Ralf Nestler

Wissenschaftsjournalist, Wandlitz

1 Abo und 0 Abonnenten
Artikel

Süsse Träume - die Wissenschaft der Schokolade

Schokolade herzustellen, war immer schon eine Wissenschaft für sich. Nun soll auch der Kakao für perfekten Geschmack aus dem Labor kommen – und der Zuckeranteil sinken.

Das leichte Knacken zwischen den Zähnen, das Schmelzen auf der Zunge, das Feuerwerk an Aromen. Der Verzehr eines guten Stücks Schokolade ist für viele ein betörender Mo­ment. Und wie so oft ist dieser mit viel Mühe verbunden. Es braucht hochwertige Zutaten, viel Erfahrung und tiefes Ver­ständnis von Chemie und Physik, um eine Schokolade zu fertigen, die wirklich glücklich macht.

Massgeblich ist unter anderem die Kakaobutter, ein Gemisch von sogenannten Tri­glyceriden. Diese können in sechs verschiedenen Kristallformen vorliegen, wobei fünf für Verdruss sorgen. Entweder bescheren sie eine niedrige Schmelztemperatur, was zu klebrigen Fingern führt, oder einen wachsigen Geschmack. Am liebsten haben Chocolatiers und Geniesser eine Kristallform, die als «Beta V» bezeichnet wird. Damit flüssige Schokolade beim Erstarren viele Beta-V-­Kristalle bildet, muss sie im richtigen Masse bewegt und sorgsam abgekühlt werden.

Es könnte aber auch viel einfacher gehen. Das behaupten nun zumindest Forscher der University of Guelph in Kanada. Man müsse der geschmolzenen Kakaobutter lediglich rund ein Tausendstel Phospholipide – genauer Phosphatidylcholin und Phosphatidylethanolamin – beimischen und sie dann rasch auf 20 Grad Celsius abkühlen. So erhalte man eine Schokolade mit «optimaler Mikrostruktur, Oberflächenglanz und mechanischer Festigkeit», wie das Team um Alejandro Marangoni im Fachmagazin «Nature Communications» schreibt.

Kündigt sich hier gerade eine Revolution in der Welt der Schokolade an? Der Schweizer Schokoladenhersteller Lindt & Sprüngli reagiert zurückhaltend. «Nach unserer Erfahrung gibt es bis zur Anwendung in der Produktion noch einige Hürden zu überwinden», erklärt eine Sprecherin. Üblicherweise werde in der Grundlagenforschung mit ­vereinfachten Modellen gearbeitet. «Bei der Praxisanwendung kommen viele Faktoren hinzu, etwa die Art der verwendeten Kakaobutter, die Verwendung anderer Fette oder die Verfügbarkeit der Rohstoffe.» Auch der Nahrungsmittelriese Nestlé verweist auf den schwierigen Weg vom Versuchslabor bis zur Fertigungsstrasse und dämpft die Euphorie.

Erich Windhab von der ETH Zürich forscht seit zwanzig Jahren an der perfekten Schokolade, von grundlegenden Untersuchungen der Kristalle bis zum Transfer in die Industrie. Er sagt: «Dass Phospholipide die Kristallisation verbessern, haben wir bereits 2010 gezeigt.» Den empirisch arbeitenden Chocolatiers sei die Wirkung schon länger vertraut. Traditionell geben sie rund 0,3 Prozent Lecithin in die Schokoladenmasse, um sie fliessfähiger zu machen. «Lecithin ist ein Gemisch von Phospholipiden, diese sind also bereits heute in der Schokolade drin», erklärt der Experte. «Neu ist, dass die kanadischen Forscher zwei bestimmte Arten extrahiert und hinzugefügt haben.»

Dass dieser Ansatz jemals industriell genutzt wird, bezweifelt Windhab. Die Extraktion sei einerseits teuer. Zum anderen müssten die Hersteller zwei neue Inhaltsstoffe auflisten, die bisher nicht im Standardrezept für Schokolade stünden. Gut möglich, dass dafür eine gesonderte, zumeist sehr aufwendige Zulassung nötig ist. Hersteller wie Lindt & Sprüngli dürften daher weiter jene Methode nutzen, die Windhab und ­Kollegen von ihm ursprünglich entwickelt hatten. Dabei werden einige Kristalle vorab erzeugt und als «Impfkeime» in die flüssige Schokoladenmasse gegeben – auf dass sich dort möglichst viel Kakaobutter in der gewünschten Konfiguration anordnet.

Heute fokussiert die Schokoladenforschung an der ETH auf «Genuss ohne Reue», also weniger Fett und Zucker bei gleichem Geschmack. Die Wissenschafter versuchen das unter anderem mit Mikroluftblasen zu erreichen, die kleiner als ein Zehntel ­Millimeter sind. «Das fühlt sich im Mund an wie Mousse au Chocolat und reduziert die Kaloriendichte enorm», sagt Erich Windhab. Und nein, man isst dabei nicht die doppelte Menge, denn bei cremiger Konsistenz genügt den Menschen eine kleinere Portion.

Ein anderer Ansatz, um den Zuckeranteil zu senken, sind «Süsse-Inseln», die mit einer Mikrodüse auf die Schokolade gespritzt werden. «Das gibt gleich zu Beginn einen Süsse-Boost, der etwas anhält», erläutert Windhab. Der Effekt: In den folgenden fünf bis zehn Sekunden werde weniger zuckerhaltige Nahrung nicht als weniger süss empfunden. Gemeinsam mit Physiologen und Ingenieuren sucht der Forscher nun nach der idealen Formel für die Grösse und die Verteilung solcher Süsse-Inseln.

An der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) in Wädenswil wird an einer besonders nachhaltigen Schokolade geforscht. Sie erübrigt den teilweise umweltschädlichen Anbau und den langen Transport der Kakaobohnen. Stattdessen gedeiht der Schokoladenrohstoff im Labor. Er basiert auf Bohnen aus Puerto Rico. Diese werden angeritzt und bilden an den Wundrändern einen Schorf, Kallus genannt. «Zellen daraus geben wir nach einer Vorkultur in einen Tank mit einem Rührwerk, dazu ein Nährmedium mit Mineralstoffen, Aminosäuren sowie ­Phytohormonen», erläutert der Lebensmittelprozessentwickler Tilo Hühn. «Nach 28 Tagen können wir die kultivierte Zellmasse ernten und daraus Schokolade machen.»

Es gehe ihnen nicht darum, die Kakao­bauern ihrer Einkünfte zu berauben, sagt er. «Aber wir müssen mit unseren Ressourcen verantwortungsvoller umgehen und die Wertschöpfungsnetzwerke regenerativ umgestalten.» Kakao aus dem Labor, «gefüttert» mit Extrakten aus Zuckerrüben und Leguminosen aus zertifiziertem Anbau aus der Region, sei allemal günstiger als Rohstoffe von anderen Kontinenten, für die Wälder weichen müssten und die mit Pestiziden besprüht würden. «Zum Ausgleich werden die Bauern in Südamerika an den Einkünften aus der Zellkultur-Schokolade beteiligt», erklärt Tilo Hühn.

Im nächsten Schritt soll das Verfahren industrielle Massstäbe annehmen. «Für die Zellkultur braucht es nicht so viele spezielle Apparate», sagt Hühn. «Das geht in einer modernen Brauerei.» In zwei Jahren, schätzt er, ist die Technologie so weit. Hinzu kommt noch die Zulassungsprozedur, die das In-vitro-Lebensmittel durchlaufen muss. Der ZHAW-Forscher ist optimistisch, dass sich die Mühe lohnt. «Wenn wir das schaffen, könnte das ein Innovationsschub für die ganze Lebensmittelbranche sein.»

Erschienen am 26. September 2021.
Zum Original