Ralf Nestler

Wissenschaftsjournalist, Wandlitz

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Artikel

Neue Wälder braucht das Land

Der Wald leidet, Forscher wollen ihm bei der Selbstheilung helfen. Doch das ist gar nicht so einfach

Zwischen fahlen Kiefernstämmen und Büschen von Traubenkirschen ist endlich der hölzerne Pfahl zu erkennen. Jeanette Blumröder, ohnehin schon flott unterwegs, wird noch schneller. Knack-knack setzt sie Schritt um Schritt über dürre Äste am Boden, bis der Pfahl erreicht ist. In Knöchel- und Brusthöhe sind daran Sensoren montiert, die aller zehn Minuten Temperatur und Luftfeuchtigkeit messen. Die Forscherin von der Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde nimmt den Rucksack ab, holt Kabel und Laptop hervor, um die Daten der vergangenen Wochen zu sichern.

Eine wilde Zackenlinie erscheint auf dem Bildschirm. „Bis zu 39 Grad ging es hier rauf, an zwei weiteren Tagen bis 37 Grad“, sagt sie. Auch jetzt am frühen Mittag ist es in diesem Teil des Reiersdorfer Forsts schon ungemütlich stickig und deutlich wärmer als der „warme Sommertag“, den der Wetterbericht für die Uckermark angekündigt hatte.

Das hängt mit der Waldstruktur zusammen, erklärt Blumröder. „Durch die lichten Kronen gelangt viel Sonnenstrahlung bis zum Boden, sie erwärmt den Wald und treibt die Verdunstung an, es wird trockener.“ Tatsächlich hat selbst das Moos brüchige Stängel und die Heidelbeeren hängen vertrocknet am Strauch. Stünden statt der 80-jährigen Kiefern hier Laubbäume, etwa Buchen, gäbe es mehr Schatten. Zudem würde die Verdunstungskühlung der Blätter – Fachleute sagen Evapotranspiration – die Temperatur noch etwas mehr drücken. Um bis zu acht Grad unterscheiden sich die mittleren Tageshöchsttemperaturen im Sommer, je nachdem, ob man in Kiefernbeständen misst, oder in alten Laubmischwäldern. Das geht aus den bisherigen Daten hervor, die Blumröder im Norden Brandenburgs erhoben hat. Sie arbeitet für das Projekt „Gläserner Forstbetrieb“, bei dem erforscht wird, wie eine nachhaltige Waldwirtschaft gelingen kann. Eine wesentliche Rolle spielt das Mikroklima, wie gut das Ökosystem mit steigenden Temperaturen und abnehmenden Niederschlägen zurecht kommt.

In diesem Forst mit seinen lichten Kiefern, wie in so vielen Wäldern Brandenburgs, wird klar: Hitze und Trockenheit treffen sie besonders. Wenn für das gesamte Bundesland je nach Szenario bis 2100 eine Temperatursteigerung von bis zu vier Grad im Schnitt erwartet wird, dürften Bestände wie diese hier ungleich stärker betroffen sein. Können sie das überleben?
„Die Natur findet immer eine Lösung“, sagt Blumröder. „Die Frage ist, ob diese den Menschen gefällt.“ In den Mittelgebirgen beispielsweise sterben gerade massenhaft Fichten. Gestresst von der Trockenheit haben Borkenkäfer leichtes Spiel. Zu Tausenden werden die Stämme aus den Wäldern geholt, die Holzpreise sind rapide gefallen. In Neuanpflanzungen schafft es je nach Standort teils nur jeder zwanzigste Setzling, Wurzeln zu schlagen, der Rest vertrocknet. Stattdessen wuchern Brombeeren.

Mit einem Waldumbau könnten solche Totalausfälle verhindert werden, erklären Forstleute, Umweltschützer und Politiker seit Jahren. Doch wie dieser im Detail aussehen soll, darüber gehen die Meinungen auseinander. Verschiedene Baumarten unterschiedlichen Alters sollen den Wald diversifizieren und damit widerstandsfähiger machen. „Wenn einige Fichten vom Käfer befallen sind, bleiben genug andere Bäume übrig, um das System stabil zu halten“, erläutert Blumröder. Nur, wie macht man aus einer Monokultur einen vitalen Mischwald?

„Die Gefahr ist groß, dass man mit gut gemeinten Eingriffen Schaden anrichtet“, sagt die Forscherin. Beispiel: Werden zu viele alte Bäume entnommen, kommt zwar mehr Licht zum Boden und hilft jungen Pflanzen, am besten verschiedener Arten, in die Höhe zu wachsen. Zumindest in der Theorie. „Aber durch die Baumfällungen und den Abtransport mit schwerer Technik, werden der Boden weiter verdichtet und die Feinwurzeln geschädigt“, sagt sie. „Die Löcher im Kronendach lassen die Temperatur am Boden höher steigen, der ohnehin gestresste Wald wird durch die Hitze zusätzlich belastet.“ Am Ende könnten die gut gemeinten kleinen Lücken im Bestand einen weitreichenden Zerfall herbeiführen. Blumröder favorisiert behutsame Eingriffe, lieber weniger tun als mehr.

Selbst wenn das behutsame Öffnen gelingt, müssen die Forstleute entscheiden, ob sie ausschließlich die jungen Bäume am Standort hochkommen lassen oder ob sie andere Arten hinzufügen, um die erwünschte Diversifizierung zu beschleunigen. Noch dringlicher ist die Frage für die 285.000 Hektar, die nach Angaben des Bundeslandwirtschaftsministeriums so geschädigt sind, dass sie wiederbewaldet werden müssen: Was wird gepflanzt?

Die Diskussion spielt sich zwischen zwei extremen Positionen ab. Die eine heißt „Weiter so“ und bringt wieder Fichten und Kiefern in Monokultur. Die andere sieht vor, schon heute hitze- und trockentolerante Gewächse etwa aus dem Mittelmeerraum anzupflanzen, auf dass der Wald auch in den nächsten Jahrzehnten eine Chance hat. Andreas Bolte hält beide Positionen für ungeeignet. Dass es nicht so weitergehen könne wie in den Jahrzehnten zuvor, sei klar, sagt der Leiter des Instituts für Waldökosysteme Eberswalde, das zum bundeseigenen Johann Heinrich von Thünen-Institut gehört. Er setzt auf Mischwälder statt Monokulturen. „Was die Baumarten betrifft, so gibt es keine eindeutige Lösung, auch weil wir nicht wissen, wie das Klima in 50 Jahren tatsächlich sein wird“, sagt er. Ausprobieren statt Ausschließen, lautet sein Credo. Grundsätzlich kämen alle Arten infrage, die hier bereits etabliert sind. „Außer Fichten im Tiefland, das geht wirklich nicht gut.“ Auch Bäume aus der Nachbarschaft wie die Ungarische Eiche oder die Orient-Buche vom Balkan seien denkbar.

„Im Zuge des Klimawandels werden solche Arten wahrscheinlich in unsere Breiten einwandern“, sagt er. Was allerdings dauern würde, da Tiere, die die Samen weitertragen, nur einen begrenzten Radius haben und die Landschaft mit Feldern, Siedlungen und Straßen die Ausbreitung zusätzlich hemmt. „Also können wir die Wanderung doch unterstützen und jene ansiedeln, die in 50 bis 100 Jahren ohnehin hier einen Lebensraum finden.“ Ein weiter Ansatz besteht darin, südliche Varianten heimischer Bäume einzuführen. „Untersuchungen an Buchen haben gezeigt, dass die Vertreter aus trockenen Regionen wie Nordspanien oder Griechenland besser mit Wassermangel zurechtkommen, auch die sind für uns interessant.“

Selbst fremde Arten aus entfernten Gebieten wie der Libanon-Zeder schließt Bolte nicht kategorisch aus. Obwohl die Gefahr besteht, dass solche sich rasch ausbreiten und andere Spezies verdrängen wie es Traubenkirsche oder Robinie tun. „Die sind wirklich sehr invasiv“, sagt der Forscher. „Aber nehmen wir Esskastanie, Douglasie oder Küsten-Tanne, die haben ein geringes Potenzial zu schaden und erscheinen günstig, weil sie mit Trockenheit besser zurechtkommen.“

Mit Blick auf die langen Zeiträume in der Forstwirtschaft – es dauert Jahrzehnte bis Holz erntereif ist – müsse nun umfassend untersucht werden, welche Baumarten das Ökosystem Wald stabilisieren und welche es schwächen, sagt Bolte. Längst nicht jeder Kandidat hält, was sich die Förster von ihm versprechen. „Um Eberswalde wurden bereits vor 100 Jahren viele Arten versuchsweise gepflanzt, nur rund zehn Prozent erwiesen sich als ökonomisch und ökologisch sinnvoll, der Rest fiel durch.“ Das passiert auch heute noch. Viele mediterrane Eichen, die mit Blick auf den Klimawandel in Süddeutschland angepflanzt wurden, seien im harten Winter 2010 erfroren, erzählt der Forscher und wirbt einmal mehr für seinen Ansatz: Ausprobieren und nicht von vornherein ausschließen.

Ob die Waldbesitzer und Förster diese Offenheit teilen, ist eine andere Frage. Auch aktuell werden Fichten- oder Kiefernplantagen neu angelegt. Das Argument „Das hat bisher funktioniert und wird weiter funktionieren“ ist häufiger zu hören.

„Forst ist eine Traditionsbranche, neue Ansätze haben es schwer“, sagt Sven Herzog von der TU Dresden. „Jahrzehntelang galt es als richtig, dass der Mensch tief in das System Wald eingreift, nun soll er zurückhaltender sein, dieser Wandel fällt vielen schwer.“ Das spürt auch er in seinem Forschungsgebiet, Wildtierökologie und Jagdkunde. Der Konflikt ist alt: Viele Tiere bedeuten viel Verbiss. Gerade jetzt, wo es auf die nachwachsende Generation von Bäumen ankommt, wird äsendes Wild als zusätzliche Belastung wahrgenommen. „Dann wird schnell gefordert, viel zu schießen“, sagt Herzog. Doch das stünde dem naturnahen Wald entgegen, der habe durchaus hohen Besatz.

Mit klugen Jagdstrategien ließe sich mancher Konflikt lösen, sagt er. Rotwild, so zeigten Forschungen, ist viel standorttreuer als man lange dachte. „Selbst wenn bei einer großen Drückjagd viel geschossen wird, ist es gut möglich, dass ausgerechnet die Hirschfamilie in einem besonders sensiblen Teil des Waldes nicht erwischt wird und dort weiter frisst.“ Eine gezielte Bejagung in besonders geschädigten Waldbeständen würde mehr bringen. „Zum Ausgleich muss es allerdings auch Flächen geben, wo das Wild sich aufhalten und fressen darf“, fordert Herzog. „Zur Not müssen einzelne Pflanzen umzäunt werden, was meist auch nicht teurer ist als große Jagden zu veranstalten.“

Unterm Strich bleiben aber weitere Kosten für Forstbetriebe, die sich ohnehin fragen, ob der Verkauf des Holzes die Aufwendungen der vorangegangen Jahrzehnte wird ausgleichen können. Derzeit sind die Preise wegen des Überangebots sehr niedrig, in einigen Jahren kann es schon anders aussehen. „Grundsätzlich ist noch genug Holz da“, sagt Denny Ohnesorge, Hauptgeschäftsführer des Hauptverbands der Deutschen Holzindustrie. „Aber wir sehen, dass praktisch alle Baumarten mit Schäden zu kämpfen haben, damit ist nicht mehr langfristig planbar, wann welche Menge erntereif ist und angeliefert wird.“ Das Auf und Ab bei der Holzproduktion werde weitergehen und setze der Branche, die teure Sägewerke und Spanplattenfabriken auslasten will, ebenso zu.

Eine andere Frage ist, ob der steigende Laubholzanteil, den der Waldumbau bringt, überhaupt sinnvoll verwertet werden kann – die aus Klimaschutzgründen fragwürdige Verbrennung ist hier ausgenommen. „Bisher ist für die Papierherstellung und auf dem Bau viel Nadelholz gefragt“, sagt Ohnesorge. Es beginne ein Umdenken, mittlerweile würden einzelne Unternehmen auch Buchenholzträger fertigen. Doch die würden doppelt so viel kosten. „Wenn so ein Träger dann über der Zimmerdecke verschwindet, ist keiner bereit, den höheren Preis zu zahlen.“

Der Verbandsvertreter sieht eher Chancen, Laubholz als Rohstoff zu nutzen. So würde beispielsweise eine Firma Buchenfasern für Textilien verwenden, was bisher aber nur eine Nische sei, da es für den Massenmarkt zu teuer ist. „Je mehr Plastik verbannt wird, umso mehr sind biobasierte Kunststoffe gefragt“, sagt er. „Die Entwicklung wird noch einige Jahre dauern, aber ich sehe da viel Potenzial für konkurrenzfähige Produkte.“

Jeanette Blumröder, die wie Ohnesorge viele Bestände im In- und Ausland gesehen hat, kommt zu einer anderen Einschätzung. Sie ist skeptisch, ob der Wald auch künftig die Mengen liefern wird, die man von ihm erwartet. „Wenn ich mir anschaue, wie viele Waldbrände wir zuletzt hatten, wie viel der Trockenheit und Schädlingen zum Opfer fällt, würde ich für nichts eine Garantie übernehmen.“ Es sei falsch, den Wert eines Wald nur daran festzumachen, wie viel Holz er liefere. Der Wald leiste viel mehr: Er kühlt die Landschaft, puffert Temperaturextreme ab, sorgt für Grundwassererneuerung, speichert Kohlenstoff, liefert Sauerstoff, unterstützt mit seinen vielen Lebensräumen die Biodiversität und hilft nicht zuletzt Menschen, Ruhe und Erholung zu finden. „Darum ist es so wichtig, zuerst dieses wertvolle Ökosystem zu erhalten“, sagt Blumröder. „Wenn am Ende Ende noch Holz abfällt, ist es gut, aber das ist nicht gesetzt.“

Erschienen im Tagesspiegel am 02.09.2020.

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