B. Fishman