Rainer Dr. Werning

Sozial- und Politikwissenschaftler & freier Publizist, Frechen-Königsdorf

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Auf schmalem Grat

Südkoreas früherer Generalstaatsanwalt Yoon Suk Yeol hat am Dienstag vor der Nationalversammlung in der Hauptstadt Seoul seinen Amtseid als neuer Präsident abgelegt. Tausende Menschen waren bei der aufwendigen und bislang teuersten Zeremonie ihrer Art anwesend. Begleitet wurde sie von marschierenden Armeekapellen, Soldaten in Festkleidung und einem 21-Schuss-Salut.

Vorrangiges Anliegen der neuen Regierung sei es, so der 61jährige Yoon in seiner Antrittsrede wörtlich, eine Nation wiederherzustellen, die "ganz und gar dem Volk gehört". Dies solle auf "der Grundlage der freien Demokratie und der Marktwirtschaft" geschehen. Als neuer Präsident wolle er den Forderungen der Zeit entsprechen, damit das Land seine Verantwortung und Rolle innerhalb der "internationalen Gemeinschaft" erfülle.

Die Covid-19-Pandemie, Lieferkettenprobleme, den Klimawandel, Nahrungs- und Energieknappheit sowie geringes Wirtschaftswachstum und politische Polarisierung bezeichnete er als "multiple Probleme", die gegenwärtig wegen einer "Krise der Demokratie" nicht bewältigt werden könnten. An die Adresse Nordkoreas gerichtet, erklärte Yoon, er wolle Pjöngjang mit einem "kühnen Plan" helfen, die Wirtschaft der Volksrepublik wiederzubeleben und anzukurbeln, sollte deren politische Führung ernsthafte Schritte in Richtung Denuklearisierung unternehmen.

Da Yoon die Präsidentschaftswahl mit nur äußerst knapper Mehrheit gewann und die Opposition immer noch über die Mehrheit im Parlament verfügt, stießen diese wohlfeilen Avancen auf Skepsis, die schon sehr bald in offenen Widerstand münden könnte. Während seiner Kampagne hatte der konservative Yoon nämlich eine harte Gangart gegenüber Nordkorea signalisiert und sogar einen möglichen Präventivschlag für den Fall einer unmittelbaren und direkten Bedrohung seitens Pjöngjangs angedeutet. Unvergessen sind die bellizistischen Töne, die Yoon während einer Präsidentschaftsdebatte im Februar anschlug, als er wörtlich erklärte: "Frieden kann nur aufrechterhalten werden, wenn es eine starke Abschreckung gibt. Ein Krieg kann nur verhindert werden, wenn man sich die Fähigkeit zu einem Präventivschlag sichert und den Willen zeigt, diesen auch durchzuführen. Wie wir in der Ukraine gesehen haben, können die nationale Sicherheit und der Frieden eines Landes nicht mit Papier und Tinte geschützt werden."

Es war keine Überraschung, dass die nordkoreanische Seite prompt reagierte und Yoon bereits vor seinem Amtsantritt als "proimperialistisch" und "US-hörig" kritisierte. Pjöngjang hat in diesem Jahr bereits 15 Raketenstarts durchgeführt und im März mit dem Abschuss einer Interkontinentalrakete sein selbstauferlegtes Moratorium für Langstreckenraketentests nach mehr als vier Jahren beendet. Ausgerechnet am Tag von Yoons Amtsantritt, am 10. Mai, erschien Generalleutnant Scott Berrier, Direktor des US-Verteidigungsnachrichtendienstes, auf dem Capitol Hill in Washington und erklärte während einer Anhörung der Streitkräfte des Senats zur Untersuchung weltweiter Bedrohungen: "Wir gehen davon aus, dass Nordkorea seine nuklearen, raketengestützten und militärischen Modernisierungsbemühungen im Jahr 2022 fortsetzen wird, um seine strategische Abschreckung zu stärken und den militärischen Fähigkeiten der amerikanisch-südkoreanischen Allianz entgegenzuwirken."

Im Gegensatz zu seinem liberalen Vorgänger, Moon Jae In, der immerhin eine aktive innerkoreanische Politik betrieben hatte und kritisch auf Distanz zum Nachbarland und der früheren Kolonialmacht Japan geblieben war, strebt Yoon eine gezielte Annäherung an Tokio an. In den vergangenen Jahren war es unter anderem wegen des Streits um ehemalige Zwangsprostituierte - euphemistisch als "Comfort Women" bezeichnet - der Kaiserlich-Japanischen Arme während des Zweiten Weltkriegs zu einem heftigen Schlagabtausch zwischen Seoul und Tokio gekommen. Dieser eskalierte zeitweilig dermaßen, dass gegenseitige Boykottmaßnahmen ergriffen wurden.

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