SPIEGEL ONLINE: Der Ausbau der Windenergie lahmt, der Kohleausstieg sorgt für Streit, das Klimaschutzziel für 2020 wird verfehlt. Warum tun wir uns so schwer mit der Energiewende?
Grunwald: Wir haben lange Zeit gedacht, dass es genügt, die Atom- und Kohlekraftwerke durch erneuerbare Energien und die Benzin- und Dieselfahrzeuge durch Elektroautos zu ersetzen. Und alles andere bleibt, wie es ist. Alte Technik raus, neue Technik rein - so einfach funktioniert das aber nicht. Wir haben die Komplexität der Energiewende massiv unterschätzt.
SPIEGEL ONLINE: Was meinen Sie genau?
Grunwald: Da ist zum einen die technische Komplexität. Wir müssen Stromangebot und -nachfrage auch dann im Gleichgewicht halten, wenn der Anteil der wetterabhängigen Wind- und Solarenergie sehr hoch sein wird. Ich bin aber optimistisch, dass unsere Ingenieure und Forscher das hinkriegen werden.
Die viel größere Herausforderung ist etwas, woran man anfangs gar nicht gedacht hat: Die Energiewende bringt starke gesellschaftliche Veränderungen mit sich. Sie stellt etablierte Rollen, Regeln und Geschäftsmodelle in Frage, verlangt neue Verhaltensweisen und den Abschied von alten Gewohnheiten. Unser Leben ist an die Energie- und Mobilitätsinfrastruktur angepasst.
Wenn wir diese Systeme ändern, müssen wir uns auch selbst ändern. Also zum Beispiel hinterfragen, wie wir Energie nutzen. Wie schwer das fällt, sehen wir an der fehlenden Bereitschaft zum Umstieg auf die Elektromobilität, die ja wegen der begrenzten Reichweite und der langen Ladezeiten ein ganz anderes Nutzerverhalten verlangt.
SPIEGEL ONLINE: Das klingt nach einer großen gesellschaftlichen Aufgabe. Kann die Politik diesen Prozess überhaupt steuern?
Grunwald: Wenn die Regierungen finanzielle Anreize für ein bestimmtes Verhalten bereitstellen, hilft das natürlich. Was dagegen nicht funktioniert, ist missionarisches Predigen, etwa in der Art: Ihr müsst alle Strom sparen!
Vielversprechend sind aber Konzepte wie das "Nudging", also ein sanftes Anstupsen, das uns immer wieder erinnert, dass Energie kostbar ist und damit eine Verhaltensänderung auslöst. Die Energiewende ist also nicht nur eine Aufgabe für Ingenieure, sondern auch für Psychologen und Sozialwissenschaftler.
SPIEGEL ONLINE: Meinungsumfragen zeigen, dass die grundsätzliche Zustimmung zur Energiewende immer noch sehr hoch ist. Überrascht Sie das?
Grunwald: Nein, denn die Energiewende ist eine Antwort auf den Klimawandel. Und dass etwas gegen die steigenden CO2-Emissionen getan werden muss, wissen die allermeisten Menschen in Deutschland sehr genau. Allerdings folgt aus dieser prinzipiellen Unterstützung der Energiewende nicht zwangsläufig, dass die Bürger Windräder oder Stromleitungen in ihrer Nachbarschaft eine tolle Sache finden.
SPIEGEL ONLINE: Aber die Proteste sind in vielen Regionen ja schon ziemlich vehement. Wie passt das zusammen?
Grunwald: Wenn jemand Sorge hat, dass sein Haus wegen eines Windparks in der Nähe an Wert verliert, ist es verständlich und legitim, dass er sich gegen den Bau wehrt. Dazu kommt aber oft auch noch eine andere, tief in der Psyche verwurzelte Ursache: ein Gefühl der Entfremdung, des Verlustes von Heimat. In manchen Regionen, etwa in Brandenburg, haben die Windräder ganz dramatisch das Bild der Landschaft verändert. Das trifft manche Menschen ins Mark.
SPIEGEL ONLINE: Es scheint oft, als hätten die Menschen früher anders auf Infrastrukturprojekte reagiert.
Grunwald: Ja, tatsächlich hat die Umweltbewegung in den vergangenen Jahrzehnten den Stellenwert der Natur in der Gesellschaft verändert. In den Sechzigern hat man eine Autobahn durch einen Wald noch als Zeichen des Fortschritts verstanden, ab den Achtzigern dagegen als zerstörerisch.
Auch, weil der Landschaftsbegriff der Deutschen letztlich doch stark von der Romantik geprägt ist: Das Ideal einer schönen Landschaft besteht aus vorindustriellen Bildern, Technik kommt darin nicht vor.
SPIEGEL ONLINE: Kann man den Konflikt zwischen Energiewende und Heimatbegriff befrieden?
Grunwald: Es ist wichtig, den Widerspruch überhaupt erst einmal zum Thema zu machen. Meist wird er als Scheinproblem abgetan, über das nicht gesprochen werden muss. Für viele Menschen ist dieses Problem aber sehr real. Zudem sollten die Anwohner so früh wie möglich in die Planung neuer Windparks oder Stromleitungen eingebunden werden. Allerdings ist auch klar, dass sich die Interessen damit längst nicht immer ausgleichen lassen. Dann ist gegebenenfalls auch eine finanzielle Kompensation nötig.
SPIEGEL ONLINE: In der Geschichte gab es viele gesellschaftliche Umbrüche, die durch eine Transformation der Energieversorgung ausgelöst wurden, etwa durch den Ersatz von Holz durch Kohle. Können wir daraus etwas für die Energiewende lernen?
Grunwald: Bei jedem Umbruch dieser Art gibt es nicht nur Gewinner, sondern auch Verlierer. Etablierte Verhältnisse werden in Frage gestellt, Berufsbilder verschwinden, Menschen müssen sich neu orientieren, manche müssen umziehen - die Gesellschaft wird durchmischt. Diese Dynamik schafft Fortschritt, bedeutet für viele Menschen aber auch eine Bedrohung. Sie dürfen damit nicht allein gelassen werden.
SPIEGEL ONLINE: Konkret?
Grunwald: Es ist ganz wichtig, dass für die deutschen Braunkohlereviere Zukunftsprogramme aufgesetzt werden, die dem Niedergang der Kohleindustrie etwas Neues, Positives entgegenstellen. Genauso wichtig ist aber auch, dass die Politik ehrlich sagt: Es wird Verlierer geben. Zu Beginn der Energiewende wurde das versäumt. Damals wurde so getan, als wenn alle Bürger vom Umbau des Energiesystems profitieren werden. Das ist nicht der Fall.