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Cyber-Grooming: Sexuelle Belästigung im Netz: Keine Ausnahme, sondern die Regel | Frankfurter Neue Presse

Cyber-Grooming: Sexuelle Belästigung im Netz: Keine Ausnahme, sondern die Regel REBECCA RÖHRICH WhatsApp, Snapchat und Co. Schon Zehnjährige sind rege in der digitalen Welt unterwegs. Das überfordert nicht nur Eltern, sondern auch Lehrer. Medienkompetenz fehle an allen Ecken und Enden, so Experten. Sie fordern, dass Medienkompetenz in der Lehrerbildung Pflicht wird. Foto: Lino Mirgeler (dpa)

Heute ist wieder einer dieser Tage. Günter Steppich, Fachberater für Jugendmedienschutz am Staatlichen Schulamt Wiesbaden muss noch mal in eine Schule fahren und sich mit einem Vater treffen. Dessen 13-jährige Tochter werde auf Instagram massiv von einem anderen Nutzer sexuell belästigt. Weil diese auf die anzüglichen Nachrichten des Unbekannten nicht mehr antwortet, sucht die Person den Onlinekontakt über eine Freundin der Schülerin. Das Kind erzählt den Vorfall ihrem Vater, der bei Fachberater Steppich Hilfe sucht. Solche Fälle seien die Regel, nicht die Ausnahme, sagt der Pädagoge. Cyber-Grooming nennt sich das und kann als sexuelle Belästigung von Minderjährigen in der digitalen Welt übersetzt werden.

Medienkompetenz soll Pflichtfach werden

„Mittlerweile erlebt fast jedes Kind sexuelle Ansprache im Netz", sagt Günter Steppich. Dann kommt es darauf an, richtig damit umzugehen. Der Lehrer für Englisch und Sport wünscht sich deshalb dringend Veränderungen in der Lehrerausbildung. „Medienkompetenz sollte bereits im Lehramtsstudium Pflicht sein", sagt er. Die Lehre vom richtigen Umgang mit sozialen Netzwerken, den eigenen Daten und digitaler Software, ist in keinem Bundesland ein Pflichtfach im Lehramtsstudium. In der Aus- und Fortbildung steht es den Lehrern frei, in welche Bereichen sie sich fortbilden. Auch die GEW fordert mehr Fortbildungen für Lehrer zum Thema Digitalisierung und Medienkompetenz.

Youtube auf Platz 1

Konkrete Zahlen, wie oft es zu dieser Art digitaler Belästigung im Netz kommt, gibt es indes nicht. Man kann sich jedoch dem Status Quo annähern. 89 Prozent der Zwölf- bis 19-Jährigen sind täglich online. Das hat der Medienpädagogische Forschungsverbund Südwest in seiner aktuellen Studie festgestellt. Mit bereits 37 Prozent bei den Mädchen und 30 Prozent bei den Jungen rangiert das Soziale Netzwerk Instagram auf Platz drei der beliebtesten Angebote, gleich hinter WhatsApp und Youtube. Erlaubt ist die Nutzung dieser Social-Media-Plattformen laut deren AGB allerdings erst ab 13 Jahren.

Wenn die neue EU-Datenschutz-Grundverordnung Ende Mai in Kraft tritt, wird es erst ab 16 Jahren erlaubt sein. An der Realität ändert das aber wahrscheinlich nichts. Und eine theoretische und vor allem auch praktische Aufklärung über den richtigen Umgang mit Social-Media findet indes nur selten statt - weder in der Schule, noch zu Hause.

Täter nutzen Anonymität

Smartphone-Spiele wie Clash of Clans und Quiz-Duell sowie Social-Media-Anwendungen wie Snapchat oder Instagram sind die ideale Anbahnungsplattformen, um in Kontakt mit Minderjährigen zu treten. Denn: Sie haben eine Chat-Funktion und potentielle Täter können sich dort problemlos auch anonym anmelden. Steppich sieht die Verantwortung für Medienerziehung einerseits eindeutig bei den Eltern, andererseits sieht er die große Mehrheit damit ebenso klar überfordert. Schulische Unterstützung wäre daher hilfreich, Verkehrserziehung werde schließlich auch durch die Polizei unterstützt, doch dafür sind Lehrkräfte aktuell nicht ausgebildet.

Angst vor Sanktionen

„Bei Cyber-Grooming handelt es sich um den sogenannten einfachen sexuellen Missbrauch", sagt Annett Eigenbrodt. Die Hauptkommissarin arbeitet beim Hessischen Landeskriminalamt in der Ansprechstelle Kinderpornografie. Die digitalen Übergriffe im Netz fallen somit in ein breites Spektrum an Tatbeständen. Eine differenzierte Erhebung der Cyber-Grooming-Fälle sei deshalb kaum möglich, so die Hauptkommissarin. Statistiken würden auch nur bedingt die Realität widerspiegeln, so Eigenbrodt, denn viele Kinder würden sich ohnehin nicht trauen, ihren Eltern von den sexuellen Übergriffen zu erzählen - sei es aus Scham oder aus Angst vor Sanktionen. Hier sei Medienkompetenz gefragt: Vonseiten der Eltern aber auch vonseiten der Lehrer. Und die fehle häufig. Eigenbrodt wünscht sich deshalb, dass die Medienkompetenz ein fester Bestandteil der Lehrerausbildung wird.

Einmal im Jahr bietet das Hessische Kultusministerium eine dreitägige Fortbildung für Lehrer an, in der rund 30 Lehrer zu Jugendmedienschutzberatern ausgebildet werden. Angesichts von knapp 1900 hessischen Schulen ist der Weg zur Vollversorgung allerdings weit.

Situation ist außer Kontrolle

Ohnehin hinke man in der rasanten Entwicklung des digitalen Social-Media-Marktes hinterher. Während Eltern und Lehrer sich gerade bei Facebook orientiert haben, sind die Schüler schon längst in den Messangerdienst WhatsApp abgewandert, häufig ohne Wissen der Eltern. Problematische Inhalte, die über eine dieser Apps empfangen wurden, werden von den Kindern häufig in den anderen Apps geteilt. „Diese Situation gerät immer mehr außer Kontrolle", sagt Steppich. Eltern und Lehrkräfte müssten sowohl Präventionsarbeit leisten als auch wissen, wie mit digitalen Vorfällen kompetent umzugehen ist.

Social-Media: Jeder Zweite erwägt Abmeldung

Die Meinung teilt der Pädagoge mit der Hauptkommissarin beim LKA. Regelmäßig veranstalte das LKA deshalb Medienschutztage an den Schulen, doch es seien nicht nur die Schulen in der Pflicht. Nicht alle, aber sehr viele Eltern würden ihre Kinder in der digitalen Welt alleine lassen, so Eigenbrodt. Unter diesen Umständen seien alle Fortbildungsangebote nur ein „Tropfen auf den heißen Stein."

Soziale Netzwerke im Fokus

Und auch das Hessisches Kultusministerium sieht den Handlungsbedarf. „Das nehmen wir sehr ernst", sagt Tanja Miehle, Referatsleiterin für Medienbildung im Hessischen Kulturministerium auf Anfrage dieser Zeitung. Regelmäßig informiere man die Schulen, es gebe umfangreiche Handreichungen, Unterrichtsmaterialien und vielfältige Qualifizierungsangebote für Lehrkräfte über die landesweite Fortbildungsreihe hinaus. Auch stünden ein Landeskoordinator und in den Staatlichen Schulämtern Ansprechpartner für Fragen des Jugendmedienschutzes zur Verfügung „Wir sind bestrebt, das Unterstützungsangebot für die Schulen permanent weiterzuentwickeln. Dabei haben wir vor allem das Thema Soziale Netzwerke im Blick. ", sagt Miehle auf Anfrage unserer Zeitung.

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