Wenn er am Montagmorgen um 07:05 Uhr Flug BA902 nimmt, ist Magnus Becher schon jetzt, zwei Jahre vor dem endgültigen Austritt Großbritanniens aus der EU, nicht allein. Um diese Uhrzeit transportieren die Fluggesellschaften im Halbstunden-Takt Menschen von London nach Frankfurt und umgekehrt. Da ist so manche Busverbindung in ländlicheren Regionen schlechter. Die meisten Passagiere tragen Hemd, Bluse, Krawatte, Kostüm. Gleich nach dem Start werden die Tablets, Smartphones und Notebooks gezückt und gearbeitet. 80 Minuten dauert der Flug in der Regel. Wenn BA902 landet, drängen die Hemden, Blusen, Kostüme und Krawatten hinaus. Schnell zum nächsten Termin. Mittlerweile weisen die Flugbegleiter per Lautsprecheransage die Passagiere darauf hin, an ihre elektronischen Geräte zu denken. Denn die werden vor lauter Geschäftigkeit gerne im Flugzeug vergessen.
40 Kilometer mit dem Rad Frankfurt, deine Pendler: Jürgen Emig macht Strecke
Wenn der Volkswirt Jürgen Emig morgens in seinem Büro ankommt, hat er bereits 20 Kilometer in den Beinen. Denn er fährt von Schöneck-Kilianstädten nach Frankfurt mit dem Rad. Jeden Tag. Im Frühling, Sommer, Herbst und Winter.
clearingIm Juni 2016 stimmten 52 Prozent der Briten für den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union. Magnus Becher war, wie die meisten Londoner, dagegen. Wählen durfte er nicht. Zur gleichen Zeit begann er für seinen Arbeitgeber zwischen London und Frankfurt zu pendeln. Montags nach Frankfurt, donnerstags zurück nach London, freitags Homeoffice, also arbeiten von zu Hause. Becher ist Sales-Director, das heißt, er verkauft europaweit Dienstleistungen seines Unternehmens, gewinnt Geschäftskunden, zieht neue Aufträge an Land. In diesem Beruf war er schon immer viel in der Welt unterwegs. Die Flüge zwei Mal in der Woche seien aber trotzdem eine neue Dimension, findet der 32-Jährige.
Ein Deutscher in LondonMagnus Becher. Großer Typ, ein bisschen blass, gut gekleidet, Hosenträger an der maßgeschneiderten Anzughose - ziemlich britisch eben. Aber eigentlich ist er Deutscher, geboren in der Kleinstadt Neuwied bei Koblenz. Seit rund zehn Jahren lebt er in London, hat dort seinen Master in Investment Banking and Securities gemacht. In der britischen Hauptstadt hat er auch seine Frau kennengelernt, sie haben eine gemeinsame Tochter. Wenn er redet, hat er einen ungewöhnlichen Singsang in der Stimme, wie Menschen es haben, die oft Englisch sprechen.
Damals, im Sommer 2016, bekam er das Angebot eines amerikanischen IT-Dienstleisters, in der Europazentrale des Unternehmens in Frankfurt, zu arbeiten. Das Arbeitsgebiet fand er spannend, also willigte er ein. Aber unter einer Bedingung: Er macht den Job nur, wenn er seinen Hauptwohnsitz in London nicht nach Frankfurt verlagern muss. Ein Umzug in die Mainmetropole sei keine Option. Das Unternehmen sagte zu und zahlt seither seine wöchentlichen Flüge.
Frankfurt gilt als provinziellMit dieser Einstellung zu Frankfurt ist Magnus Becher keine Ausnahme. Viele Arbeitnehmer in London, deren Arbeitsplatz dank Brexit auf das europäische Festland verlagert werden soll, fürchten Frankfurt als neue Heimat. Zu klein, zu provinziell, zu wenig international. Viele wünschen sich Paris oder Dublin als neues Herz der europäischen Finanzwelt. Doch jüngst zeigte eine Auswertung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: Vor allem die US-amerikanische Finanzindustrie zieht es nach Frankfurt. Das Pendeln dürfte für viele Londoner also eine ernsthafte Option werden.
Nackenkissen als orthopädische Maßnahme„Die deutsche Mentalität ist sehr unbeweglich, ernst und oft wenig innovativ", sagt Becher. Die Briten seien aufgeschlossener, entspannter, mit einer „Let's give it a go - Mentalität" - vom besseren Nahverkehr in London ganz zu schweigen. Er lebt sehr gerne in England. Zwei Mal die Woche reist er deshalb die knapp 800 Kilometer im Düsenjet, 11.000 Meter über der Erde. Was nach Jet-Set-Leben klingt, ist in erster Linie anstrengend. Der 1,90 große Mann zwängt sich dann in einen Flugzeugsitz, die Knie an den Sitz des Vordermann gequetscht, legt sein Nackenkissen um und versucht zu schlafen. „Ich verbringe mein Leben im Wechsel zwischen Sitzen und Schnellschritt", sagt Becher. Fünf bis sechs Termine am Tag, viele Kundenessen, sehr wenig Bewegung. Für Sport bleibt keine Zeit.
Am Wochenende ist Familienleben angesagt. Freunde besuchen, Ausflüge mit Frau und Tochter und manchmal auch arbeiten. Sein Nackenkissen ist bei diesem Lebensstil so etwas wie eine verzweifelte orthopädische Maßnahme. Und wenn er über den Wolken zwischen Arbeit und Zuhause hin und her rast, denkt er schon manchmal: „Warum manche ich das eigentlich?". Die Antwort ist aber ziemlich einfach. Die Arbeit macht ihm Spaß.
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