Vorne brüllen Babys ihre Eltern um den Verstand, hinten meckern Senioren über zu wenig Beinfreiheit. Es riecht nach voller Windel. Es ist Januar, und draußen ist es saukalt. Wer kann, flieht vor dem deutschen Winter.Über die Anlage erklärt der Kapitän die Flugroute. Zuerst auf Deutsch, dann auf Englisch. Ein solariumbrauner Mann, der eben noch die Bierpreise im Bord-Menü studiert hat, blickt auf. „Ick weeß nich, bin ick schon besoffen oder warum vasteh ick den nich?"
Wir werden von Düsseldorf über Frankreich zum Atlantik fliegen, östlich vorbei an Lanzarote, und dann auf der kanarischen Insel Fuerteventura landen. Dort wird die Pop-Band Bilderbuch ins Clubhotel einchecken.
Vor Kurzem ist ihre vierte Platte fertig geworden. Sie heißt MAGIC LIFE. Ein Titel, der nach Abenteuer klingt. Nach Glamour und einem Leben im Luxus. Aber auch nach Kindheit und Cluburlaub. Schön bequem und fad. Ganz anders als die Musik von Bilderbuch. Ein kleines Rätsel also, dieser Titel. Und eines, das sich auf dem Festland nicht erklären lässt. Deswegen bitten die vier Oberösterreicher den Musikexpress zum Exklusiv-Interview in den All-Inclusive-Urlaub. Ich mache mich auf den weiten Weg, um das Geheimnis zu ergründen.
Der gebräunte Mann in der Reihe vor mir hat einen Reiseführer aufgeschlagen. Er übt Vokabeln für den Spanien-Urlaub.
„Cerveza", sagt er. „Det kannste trinken", erklärt sein Kumpel. „Chicka", sagt er. „Det kannste lecken", erklärt sein Kumpel. Wir heben ab. So beginnt das Magic Life ...
Ein Haus im Nirgendwo. Das konnte ja nicht gut gehen. Ausgerechnet in die Einöde von Jandía Playa im Süden von Fuerteventura hatte das Frankfurter Touristikunternehmen Steigenberger ein Hotel gebaut. Die Gäste blieben aus. Kein Wunder. Hier war ja auch nichts. Eine Idee musste her. Zusammen mit TUI entwickelte Steigenberger ein Konzept: den Cluburlaub. Im Hotel sollten die Gäste bespaßt, animiert, gefüttert werden. Und alle, alle sollten Deutsch sprechen. So entstand 1971 der erste Robinson Club der Welt. Ein Stückchen Heimat in der Fremde. Eine Sternstunde des Massentourismus. Keine zehn Autominuten entfernt von diesem beinahe historischen Ort steht heute der Magic Life Club. Christoph Kregl führt mich durch die Lobby. Er trägt drei dicke goldene Ringe an den Fingern. Seit zwölf Jahren ist er der Manager von Bilderbuch. Damals waren sie fast noch Kinder. Gemeinsam betreiben sie heute das Label Maschin Records. Christoph sagt, er ist jeden Tag dankbar dafür, dass sie nicht bei einem Major-Label unterschrieben haben. Er sagt, wer erfolgreich sein will, muss anderen immer eine Nasenlänge voraus sein. Er sagt, er will mit Bilderbuch etwas Nachhaltiges aufbauen. Etwas, das auch in 15 Jahren noch Bestand hat.
Wir laufen vorbei an verwaisten Pools, geschlossenen Sonnenschirmen und leeren Liegen. Das Areal ist so groß wie ein kleines Dorf. Heute wirkt es gespenstisch wie das „Overlook"-Hotel aus Stanley Kubricks „Shining". Angeblich sind 80 Prozent der Zimmer belegt. Aber wir sehen nur ein paar hartgesottene Männer in Badehosen, die im Grau-in-Grau trotzig Cappuccino trinken.
Christoph führt mich Stufen hinauf in ein Café. Dort lungert eine Gruppe herum, die nicht ins Bild passt. Die Männer sind jung und gut gekleidet, trinken Espresso und Prosecco. Sie sehen aus, als würden sie gerade den Religionsunterricht schwänzen. Too cool for school. Mitten unter ihnen ist einer, der noch ein bisschen mehr hervorsticht als die anderen. Blond ist er, blonder als der Sonnenschein. Um den Hals ein Goldkettchen. Darunter ein Torwartshirt und Sneakers. Das ist Maurice Ernst. 28 Jahre jung. Bilderbuch-Sänger. Stilikone. Sex-Symbol. Ihn hat das Männermagazin „GQ" zum bestangezogenen Österreicher gewählt. Ein Frevel an seinen Bandkollegen! Die sind nämlich style-mäßig auch ganz vorn dabei. Da ist -Bassist Peter Horazdovsky: Topfhaarschnitt und runde Brille. Drummer Philipp „Pille" Scheibl: Seine Braids lassen deinen Man Bun alt aussehen! Und natürlich Gitarrist Mike Krammer: ein sphinxartiges Wesen mit weißlackierten Fingernägeln und L.A.-Lakers-Mütze.
Vor drei Jahren sind diese vier zu Popstars erblüht. Es war die Single „Maschin", die uns zuerst in den Wahnsinn trieb. Dann folgte das Erfolgsalbum, SCHICK SCHOCK. Ob das „Zeit-Magazin" oder yours truly, der Musikexpress: Plötzlich waren alle wieder ganz narrisch nach dem Wiener Schmäh. Keine Frage, der Wien-Tourismus hat Bilderbuch viel zu verdanken.
Man konnte kaum glauben, dass es sie schon fast zehn Jahre gegeben hatte, bevor man sie wahrnahm. Aber irgendwie hatte es das ja auch nicht. Nicht in dieser grellen, geilen Gestalt. Die Hintergründe ihrer unglaublichen Neuerfindung wird man wohl nie vollständig rekonstruieren können. Aber sie hatte viel mit der Entdeckung von Kanye West und Wasserstoffperoxid zu tun.
Eine freundliche Rundumbegrüßung. Hallohallohallohallo. Wie war der Flug? Der Flug war lang. Jemand drückt mir ein Glas Prosecco in die Hand. Eine große Runde ist das. Morgen wird die Band ein Video zu ihrer -nächsten Single „Baba“ drehen. Deswegen ist die ganze Crew angereist: Regisseure und Techniker, eine Style-Beraterin und eine Visagistin. Ich versuche, mir die Namen zu merken. Aber es bleibt nicht viel Zeit. Maurice ist unruhig. Er hat schon ein paar Ideen für den Nachmittag. „Am Ende des Tages wirst du verstehen, was Magic Life bedeutet“, verspricht er. Dann nichts wie los.
Ich komm zu spät zu meiner Thai-Massage
Die Frau am Schalter des Wellness-Centers schüttelt den Kopf. Heute keine Massagen mehr. Maurice schenkt ihr seinen Hundeblick. Ob man da nicht vielleicht doch eine Ausnahme machen könnte? Nein, kann man nicht. Not possible.
Für prominente Gäste gibt es hier offenbar keine Sonderbehandlung. Maurice ist nicht überrascht. Die Hotel-Mitarbeiterin, die die Band betreuen soll, hatte sich auch nicht besonders gut vorbereitet. Maurice: „Als wir angekommen sind, fragte sie mich: ‚Seid ihr wie Tokio Hotel?‘ Ich sagte nein. Darauf sie: ‚Seid ihr wie die frühen Tokio Hotel?‘ Da hab’ ich’s dann aufgegeben.“
Das Fitness-Center ist nicht weit. Dann eben Tischtennis statt Thai-Massage. Heimeliger Schweißgeruch schlägt uns entgegen, Hometrainer rauschen leise vor sich hin. An den Wänden hängt eine eigenwillige Auswahl von Filmpostern: „Waterworld“, „Love Actually“, „Harry Potter“. Because life doesn’t get more magic than that.
Es gibt nur vier Tischtennis-Schläger für uns fünf. Ein weiterer lässt sich nicht auftreiben. Not possible. Verwende ich halt mein Notizbuch als Kelle. Wir spielen Rundlauf. „Rennerts“ nennen es die anderen. Und Mike verliert als Erster seine fünf Leben. Er hat viele Spitznamen. Die meisten, sagt er, seien für das Aufnahmegerät ungeeignet. Auf der Bühne nennen sie ihn Mizzi Blue, beim Tischtennis Knüppel – und das nicht, weil er so gut spielt. „Maurice denkt an den Sieg, ich nur an das Bier, das ich trinken kann, wenn ich nicht mehr mitspielen muss“, erklärt er.
Gott weiß, wer oder was den bleichen Jungen von einst geküsst und in einen Prince verwandelt hat. Gitarre spielt er seit seinem zehnten Lebensjahr. Sein Vater, selbst Gitarrist in einer Cover-Band, brachte ihn mit umgekehrter Psychologie dazu: indem er die Familien-Stratocaster immer ganz weit weg vom kleinen Michael drapierte. Bis der so neugierig wurde, dass er sie sich eines Tages schnappte: „Ich hab’ einen Ton angeschlagen, und es klang mega. Da wusste ich: Ich will das machen!“
Und wie er das macht! Mike ist vom Schlage eines Slash oder Keith Richards. Schlaksig und schweigsam. Vor dem großen Solo reißt er sich bei Konzerten das Gummiband aus den Haaren, als käme seine Superkraft aus der langen Mähne. Kein Gitarrist seiner Generation spielt wie er und sieht dabei so gut aus. Wenn man ihm das sagt, reagiert er fast überrascht. „Wir sind vier Leute. Jeder steuert etwas bei. Das ist halt das, was ich gut kann.“
Peter kann auch ein paar Dinge: Bass-, Gitarre- und Klavierspielen zum Beispiel. Vor drei Jahren hat er sich „sauviel“ mit Synthesizern beschäftigt. Seitdem zählen die auch live zu seinen Zuständigkeiten. Peter ist sozusagen das Ur-Mitglied von Bilderbuch. Schon vor 14 Jahren spielte er mit Mike in einer frühen Inkarnation der Band, die Interior hieß. Er war es auch, der Maurice als Sänger dazuholte. Angeblich auf einer Hausparty, bei der Peter in der Badewanne lag und nur noch besoffen vor sich hin stammeln konnte. „Nicht besoffen“, korrigiert er. „Extrem besoffen.“
Bleibt noch Pille. Mit 25 das Band-Baby und gleichzeitig ihr neuestes Mitglied. Ihn haben sie 2013 rekrutiert, nachdem er Maurice und Mike zufällig auf einem Kanye-West-Konzert in Zürich über den Weg gelaufen ist. Sein Vorgänger, Andreas Födinger, war ganz Rock’n’Roller: Er weigerte sich, zum Click-Track aufzunehmen, was die Arbeit mit Samples unmöglich machte. Pille war da aufgeschlossener. Er brachte den HipHop in die Band. Ohne ihn wären Bilderbuch 2.0 nicht möglich gewesen.
Bamm! Maurice smasht mir den Ball um die Ohren. Zwei Mal haben wir gespielt, zwei Mal hat er gewonnen. „In der Klosterschule war’s fad“, erklärt er. „Da blieb viel Zeit zum Üben.“ Ach ja, die Zeit. Wir müssen weiter. Draußen geht die Sonne unter. Vamos a la playa!
Die Wellen gehen hoch im Grand Hotel Ressort
Surfer lieben Fuerteventuras Passatwind. Wir sitzen am steinernen Strand vor dem Hotel. Die Wellen klatschen unverwandt gegen die Felsen. Es beginnt zu nieseln. Später wollen wir noch ins Theater und danach vielleicht in die „Plaza Bar“. Das Leben im Magic Life Club ist gar nicht so viel anders als in Wien oder Berlin.
Maurice schaut zum Horizont. Nein, sagt er, 2016 sei kein schlechtes Jahr gewesen. Trotz dieses verdammten 21. April. Die Band hatte sich auf diesen Tag gefreut. Endlich mal den Kopf frei kriegen, eine Pause von der Arbeit an den neuen Songs einlegen. Sie hatten das „Schikaneder Kino“ im 4. Bezirk in Wien gemietet. Dort wollten sie sich einen ihrer Lieblingsfilme ansehen: „Purple Rain“. Zwei Stunden vor Beginn der Vorstellung sitzen sie beim Koreaner, als einer sein Handy checkt: Prince ist tot. „Das war so surreal, dass wir erst mal nicht essen konnten“, sagt Maurice.
Prince Rogers Nelson war ein kleiner Mann, der nach Größe strebte. So wie Bilderbuch aus dem kleinen Österreich in die Welt drängen, seit sie begonnen haben, ihren Pop größer zu denken, als es in ihrer Heimat irgendjemand nach Falco wagte. Prince schenkte ihnen den Sex. Sein Sternenstaub verwandelte vier brave Strickjackenträger in Superfunkyparty-Boys. Heute tanzt Maurice im „Bungalow“-Video mit nacktem Oberkörper an der Stange. Später wird er mir erklären, dass er damit Frauen von ihrer Rolle als Sex-Objekte befreien möchte. Und ich werde zu betrunken sein, um ihm zu sagen, dass das Schwachsinn ist.
Der Kinoabend wurde zur Totenfeier. Jeden, der am „Schikaneder“ vorbeikam, lud man ein, hereinzukommen. Am Ende war der Saal rappelvoll. „Es war richtig feierlich“, erzählt -Pille. „Und es hat Spaß gemacht“, ergänzt Peter. „Man vergisst ja immer, wie lustig dieser Film ist.“ Mike sagt: „Wir haben Prince nie live gesehen.“ Und Maurice tröstet ihn: „So bleibt es wenigstens eine schöne Fantasie.“
Sie reden, wie sie Lieder schreiben. Spielen einander die Bälle zu. Einer hat ein Riff, der Nächste einen Beat. Jede Meinung zählt gleichviel – nur dass Maurice vielleicht ein bisschen mehr davon hat als die anderen. Pitchen, Loopen, Reversen. Ausschneiden, Einfügen, Weiterleiten. So entsteht ein eklektischer Mix aus Klassik und Moderne, wie ihn auch drei Jahre nach Schick Schock keine zweite Band liefert.
Hat sie der Erfolg der Platte unter Druck gesetzt? „Im Gegenteil“, sagt Peter. „Uns ging es ziemlich gut. Wir hatten eine geile Tour gespielt. Wir mussten uns erst wieder selbst in diesen stressigen Prozess des Songschreibens bringen, um ein Album aus uns herauskratzen zu können.“ „Aber das ist ja der gute Stress“, übernimmt Maurice wieder. „Nicht der Stress, den sie dir jeden Tag wie einen KO-Tropfen ins Frühstück träufeln, bis du nur mehr herumrennst und dich sinnlos über Dinge ärgerst. Wenn du dich für die richtigen Dinge stresst, dann ist das eine Liebeserklärung an das, wofür du brennst.“
Am Himmel verblutet sich das Abendrot in die Nacht. Es wird dunkel. Ich frage die anderen, ob sie zurück in die Anlage gehen wollen. Maurice möchte noch etwas bleiben. „Ich hab’ ja noch einen Drink“, sagt er. „Und er ist hier der Maßstab“, murmelt Peter und schmunzelt.
Wir kommen nun zu einem wichtigen Puzzlestück bei der Lösung des Rätsels um Magic Life. Maurice setzt noch einmal an. „Wir alle stecken fest in unserem Mikrokosmos, wo jede kleinste Veränderung als Stress empfunden wird. Dabei ist das doch immer eine Chance. Endlich tut sich was! Magic Life – das könnte Europa sein! Man kann es auch als Beschreibung eines Problems unserer Generation sehen. Metaphorisch gesprochen sitzen wir alle in einem verkackten Magic Life Club. Wir haben vergessen, wie gut es uns eigentlich geht.“ Er trinkt den letzten Schluck. „Und jetzt gehen wir einen Drink holen!“ „Er ist der Maßstab“, sagt Peter und steht auf.
It’s Superfunkypartytime!
Die „Plaza Bar“ ist noch ziemlich leer. Die meisten Gäste essen um diese Uhrzeit zu Abend oder sind auf den Zimmern, um sich frisch zu machen. „Frinks!“, ruft Maurice. Das Wort ist seine Kreation. Eine Abkürzung für free drinks. Maurice ist sichtlich stolz darauf. „Ich wünsche mir, dass das zum Jugendwort wird“, sagt er und dreht sich siegessicher zur Bar: „Long Island with Rum!“ Der Barkeeper schüttelt den Kopf. Not possible. „Ja, Oida, was is’ denn überhaupt possible?“, entfährt es Maurice.
Jemand schlägt Sex On The Beach vor. Diesen Wunsch erfüllt uns der Barmann. Na ja. Die Mischung aus Fruchtsaft und Fusel, die er uns hinstellt, ist dann wohl doch eher eine eigene Kreation. Hoffentlich ist er nicht stolz darauf. Und dann geschieht es: Ein junger Mann spricht Pille an. Ob die Band heute Abend hier spielen wird? Tausende Kilometer von der Heimat entfernt erkannt zu werden, das ist wahrer Fame! Andererseits haben wir den deutschsprachigen Raum ja nie wirklich verlassen … „Mike und Pille können viel besser mit Fans umgehen als ich“, gesteht Maurice. „Ich höre nie auf zu reden. Knips mich an, dann werd’ ich heiß! Da bin ich manchmal Opfer meiner selbst.“
Einige Frinks später. Maurice ist angeknipst und heiß. Mike, Pille und Peter sehen etwas erschlagen aus. Sie sind lange nicht zu Wort gekommen. Wir sind jetzt beim Thema Journalismus. Maurice setzt mir zehn -Finger auf die Brust und beschwört mich.
„Guter Musikjournalismus wird immer wichtiger. Wir Künstler können nur etwas erschaffen. Aber ihr müsst erkennen, wer wirklich wichtig ist.“
Ich nicke und lalle Zustimmung.
„Dire Straits!“, ruft er.
Ich nicke und lalle Zustimmung.
„Nein, da läuft Dire Straits!“
Achso. Ja, stimmt! Aber es klingt nicht nach Dire Straits. Ich drehe mich um. Da steht ein Cowboy auf der Bühne. Schwarze Klamotten, weißer Pferdeschwanz. Das ist Al Vasil. Gerade krault er „Brothers In Arms“ in die Saiten -seiner Paul Reed Smith. „Abbruch!“, befiehlt Maurice. „Wir gehen da jetzt hin.“ In der ersten Reihe – der einzigen Reihe – steht Mike schon und macht große Augen: „Der ist so leiwand“, schwärmt er. Der nächste Song heißt „Sultans Of Swing“.
Langsam kommt Leben ins „Plaza“. Pärchen lehnen an den Tischen und wippen selig zur Musik. An der Bar lerne ich Claudia kennen. Sie ist hier Stammgast. Jedes Jahr wieder Fuerteventura. „Ich bin 53 und verheiratet“, erklärt sie. „Glaubst du, ich mach’ Autostopp nach Indien?“ Wer all die jungen Leute vor der Bühne sind, will Claudia wissen. „Der eine sieht aus wie ein Hampelmann“, sagt sie. „Aber der mit den Löckchen ist ganz süß.“
Mittlerweile ist die halbe Bilderbuch-Crew im „Plaza“. Al Vasil hat eine gemeine Version von „Sex On Fire“ im Repertoire. Maurice shaked
angetan den Austropopsch. Nach dem Song winkt er den Sänger zu sich herunter. Ob Mike vielleicht auf der Gitarre spielen könnte? Nur einmal, ganz kurz? „He’s really good!“ Leider kennt Al Vasil da gar keinen Spaß. Not possible.
Die Eindrücke des restlichen Abends verschwimmen. Da ist Angie Shahira Pohl mit den brünetten Locken, die mir eine Zigarette anbietet. Angie hat in Paris gelebt. Angie ist von Wien gelangweilt. Angie überlegt, nach Berlin zu ziehen. Seit drei Jahren ist sie die Style-Beraterin von Bilderbuch. Sie hat einen Koffer mit Kleidungsstücken von jungen Designern wie Julian Zigerli oder Hvala Ilija mitgenommen. Morgen wird sie den Koffer beim Videodreh öffnen und unfassbare Outfits hervorzaubern. Da ist Peter, der mir erzählt, dass sein Vater im Gesangsverein singt und erst jetzt langsam begreift, warum Peter sein Leben der Musik, dieser Musik widmet. Da sind die -silbernen Kügelchen, die sich ab und zu aus Pilles Braids lösen und über den Fußboden sausen. Da ist Mike, der behauptet, er hätte einen Schulfreund, der noch viel besser Gitarre spielt. Als Kinder haben die beiden am liebsten Guns N’ Roses gehört, und diesen Juli werden sie Unsummen bezahlen, um Axl, Slash und Duff endlich zusammen auf einer Bühne zu sehen. Und da ist Maurice, der auf ein älteres Pärchen zeigt, das Arm in Arm Richtung Hotelzimmer geht. „Die beiden werden jetzt Fernschauen. Das ist auch Magic Life, verstehst du?“
Wir kugeln unter Palmen herum und lassen uns für Instagram fotografieren. Al Vasil geht vorbei, den Gitarrenkoffer in der Hand. Er sieht kurz herüber. Dann verschwindet er kopfschüttelnd in der Nacht.
Wild Life, nimm deinen Lauf!
Heute werden sie Maurice begraben. Irgendwo in den Dünen soll er verscharrt werden. Die Augen von Antonin Pevny leuchten, als er beim Frühstück davon erzählt. Mit seinem buschigen Schnauzer sieht er aus wie Super Mario. Gestern hat er die Insel nach passenden Locations für den Videodreh abgesucht, als der Regen kam. Beinahe hätte ihn ein Sturzbach mitgerissen.
Antonin hat all die knallbunten Videos inszeniert, ohne die der Erfolg von Bilderbuch nicht möglich gewesen wäre: „Plansch“, „Maschin“, „OM“. Wie schon bei „Bungalow“ teilt er sich auch diesmal die Regie mit der Fotografin Elizaveta Porodina.
Deren Freundin Jasmina Al Zihairi übernimmt die weibliche Hauptrolle. Sie hat schon im „Tatort“ mitgespielt, ein paar Sachen fürs Fernsehen gemacht. Nächstes Jahr muss das Ganze größer werden, sagt sie, und meint ihre Schauspielkarriere. „Heute wirst du neben Maurice vergraben“, informiert sie Elizaveta. „Oh“, sagt Jasmina.
Mike und Maurice flanieren durch epische Frühstückslandschaften. Hier ist das Brot aufgetürmt, dort wird das Obst gestapelt. Die Band ist seit 6.30 Uhr auf den Beinen und sieht topfit aus. „Ich bin so locker drauf“, sagt Pille. „Ich glaube, da ist was in dem Essen drin.“ „Anders hältst du es hier ja gar nicht aus“, meint Peter. Abfahrt. In drei Kleinbussen rücken wir aus. Die Stimmung im Citroën Jumpy ist beschwingt. Vorne gackern Elizaveta und Christoph über Maurice’ Witze. Hinten staunen Pille und Peter mit lautem „Ooooh“ und „Aaaah“ über die Landschaft.
Wir fahren vorbei am südlichen Costa Calma zum Aussichtspunkt Mirador astronómico de Sicasumbre. Dort wird Angie ihren Koffer öffnen. Maurice wird sich in einen langen, weißen Daunenmantel hüllen. Die Boombox am Ohr, wird er zum Beat von Robert Palmers „Addicted To Love“ einen Hügel hinauftänzeln. Und dort oben werden sie dann die ersten Szenen des „Baba“-Videos drehen.
Die Wolkendecke bricht auf. Sonnenstrahlen fallen herab. Im Rückspiegel verschwindet das Magic Life mit all seinen Bequemlichkeiten, und vor uns liegt leeres Land. Da ist nichts. Und alles. Anything goes. Das Abenteuer beginnt da, wo die Komfortzone endet. Ich glaube, das ist es, was mir Maurice sagen wollte.
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