Wie "Die Tribute von Panem" auf Valium: Phillip Noyces Zukunftsfilm "Hüter der Erinnerung"
Imagine all the people, living life in peace", sang John Lennon einst. "Nothing to kill or die for and no religion, too". In "Hüter der Erinnerung" ist Lennons Utopie scheinbar Wirklichkeit: Kriege und Hungersnöte gibt es nicht mehr, keinen Schmerz und keinen Hass. Doch dafür zahlen die Menschen einen hohen Preis: Sie nehmen Medikamente, um ihre Emotionen zu unterdrücken. Farben, Musik, Jahreszeiten, sogar Liebe - das alles hat man abgeschafft.
Der Einzige, der noch weiß, wie es früher war, ist der Hüter der Erinnerung (Jeff Bridges), ein alter Mann, der allein am Rande der Stadt lebt und das emotionale Erbe der Menschheit verwaltet. Als der 16-jährige Jonas (Brenton Thwaites) zu seinem Nachfolger bestimmt wird, zeigt der Hüter dem Jungen nach und nach, wie das Leben einmal war: grausam und brutal, aber auch voller Freude, Mitgefühl und Liebe. Jonas erkennt, dass die Welt, wie er sie kennt, eine Lüge ist, und will seine Mitmenschen aus ihrer Ohnmacht reißen. Dadurch wird er zur Bedrohung für die Gesellschaft.
Der 1993 erschienene Jugendroman "Hüter der Erinnerung" der amerikanischen Autorin Lois Lowry ist eine leicht verträgliche Mischung aus Orwells "1984" und Huxleys "Schöne neue Welt". An manchen amerikanischen Schulen wird das Buch sogar als Unterrichtslektüre verwendet. Bereits vor 18 Jahren wollte Jeff Bridges den Stoff verfilmen lassen, fand aber keine Geldgeber.
Heute sieht die Sache anders aus: Seit einiger Zeit boomen Verfilmungen so genannter Jungerwachsenen-Romane, in denen Teenager gegen dystopische Systeme oder übernatürliche Kräfte kämpfen und nebenbei die Liebe entdecken. Um noch besser ins Schema zu passen, wurde "Hüter" zielgruppengerecht modifiziert: Der 12-jährige Jonas vom Buch ist im Film ein geschlechtsreifer 16-Jähriger (gespielt vom 24-jährigen Thwaites), Popstar Taylor Swift greift in einer Minirolle rehäugig in die Klaviertasten. Am anderen Ende der Alters- und Talent-Skala nuschelt und schnauft sich Jeff Bridges durch die Titelrolle, für die er vor 18 Jahren seinen Vater Lloyd vorgesehen hatte. Und Meryl Streep spielt mit fragwürdiger Perücke die böse Hexe.
Obwohl Lowrys Roman lange vor "Die Tribute von Panem" oder "Die Bestimmung" geschrieben wurde, wirkt die Geschichte heute wie ein müder Abklatsch. Das Umfeld ist nahezu identisch, die Erzählweise aber weit weniger packend: Regisseur Phillip Noyce ("Die Stunde der Patrioten", "Salt") schwelgt immer wieder in Zeitlupensequenzen. Die futuristische Welt zeigt er anfangs in Schwarzweiß, dann in matten Farben, um die Eintönigkeit der sedierten Gesellschaft zu verdeutlichen.
Das unterstreicht unfreiwillig auch die Farblosigkeit der Charaktere, die mit hölzernen Mienen durch den Film schlafwandeln. Dass der Film überstürzt endet und vieles ungeklärt bleibt, stört nicht weiter. Am Ende ist man froh, wenn man aus dem dunklen Kino zurück in seine kriegerische, brutale, aber immerhin farbenfrohe Welt taumelt. Es ist ein Gefühl, als wäre man selbst aus einem tiefen Schlaf erweckt worden.