Am 11. Juni 1964 war Walter Seifert mit einer zum Flammenwerfer umfunktionierten Pflanzenspritze und einer Lanze in die Katholische Volksschule Volkhoven eingedrungen. Der Rundschau haben vier Zeitzeugen ihre Geschichte erzählt. Von René Denzer
Das Heilig-Geist-Krankenhaus in Longerich war knapp vier Monate eröffnet. Walter Englert, leitender Oberarzt in der chirurgischen Abteilung, hatte gerade eine Bauch-OP beendet. Dann kam die Nachricht: "Da kommt eine Klasse verbrannter Kinder." Englert eilte vom zweiten Stock in die Notfallambulanz. Er sah zwei Kinder. Sie standen unter Schock, hatten großflächige Verbrennungen. Ein Pkw nach dem anderen erreichte das Krankenhaus. In ihnen weitere schwer verletzte Kinder. "Wir haben gelernt mit einem Notfall umzugehen, doch das war kein Notfall, das war eine Katastrophe", sagt Englert heute.
Am 11. Juni jährt sich diese Katastrophe zum 50. Mal. An jenem Morgen im Jahr 1964 war Walter Seifert mit einer zum Flammenwerfer umfunktionierten Pflanzenspritze und einer Lanze in die Katholische Volksschule Volkhoven eingedrungen. Mit einem Holzkeil blockierte er das Tor. Der damals 42-Jährige attackierte zuerst Lehrerin Anna Langohr, die Turnunterricht auf dem Pausenhof gab, dann die Kinder mit dem Flammenwerfer. Mit einer Schleuder zerstörte Seifert Scheiben der Klassenräume, wollte weitere Kinder verbrennen. Mit der Lanze stach er auf die Lehrerinnen Ursula Kuhr und Gertrud Bollenrath ein. Nach der Tat schluckte Seifert das Pflanzenschutzmittel E605 und starb im Krankenhaus.
Seifert war an Tuberkulose erkrankt, arbeitsunfähig. Mit Behörden hatte er vergeblich darum gestritten die Krankheit als Kriegsleiden anerkennen zu lassen. Fünf Jahre vor der Tat wurde Seifert psychiatrisch untersucht, man bescheinigte ihm "verschrobenes Verhalten" und einen "zerfahrenden Gedankengang". Zwei Jahre später stirbt seine Frau im Kindbett.
Das Herz der Stadt stand stillAn das Ereignis, an dem laut dem damaligen Oberbürgermeister Theo Burauen das Herz der Stadt still stand, wird Bruno Kassel erinnert, wenn er in den Spiegel schaut. Großflächig ist sein Körper mit Narben übersät. Das macht ihm noch heute zu schaffen. Schwimmbadbesuche und Sommerkleidung sind für ihn tabu. 1964 war er Walter Seifert vor die Füße gefallen, als er in Panik aus seiner brennenden Klasse fliehen wollte und über eine Stufe zum Schulhof stolperte. "Die Gelegenheit hat er genutzt und mit dem Flammenwerfer drauf gehalten", sagt Kassel. Als lebende Fackel lief er in Richtung Schultor. Müllmänner hätten ihn gelöscht, erzählt der heute 59-Jährige. Autos wurden angehalten, Kinder reingesetzt, Ziel: Krankenhaus.
Barbara Peter gehörte zu der Klasse, die Turnunterricht auf dem Schulhof hatte. Auch sie wurde verbrannt, versteckte sich im Toilettentrakt. Als der Weg zum Tor frei war, rannte sie nach Haus. "Meine Mutter hängte gerade Wäsche auf. Als sie mich sah, ließ sie alles fallen." Im VW-Bus ging es zum Heilig-Geist-Krankenhaus.
Dort bot sich dem heute 86-jährigen Walter Englert ein grausiges Bild. Haut war mit Kleidung verschmolzen, Venen mussten operativ freigelegt werden, um Zugänge legen zu können. Hinzu kam der Geruch. "Wie in einer Hufschmiede", erinnert sich Englert. Der Ansturm von Intensivkranken sei groß gewesen. Die Kinder wurden im Heilig-Geist-Krankenhaus versorgt und später auf andere Häuser verteilt.
"Für ein knappes Jahr war das Kinderkrankenhaus an der Amsterdamer Straße mein Zuhause", erzählt Bruno Kassel. Die Station B4 war die für die Volkhoven-Kinder. Etliche Operationen habe er über sich ergehen lassen müssen, sagt Kassel. 100 Tage war Barbara Peter im Krankenhaus. Sie berichtet von Angst und Schmerzen, aber auch von Zuwendung und Liebe.
Es habe Momente gegeben, wo der Clown gefragt war, sagt Peter Ohren. "Psychologen in dem Sinne gab es ja nicht." Und auch die Eltern durften gerade in der Anfangszeit wegen der Infektionsgefahr das Zimmer nicht betreten. Ohren war damals 23 Jahre alt, arbeitete in der Chirurgie als OP-Pfleger. Er verkleidete sich als Nonne, erzählte Geschichten, las Märchen vor - früher wollte Ohren Schauspieler werden. Zusammen mit den Kindern lebten er und seine Kollegen auf Station B4.
In der Zeit seien auch die Betreuenden an ihre Grenzen gegangen. "Das waren Schallmauern, die es für uns zu durchbrechen galt." Das habe einen geprägt, sagt Ohren. 41 Jahre lang hat er im Kinderkrankenhaus gearbeitet. Als er vor zehn Jahren in den Ruhestand ging, waren etliche der Volkhovener Kinder gekommen, die er betreut hatte. Barbara Peter schenkte ihm eine Ausgabe ihres Buches, in dem sie Erinnerungen und Fakten zu dem Ereignis von vor 50 Jahren festgehalten hat. Das Buch hat eine Widmung: "Für Peter, der mir für 100 Tage meine Familie ersetzt hat."
In Volkhoven erinnert heute eine Gedenktafel an dem steinernen Hauptgebäude der ehemaligen Schule am Volkhovener Weg 209-211 an die grauenvolle Tat. Acht Kinder und zwei Lehrerinnen kamen ums Leben. Der letzte Satz auf der Tafel verspricht, was in Volkhoven allgegenwärtig ist: "Wir werden sie nicht vergessen."