Am 23. Juni stimmt Großbritannien über den Austritt aus der Europäischen Union ab. Umfragen sagen ein knappes Ergebnis voraus. Während vor allem der reiche Süden Englands voraussichtlich für den Brexit stimmen wird, liegen in Schottland die EU-Befürworter noch vorne. Entscheidet sich die Mehrheit der Briten gegen die Europäische Union (EU), wird diese womöglich ein neues Mitglied bekommen: Der ehemalige schottische Ministerpräsident Alex Salmond hat angekündigt, dass seine Scottish National Party die Schotten dann erneut über die Unabhängigkeit des Landes abstimmen lassen will. 2014 war das Unabhängigkeitsreferendum gescheitert. Ein eigenständiges Schottland werde, sagt Salmond, umgehend der EU beitreten. Doch wie ist die Stimmung derzeit in der schottischen Großstadt Glasgow? Buchanan Street: Nach tagelangem Regenwetter scheint die Frühlingssonne vom blau gewaschenen Himmel auf Glasgows wichtigste Einkaufsmeile. Eine junge Frau hinter einem schottisch-blauen Stehtisch mit der Aufschrift „Scotland Yes" lächelt die Passanten an. Ein wenig unsicher erklärt sie ihr Anliegen. Großbritannien solle in der Europäischen Union bleiben. Mehr könne sie gerade nicht sagen. Dann holt sie Stephen. Der groß gewachsene 28-Jährige möchte auf die Vielfalt Europas nicht verzichten. Als Softwarespezialist habe er für eine englische und eine französische Firma gearbeitet, erklärt er. Dort habe er die vielen Vorzüge der internationalen Zusammenarbeit kennengelernt. Eine gemeinsame Währung und Reisen ohne Grenzkontrollen wisse er nach seinen beruflichen Auslanderfahrungen zu schätzen. Das Argument der „Fremdbestimmung" aus Brüssel will er nicht gelten lassen. Natürlich müsse das Parlament mehr Rechte erhalten. An Demokratie fehle es allerdings auch im eigenen Land. Das britische Mehrheitswahlrecht führt dazu, dass nur der Kandidat mit den meisten Stimmen im Wahlkreis einen Sitz im Unterhaus bekommt. Die anderen Stimmen bleiben unberücksichtigt. Und die Regierung in London werde genau so wenig vom Volk direkt gewählt wie die Europäische Kommission.
EU-Gegner Farrage schürt Ängste vor EinwanderernWährend Stephen seine Argumente vorträgt, baut seine Kollegin den Infostand ab. Berge von Infoblättern sind übrig geblieben. Die meisten Passanten gehen achtlos am Stand vorbei. „Die Leute", vermutet Stephen, „sind politikmüde." Die Regionalwahlen sind gerade vorbei, die Unterhauswahlen nicht lange her, und auch die gescheiterte Volksabstimmung über die Unabhängigkeit Schottlands haben alle noch bestens in Erinnerung. Für die einfachen Leute habe sich durch all das wenig geändert. Die EU-Befürworter argumentieren vor allem mit der Wirtschaft: freier Handel im Binnenmarkt, Reisefreiheit, nichts, dem die Fans eines EU-Austritts von der „Leave"-Kampagne widersprechen. Die wollen auch nach dem Brexit Handels- und Zollabkommen mit Brüssel abschließen, Waren frei ein- und ausführen. Viele könnten, sagt Stephen, die beiden Lager zu wenig voneinander unterscheiden. Auch das Niveau der Auseinandersetzung fördere das Interesse der Menschen kaum. Die EU-Gegner schimpfen über eine angebliche europäische Tampon-Steuer. Das rechtskonservative Krawallblatt „Sun" zeigt EU-Befürworter David Cameron, konservativer britischer Premierminister, als kleine Marionette der übergroßen Angela Merkel. Nigel Farrage, Vorsitzender der nationalistischen Ukip (United Kingdom Independence Party) und engagierter Brexit-Befürworter, schürt im Ton der deutschen AfD Stimmung gegen Einwanderer. EU-Gegner Michael Gove warnt vor dem Untergang des nationalen Gesundheitsdienstes NHS, wenn im Rahmen der europäischen Reisefreiheit arme Südeuropäer britische Krankenhäuser stürmen, um sich dort kostenlos behandeln zu lassen. 50 Millionen Pfund (knapp 65 Millionen Euro) verspricht die „Leave"-Kampagne demjenigen, der die Ergebnisse der Fußball-Europameisterschaft als erstes richtig tippt. „Das ist die Summe, die wir jeden Tag an die EU überweisen", heißt es dazu im Werbespot. Dass ein Großteil des Geldes aus Brüssel für Subventionen, Regional- und Projektförderung zurückkommt, bleibt unerwähnt. „Nur mit Pest, Cholera und Feuer haben sie uns noch nicht gedroht", spottet eine Liverpoolerin auf der Internetseite der öffentlich-rechtlichen Fernseh- und Radiosenders BBC.
Verunsichert durch TTIPAlex Manserous liefert handfestere Argumente für den EU-Austritt. Gut 100 Meter entfernt vom inzwischen abgebauten Stand der „Yes"-Kampagne in der Glasgower Fußgängerzone wirbt er vor einem Kaufhaus für den Brexit. Die Menschen, doziert er, seien verunsichert, zum Beispiel von TTIP. Das transatlantische Freihandelsabkommen werde es US-amerikanischen Unternehmen erlauben, an den britischen Gerichten vorbei den Steuerzahler auf Millionensummen zu verklagen. Auch andere Kritikpunkte des 33-Jährigen klingen nicht nach rechter Stimmungsmache gegen Fremde. Die Leute hätten Bedenken gegen eine gemeinsame europäische Armee. Viele bemängelten, dass die mächtige EU- Kommission nicht von den Bürgern gewählt und dass Großbritannien mit seinen 72 Reformvorschlägen bei der EU abgeblitzt sei. Während Alex hinter dem Tapeziertisch der „Leave"-Kampagne mit monotoner Prediger-Stimme gegen die EU agitiert, versucht sein Kollege John den Vorbeieilenden Flugblätter in die Hand zu drücken. Nicht alle nehmen die Zettel mit. „Ich will nicht rassistisch klingen", meint eine Frau in den 50ern, während sie zögernd nach einem von Johns Flyern greift. „Aber sie lassen doch so viele Leute ins Land, dass niemand mehr weiß, wer da alles kommt. Und", ergänzt sie mit dem „Ich bin kein Rassist, aber"-Unterton, „finanziell geht es uns auch immer schlechter." Traditionell steht Schottlands größte Stadt eher links. 2014 stimmte die Mehrheit für die Trennung von Großbritannien. Britanniens Konservative, die Tories, waren hier schon vor dem Zweiten Weltkrieg durchgehend in der Minderheit. Bis in die 60er Jahre arbeiteten die meisten Glasgower in den zahlreichen Werften am Clyde-Fluss, in der Textil- und Stahlindustrie. Die Stollen der Kohleminen unterhöhlten im 19. Jahrhundert weite Teile der Stadt, die vor gut 100 Jahren mehr als eine Million Einwohner zählte. Jetzt sind es in der einst zweitgrößten Metropole des britischen Empire noch etwa 650.000. Schiffe bauen heute vor allem die Chinesen und Koreaner billiger. Auch die Bekleidungs- und die Stahlindustrie lassen längst in Asien fertigen. Die Krise der 80er- und 90er-Jahre hat die Stadt weitgehend überwunden. Jobs gibt es in der einstigen Arbeiterstadt inzwischen bei Banken, im Handel, bei Versicherungen und in der Kreativwirtschaft.
Zu viele Regeln, zu bürokratisch und undemokratischJohn, der für die „Leave"-Kampagne Flugblätter in der Buchanan Street verteilt, schult auf „Motion Graphics" um. Das Arbeitsamt zahlt dem ehemaligen Sport-Trainer einen Kurs für Trickfilm-Animation. Der 53-Jährige würde aber jeden Job annehmen. „Wenn wir aus der EU austreten, bleiben wir doch Europäer", versichert er. Der europaweite Zulauf zu den rechten Parteien bereitet ihm große Sorgen. „Das passiert immer dann, wenn die politischen Eliten nicht mehr auf die einfachen Leute hören", erklärt er sein Engagement gegen die EU mit ihrer Bürokratie und Lebensferne. „Zu viele Regeln, zu bürokratisch, zu undemokratisch", sagen zahlreiche Passanten über die EU und nehmen Flugblätter mit. Andere sind unentschlossen, verstehen die Argumente beider Seiten oder fühlen sich zu wenig informiert, um eine gute Entscheidung zu treffen. Die 55-jährige Ann zum Beispiel. Sie ist wegen einer Behinderung arbeitslos und überlegt noch, wie sie am 23. Juni abstimmen wird. Vieles in der EU gefalle ihr nicht, vor allem mache ihr das TTIP-Abkommen Sorgen. Aber von der britischen Regierung erwartet sie wenig. Deutschland habe eine Million Flüchtlinge aufgenommen. London lasse in den nächsten fünf Jahren nur 20.000 ins Land. „Völlig falsch" findet das die energische, kleine Dame. „Diese Menschen fliehen vor einem Krieg. Wir müssen ihnen helfen. Das ist Europa." Robert B. Fishman