Rainer Dr. Werning

Sozial- und Politikwissenschaftler & freier Publizist, Frechen-Königsdorf

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„Schicksals"-Wahlen in den Philippinen: Der Marcoses bleierne Erblast (Teil I von II)

Keine andere Familie - präziser: kein anderer politischer Clan - hat seit der Gründung der Republik der Philippinen am 4. Juli 1946 so dauerhaft und tiefgreifend das politische Geschehen in dem südostasiatischen Inselstaat bestimmt wie die aus der nördlichen Ilocos-Region stammende Marcos-Familie. Ferdinand E. Marcos sen. konnte sich von Ende 1965 bis zum Februar 1986 an der Macht halten, wobei er von September 1972 bis Januar 1981 qua landesweit verhängtem Kriegsrecht regierte. [ 1] Am 9. Mai nun will sein Sohn, Ferdinand Marcos jr., besser bekannt als „Bongbong", das väterliche Erbe antreten und hofft, als 17. Präsident des Landes in die Annalen der Geschichte einzugehen. Zwar gilt auch in den Philippinen der Grundsatz, dass jeder vor dem Recht gleich sei. Doch die Marcoses genossen aus vielfältigen Gründen stets das Privileg extraterritorialer Immunität jenseits von Recht und Gesetz. Der erste Teil einer zweiteiligen Analyse von Rainer Werning. Vorbemerkung

Vor reichlich 36 Jahren - vom 22. bis zum 25. Februar 1986 - dominierte „People Power" das Stadtbild der Metropole Manila und besiegelte unter weltweiter Anteilnahme das Ende der Marcos-Diktatur. Mit Hilfe des Militärs und unter US-Ägide garantierte die neue Präsidentin, Corazon C. Aquino, eine Rückkehr zur Eliten-Demokratie - letztlich gegen das Volk.

Im August 1983 war Marcos' schärfster politischer Rivale, der Oppositionspolitiker Benigno S. „Ninoy" Aquino (Ehemann der späteren Präsidentin), nach seiner Rückkehr aus zeitweiligem Asyl in den USA auf dem Rollfeld des Flughafens von Manila erschossen worden. Seitdem verging kaum ein Tag, an dem sich nicht irgendwo in wie außerhalb der Hauptstadt Protest regte. Diesem schlossen sich zunehmend auch Mitglieder der Mittel- und Oberschichten an. Bis diese als „Parlament der Straße" in die Landesgeschichte eingegangene, breite antidiktatorische Protestbewegung schließlich am 22. Februar 1986 zum „letzten Gefecht" blies. Drei Tage später, am Abend des 25. Februar, hatte sie ihr Ziel erreicht. Die euphorisch als Demokratie-Ikone und Hoffnungsträgerin gefeierte Witwe des einstigen Marcos-Herausforderers, Corazon C. Aquino - liebevoll und allerorten kurz „Cory" genannt - war nunmehr die neue Chefin im Präsidentenpalast Malacañang.

Marcos - engster Verbündeter der USA und deren Hoffnungsträger in Südostasien

Jäh endete somit die Ära eines Mannes, der langjährig als Washingtons verlässlichster Verbündeter in Südostasien zur Zeit des Vietnamkrieges und in der Ära des Kalten Krieges galt. Als Ferdinand E. Marcos Ende 1965 in den Malacañang-Palast zu Manila einzog, beseelten den jungen Staatschef zwei Dinge. Innen- und wirtschaftspolitisch wollte er seinen Wahlkampfslogan „We shall be a great nation again" („Wir werden wieder eine große Nation sein") schnellstmöglich umsetzen. Außen- und sicherheitspolitisch ging es ihm darum, der einstigen Kolonialmacht USA (1898-1946) treu zur Seite zu stehen und Washingtons Hegemonialstellung in Südost- und Ostasien mit der fortgesetzten Bereitstellung der seinerzeit weltweit größten US-Stützpunkte außerhalb des nordamerikanischen Kontinents, der Subic Naval Base und dem Clark Air Field, aufrechtzuerhalten. [ 2]

Eine gezielte Anreizpolitik für ausländisches Kapital sollte dem vorwiegend agrarisch ausgerichteten, durch Feudalstrukturen geprägten Land den Anschluss an die westlichen Industriestaaten ermöglichen - quasi im Zeitraffer. An US-amerikanischen politik- und wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten ausgebildete Kader standen bereit, sich Marcos anzudienen, wie denn auch seine Regierung verstärkt auf die Expertise solcher Technokraten zurückgriff. Exportorientierung, lautete beider Credo, führe zu erhöhten Kapitalinvestitionen, schaffe Arbeitsplätze und Wohlstand, der schließlich allen zugutekäme.

Für Großgrundbesitzer und Geschäftsleute böte sich eine vielversprechende Chance, in Verbindung mit ausländischem Kapital das zur allseitigen Entwicklung notwendige Know-how zu erwerben. Dabei dienten Anrainer wie Singapur, Hongkong und Südkorea als Vorbilder. Diese Strategie bedurfte, um praktisch umgesetzt werden zu können, verlässlicher Steuerungsinstanzen. Zentralisierung und Konzentrierung staatlicher Macht(apparate) waren die Folge. Wirtschaftliche Planungsbehörden (wie beispielsweise die Nationale Wirtschafts- und Entwicklungsbehörde, NEDA) entwarfen konkrete Schritte zur „nationalen Erneuerung", während politisch und militärisch ein Prozess in Gang gesetzt wurde, um die neue Wirtschafts- und Entwicklungsstrategie gegen mögliche Störungen (Protest, Streiks, Widerstand) zu feien.

Der Ausbau der Infrastruktur war ebenfalls ein zentraler Bestandteil der Aufstandsbekämpfungsstrategie, welche ab Ende 1966 seitens der US-amerikanischen Entwicklungsbehörde (USAID) initiiert wurde. Diese erwirkte die Aufstockung der philippinischen Militär- und Polizeieinheiten sowie Ausbildungskurse für philippinische Offiziere an US-Militärakademien. Zusätzlich wurden civic-action-Programme entworfen, welche in Vietnam „verfeinert" wurden. Dabei handelte es sich um bürgernahe Projekte (z.B. Verteilen von Lebensmitteln und Medikamenten sowie (zahn-)ärztliche Reihenuntersuchungen), um „die Herzen und Hirne der Bevölkerung zu gewinnen" - vor allem die der bäuerlichen Bevölkerung im Hinterland, wo großangelegte Infrastrukturmaßnahmen (Bau von Straßen, Brücken, Häfen) geplant waren.

In Manila war bis zu Beginn der 1970er Jahre ein eigens für Aufstandsbekämpfung gedrilltes und vom US-amerikanischen Office for Public Safety (OPS) unterstütztes Hauptstadtkommando (METROCOM) entstanden. Damit verfügte das Marcos-Regime über schlagkräftige Instrumente, um politischem Protest jedweder Art „effizient" zu begegnen. Denn es regte sich bereits zu der Zeit massiver Widerstand gegen die ersten Auswirkungen der neuen Wirtschaftspolitik aus den Reihen städtischer Transportarbeiter, von Studierenden, Kleinunternehmern sowie Teilen der nationalen Bourgeoisie. Darüber hinaus waren zwischenzeitlich mit der Kommunistischen Partei der Philippinen (CPP) und ihrer Guerilla, der Neuen Volksarmee (NPA), sowie mit der im Süden des Landes für Unabhängigkeit kämpfenden Moro Nationalen Befreiungsfront (MNLF) militärische Formationen entstanden, welche die staatlichen Sicherheitskräfte herausforderten.

Kriegsrecht - Repression - (bewaffneter) Widerstand

Um die innenpolitischen Rahmenbedingungen der Wirtschaftspolitik zu sichern und die Philippinen angesichts des sich abzeichnenden US-Debakels in Vietnam nicht, wie von US-Strategen befürchtet, als weiteren „Dominostein" umkippen zu lassen, verhängte Marcos im September 1972 landesweit das Kriegsrecht. In US-Kongresshearings hieß es dazu später, es sei im Falle der Philippinen mehr um die Wahrung strategischer und Sicherheitsinteressen der USA als um die Wahrung von Demokratie und Menschenrechten auf dem Archipel gegangen. Eine Position, die der frühere CIA-Chef und damalige US-Vizepräsident George Bush sen. noch Anfang 1981 anlässlich seiner Staatsvisite in Manila ausdrücklich unterstrichen hatte, als er in einem Toast seinen Gastgeber Marcos ausdrücklich „für sein Festhalten an demokratischen Prozessen" dankte!

Das Kriegsrecht bescherte Marcos eine beträchtliche Machtfülle, die er weidlich nutzte, um politische Widersacher auszuschalten und hinter Gitter zu sperren, Gewerkschaften und freie Medien zu verbieten und gewaltsam gegen alles vorzugehen, was sich seinem Herrschaftsanspruch widersetzte. Eine Militarisierung von Staat und Gesellschaft war die Folge. Allein das Militär wurde von 1972 bis Mitte der 1980er Jahre von 62.000 auf annähernd 285.000 Mann aufgestockt. Ebenso wurde die Integrierte Nationalpolizei/Philippinische Constabulary (Vorläuferin der heutigen Philippinischen Nationalpolizei, PNP) ausgebaut und es entstand eine Vielzahl paramilitärischer Bürgerwehren und bewaffneter, stramm antikommunistisch orientierter religiöser Sekten.

Des Weiteren wurden Offiziere an regierungseigenen sowie ausländischen Unternehmen beteiligt. Zu Beginn der 1980er Jahre rekrutierten sich über die Hälfte aller höheren Präsidialbeamten für regionale Entwicklungsvorhaben aus den Reihen des Militärs. Der gleichzeitig zur gültigen Militärstrategie erhobene Oplan Katatagan (Operationsplan Stabilität) zielte vorrangig auf die Zerschlagung der Infrastruktur und Logistik der „kommunistischen Subversion" und „muslimischer Sezessionsbestrebungen" im Süden des Landes. Integrale Bestandteile des Oplan Katatagan bildeten die Errichtung „strategische Wehrdörfer", Salvaging (außergerichtliche Hinrichtungen verdächtigter „Rebellen") [ 3], das Durchkämmen ganzer Wohnviertel und Häuserblocks, in denen „Aufständische" vermutet wurden, die gezielte Bombardierung bestimmter Gebiete, um NPA-Guerilleros potenzielle Basen beziehungsweise Rückzugsgebiete zu „verwehren" sowie Massaker, Folter und Brandschatzung. Nach Schätzungen des Philippinischen Roten Kreuzes wurden auf diese Weise von 1972 bis Mitte der 1980er Jahre 5,7 Millionen Menschen, über ein Zehntel der Bevölkerung, Opfer von Vertreibungen. Betroffen waren vorwiegend städtische Arme, Slumbewohner, Bauern, ethnische Minderheiten und Moslems im Süden. [ 4]

Staatsterror - Aquino-Mord (1983) - unaufhaltsame politische Polarisierung

All diese Maßnahmen zielten vorrangig darauf ab, der seinerzeit weltweit schnellstwachsenden NPA-Guerilla (mit annähernd 30.000 Kombattanten) den Nährboden zu entziehen. Als Teil des 1973 im Untergrund formierten Oppositionsbündnisses der Nationalen Demokratischen Front der Philippinen (NDFP), die zu der Zeit etwa eine Million Mitglieder hatte und über eine Massenbasis von ca. zehn Millionen Menschen verfügte, operierten NPA-Verbände in 62 von damals insgesamt 73 Provinzen - mancherorts bereits in Bataillonsstärke. Neurekrutierungen hatten ein Ausmaß angenommen, dass eine unter Vorsitz des US-amerikanischen Senators David Durenburger erstellte Studie des Geheimdienstausschusses des US-Senats befürchtete, die NPA könnte innerhalb von drei Jahren ein „strategisches Patt" herstellen.

Ideologisch verbrämte Marcos das Kriegsrecht, das er als „konstitutionellen Autoritarismus" verstanden wissen wollte, mit dem gleichzeitigen Beginn einer „Neuen Gesellschaft": Isang Bansa, Isang Diwa (Eine Nation, ein Geist) hieß fortan der Regime-Slogan.

Die Ermordung des führenden Oppositionspolitikers und schärfsten Marcos-Rivalen „Ninoy" Aquino auf dem Rollfeld des Flughafens in Manila (21. August 1983) war der entscheidende Auslöser einer sich rapide zuspitzenden sozialen, politischen und wirtschaftlichen (Legitimations-)Krise des Regimes, von der es sich nicht mehr erholte. Bis zu dessen endgültigem Sturz im Frühjahr 1986 verging kein Tag ohne Protestkundgebungen, Demonstrationen und Streiks. Schroffe gesellschaftliche Polarisierung schlug um in einen Prozess der fortschreitenden Isolierung von Marcos und seinen „cronies", womit seine Getreuen aus der Wirtschafts-, Finanz- und Geschäftswelt gemeint waren.

Ein qualitativ neues Element in der wachsenden Anti-Marcos-Front bildete fortan das städtische Bürgertum. Lange Zeit hatte es sich politisch abstinent verhalten und auf einen friedlichen Wandel gehofft. Mit den Schüssen auf seine Galionsfigur Aquino war diese Option geschwunden. Aquino, Spross einer begüterten Grundbesitzerfamilie, war ein gewiefter Politiker, der seine politische Blitzkarriere in Zentralluzon (nördlich von Manila) begonnen hatte. Bis Mitte der 1960er Jahre waren er und Marcos in der Liberalen Partei politisch vereint, bis Letzterer ins Lager der oppositionellen Nationalistischen Partei ausscherte und als deren Präsidentschaftskandidat bei den Wahlen im Jahre 1965 das Rennen machte.

Aquinos eigene präsidiale Ambitionen wurden durch die Verhängung des Kriegsrechts jäh durchkreuzt. Acht Jahre lang verbrachte er - wiewohl unter privilegierten Bedingungen - im Gefängnis, bis Marcos ihn wegen einer Bypassoperation in die USA ausreisen ließ. Nach dreijährigem Selbstexil kehrte er nach Manila zurück, beflügelt von der Hoffnung, gemeinsam mit dem politisch umtriebigen Kardinal Jaime Sin, dem Erzbischof von Manila und Oberhaupt der katholischen Kirche im Lande, Marcos am Grünen Tisch zur nationalen Ver- und Aussöhnung umzustimmen, um die „wachsende kommunistische Gefahr" zu bannen. Opposition bedeutete in Aquinos Sicht einen politischen Elitentausch, keinen Strukturwandel.

Eine massive Kapitalflucht infolge des Aquino-Mords erfasste die Metropole Manila. Das Regime musste ein zeitweiliges Schuldenmoratorium verkünden, während die Weltbank und der Internationale Währungsfonds (IWF) immer kräftiger ihre Daumenschrauben anzogen. Um überhaupt noch dringend benötigte Überbrückungskredite zu bekommen, musste sich Manila zur strikten Einhaltung des IWF-Diktats im Rahmen diverser Strukturanpassungsprogramme verpflichten.

Doch anstelle einer vom IWF prognostizierten Exporterhöhung sanken die Ausfuhrerlöse und gleichzeitig verringerten sich die Einfuhren, was angesichts der extremen Importlastigkeit im Verarbeitungssektor zu immer mehr Firmenschließungen führte. Allein 1984 mussten 1.500 Betriebe Bankrott anmelden und die Werkstore schließen. Im Großraum Manila grassierte die Arbeitslosigkeit. Die Situation auf dem Lande war um keinen Deut erträglicher. 1985 verloren über 200.000 Saisonarbeiter auf den Zuckerrohrfeldern der Insel Negros in den Zentralphilippinen ihre Einkommensquelle, was dort zu einer akuten Hungersnot führte. Die Zuckerpreise waren dermaßen in den Keller gesackt, dass nicht einmal die Produktionskosten gedeckt werden konnten. Derweil schnellte die Auslandverschuldung in die Höhe und klomm auf umgerechnet annähernd 29 Mrd. US-Dollar. Zu Beginn von Marcos' Amtszeit hatte diese gerade einmal die Zwei-Milliarden-Dollar-Marke erreicht.

Gewieftes US-Krisenmanagement

Durch solche Ereignisse alarmiert, bereiste seit Herbst 1983 - mit Ausnahme von US-Präsident Ronald Reagan - alles, was in Washington Rang und Namen hatte, die Philippinen, um vor Ort das Ausmaß der Unruhen zu studieren. Konkreter Ausdruck des Bestrebens, diesen Einhalt zu gebieten und der „kommunistischen Guerilla den Teppich unter den Füßen wegzuziehen", war die Schaffung der Intergovernmental Task Force on the Philippines. Hierbei handelte es sich um ein noch im selben Jahr aus der Taufe gehobenes, behördenübergreifendes Gremium aus Repräsentanten des Pentagon, State Department, der CIA, des US-Schatzamtes, des Weißen Hauses und internationalen Bankiers. Diese Runde sollte eine vis-à-vis Manila klar abgestimmte Politik formulieren.

Doch in dieser Runde tauchten Unstimmigkeiten auf, die zeitweilig eine konsistente Philippinen-Politik erschwerten. Verkürzt ließen sich die Friktionen wie folgt charakterisieren: Das Finanzministerium, der IWF sowie das Weiße Haus waren primär an der „wirtschaftlichen Gesundung" Manilas interessiert und konzentrierten sich erst in zweiter Linie auf die Überwindung der politischen und Legitimationskrise des Regimes. In einem wie auch immer gearteten Aufwertungsversuch von Marcos erblickte hingegen das State Department ein politisch kontraproduktives Unterfangen. Angesichts der gesellschaftlichen Widersprüche, so die Einschätzung seiner Beamten, gliche das dem Bemühen, „Zahnpasta zurück in die Tube zu pressen".

Das State Department favorisierte die „gemäßigte" bürgerliche Opposition mit Salvador H. Laurel als Galionsfigur und Generalleutnant Fidel V. Ramos, einem an der US-Militärakademie West Point ausgebildeten Korea- und Vietnamkriegsveteranen. Dieser hätte eigentlich gemäß Senioritätsprinzip und militärischem Ehrenkodex zum Generalstabschef befördert werden müssen. Doch diesen Posten hatte Marcos kurzerhand einem Verwandten und dem früheren Chef seiner Leibgarde, General Fabian C. Ver, zugeschanzt. So musste sich Ramos damit begnügen, lediglich als Vize des Marcos-Intimus zu fungieren.

Eine umfassende ökonomische, politische und militärische Lageeinschätzung legte das State Department schließlich im November 1984 vor. Diese 26 Seiten umfassende Studie trug den Titel „U.S. Policy Towards the Philippines" und diente US-Präsident Ronald Reagan als Grundlage für seine im Januar 1985 unterschriebene Nationale Sicherheitsdirektive. Diese beinhaltete ein Bündel von 16 „hohe Priorität genießenden Veränderungen", um die Gefahr zu bannen, dass eine Radikalisierung in den Philippinen „die gesamte Region destabilisiert". Sibyllinisch hieß es in diesem Dokument: „ Marcos ist Teil des Problems, notwendigerweise aber auch ein Teil dessen Lösung."

Vorgezogene Wahl - Revolte im Militär - „Rosenkranzrevolution" mit „Rückenwind der Mutter Gottes"

Im Klartext: Marcos war demnach nur noch taktisch haltbar. Von strategischem Interesse - im Sinne einer „geordneten Nachfolgeregelung" - war indes eine Allianz aus weniger korrupten, auf Effizienz bedachten Militärs unter Ramos und Politikern aus dem gemäßigten bürgerlichen Spektrum. Während Washington zu der „Stimme seines Herrn" auf Distanz ging und sein langjähriger Protegé durch den eigens nach Manila gereisten CIA-Chef William Casey und Reagans Sonderbeauftragten, Senator Paul Laxalt, im Mai beziehungsweise Oktober 1985 zu vorgezogenen Präsidentschaftswahlen (snap elections) gedrängt wurde, blieb Marcos nichts anderes übrig, als sich diesem Oktroi zu beugen. Ende November 1985 kündigte er in Interviews mit US-Fernsehsendern den 7. Februar 1986 als Termin solcher Wahlen an. So wich man in Washington auffällig von der zuvor kategorisch verfolgten Linie ab, wonach es galt, seine Vasallen - wie beispielsweise zuvor in Nikaragua oder im Iran - bis zur bitteren Neige zu unterstützen.

Das Endergebnis der Wahl spielte letztlich keine Rolle mehr, als sich just am 22. Februar mit Verteidigungsminister Juan Ponce Enrile und dem damaligen stellvertretenden Generalstabschef, Generalleutnant Fidel V. Ramos zwei vormals engste Vertraute des Präsidenten von eben diesem abwandten und sich in den jeweiligen Hauptquartieren von Polizei und regulären Streitkräften verschanzten. Lange bevor das Wort „Wendehals" kreiert und hoffähig wurde, waren es eben Enrile und Ramos, die als dessen prototypische Verkörperungen Geschichte schreiben sollten.

In jenen Tagen glich Manila einer gigantischen Bühne eines noch gigantischeren politischen Open-Air-Festivals. Mehr noch: Als römisch-katholische Bastion in Südostasien, wo tiefe Religiosität vielfach mit hoch dosiertem Aberglauben ein wundersames Amalgam bildet, sahen sich zahlreiche himmlisch fühlende Festivalbesucher so sehr von Rosenkränzen, Wundern und der Jungfrau Maria umgeben, dass Letzterer zu Ehren im Jahre 1989 eigens ein Schrein nebst überdimensionaler Statue eingeweiht wurden. So verstand es sich quasi von selbst, dass die Tage des Marcos-Sturzes im Lande selbst alternierend als „Rosenkranz-", „Wunder-" und/oder „People-Power-Revolution" in die Annalen eingingen. Da das Land auch noch in dieser (End-)Phase des Kalten Krieges der verlässlichste und bedeutsamste Brückenkopf Washingtons in der Asien-Pazifik-Region war, verwunderte es nicht, dass weit über tausend eingejettete Korrespondenten wochenlang für eine breite internationale Medienberichterstattung sorgten.

Bizarre Wende - von hartgesottenen Marcos-Vertrauten zu umjubelten Volkshelden

Enrile, publicityträchtig in Kampfuniform auftretend, seine Finger am Abzug einer Uzi-Maschinenpistole, war mit Marcos seit dessen erstem Wahlsieg 1965 durch dick und dünn gegangen. Bevor er Verteidigungsminister wurde, war er Chef der Zollbehörde sowie Finanz- und Justizminister und diente dem Marcos-Regime als Korsettstange. Als dessen enger Kumpan, von 1972 bis 1981 gar oberster Kriegsrechtsverwalter, hatte er, sich vom Adoptivkind zum Juristen zielstrebig nach oben arbeitend, Abermillionen aus einem von der Kokosnussindustrie und Holzeinschlag zusammengezimmerten Wirtschaftsimperium gescheffelt. Ramos, der sich gern in Machomanier mit Zigarrenstummel im Mundwinkel präsentierte, Absolvent der US-Militärakademie in West Point, Korea- und Vietnamkriegsveteran sowie passionierter Fallschirmspringer, stand mit der Integrierten Nationalpolizei/Philippinischen Constabulary, der Vorläuferin der heutigen Philippine National Police, einer Truppe vor, die wegen ihrer Menschenrechtsverletzungen wiederholt national wie international scharf in die Kritik geraten war.

Über den katholischen Rundfunksender Radio Veritas, der mit Geldmitteln aus den USA, seitens des Opus Dei [ 5] und von bundesdeutscher Seite durch die CSU-nahe Hanns-Seidel-Stiftung gesegnet war, rief der medial gewandte Kardinal zu einem Massenspaziergang der besonderen Art auf. Treffpunkt: die beiden Hauptquartiere der Nationalpolizei und der Streitkräfte (Camp Crame und Camp Aguinaldo) entlang Manilas Hauptverkehrsader Epifanio de los Santos Avenue (EDSA). Jene Orte, wo sich Ramos und Enrile mit einer stündlich angewachsenen Schar von Meuterern und Gefolgsleuten verbarrikadiert hatten und dort mit einem Angriff der nach wie vor loyal zu Marcos stehenden Generalität rechneten.

Doch ein solcher Angriffsbefehl aus dem Präsidentenpalast blieb aus. Zu groß war mittlerweile die auf und entlang der EDSA versammelte Menschenmenge, dass ein gewaltsames, gar offen militärisches Eingreifen ein Massaker ungeheuerlichen Ausmaßes bedeutet hätte. Welch' ein Umschwung und Gesinnungswandel! Da waren die staatlichen Ordnungshüter jahrelang im Volksmund hinter vorgehaltener Hand als buwaya (Krokodile) bezeichnet worden, zu denen man tunlichst Distanz wahrte. Und nun suchte das Volk eben die Nähe zu diesen „Krokodilen", ja beschenkte sie nebst Blumen und Rosenkränzen mit Speis' und Trank, die noch Stunden zuvor als knallharte Vertreter eines vermaledeiten Despoten gegolten hatten. Camp Crame und Camp Aguinaldo, einst Schaltzentralen gefürchteten Staatsterrors, glichen nunmehr einem Heerlager der Friedfertigkeit. In einer solchen Situation wollten die über Nacht zu Rebellen mutierten Soldaten nicht schießen. Und die zerbröckelnde Phalanx der Marcos-Getreuen konnte nicht (mehr) schießen.

Unzeremonieller Abgang ...

Es waren schließlich US-Militärhubschrauber, die die Marcos-Familie im Schutz der Dunkelheit des 25. Februar 1986 aus dem Präsidentenpalast in die nördlich von Manila gelegene US-Luftwaffenbasis Clark Air Field ausflogen. Von dort aus erfolgte der Weitertransport mit einer US-Militärmaschine ins Exil auf Hawaii. Dabei hatte sich Marcos noch am Morgen desselben Tages auf dem Balkon des Malacañang-Palasts am trüben Pasig-Fluss von Claqueuren als Wahlsieger feiern lassen. Doch der langjährige Magier der Macht, einst bewundert, jetzt geschmäht, hatte ausgespielt. Sein Gesicht - aschfahl und aufgedunsen wegen regelmäßiger Cortison-Behandlung infolge eines Nierenleidens - wirkte schlapp, als starrte es, bereits in einer verstaubten Ecke von Madame Tussauds in Wachs modelliert, auf deren ausdrucksstärkere Kabinettsfiguren.

„Machen Sie Schluss, einen sauberen Abgang", hatte ihm Augenblicke zuvor US-Präsident Ronald Reagans Sonderemissär, Senator Paul Laxalt, telefonisch beschieden. Der Mohr hatte seine Pflicht und Schuldigkeit getan, nun konnte - nein: musste - er von der politischen Bühne abtreten. Was jedoch nicht hieß, dass Marcos, seine Familie mitsamt loyaler Klientel so ein für allemal in der Versenkung verschwanden.

... mit wundersamer Wiederkehr

Nachdem Marcos am 28. September 1989 auf Hawaii verstarb, gestattete die neue Präsidentin in Manila, Corazon C. Aquino, seiner Familie bereits im Jahre 1991 die Rückkehr in die Heimat. Und das aus zweierlei Gründen: Alte Narben sollten schnell verheilen und ein bedeutsamer Zweig ihrer eigenen Familie, die Cojuangcos, gehörten als bedeutsame Geschäftsleute selbst zum Lager des Ex-Präsidenten. Das passte ins Bild der neuen politischen Konstellation, wo sich letztlich der Machtwechsel als Rochade zwischen alten und neuen politischen und wirtschaftlichen Eliten erwiesen hatte und Amnesie sowie Amnestie zum Programm der neuen Präsidentin gehörten. Aquino überlebte ihre sechsjährige, von Coups und Putschversuchen alter Marcos-Loyalisten überschattete Amtszeit pikanterweise nur dank der tatkräftigen Unterstützung von General Ramos, des einstigen Marcos-Intimus. Ramos genoss nach wie vor Rückhalt in den staatlichen Sicherheitsapparaten und avancierte vom Generalstabschef zum Verteidigungsminister. Bis Aquino ihn aus utang na loob, der auf den Inseln quasi sakral gepflegten Dankbarkeitsschuld, zu ihrem Nachfolger erkor und dieser tatsächlich bis 1998 als 12. Präsident des Landes im Präsidentenpalast Malacañang residierte.

Juan Ponce Enrile wiederum blieb zunächst unter Aquino Chef des Verteidigungsministeriums, wenngleich er später auf Distanz zur neuen Präsidentin ging und sie gerne weggeputscht hätte. Was seiner Karriere indes keinen Abbruch tat. Weiterhin machte er als steinreicher Geschäftsmann von sich reden, wurde Mitglied des Senats, um später ins Repräsentantenhaus zu wechseln. Seit Juni 2004 gehörte der im Februar 2022 98 Jahre alt gewordene Enrile erneut dem Senat an, als dessen Präsident er zeitweilig fungierte. Dort parlierte er gern - als hätte es 1986 keinerlei Zerwürfnis gegeben! - mit Ferdinand „Bongbong" Marcos Junior, der seinerseits 2010 von 44 Prozent der Wähler zum Senator gewählt worden war. Nur knapp unterlag Marcos als Aspirant für den Posten des Vizepräsidenten bei den Wahlen im Mai 2016. Was ihn nicht daran hinderte, zielstrebig sein diesjähriges politisches Comeback vorzubereiten.

Die 1929 geborene Marcos-Witwe, Imelda Romuáldez Marcos, war auf dem politischen Höhepunkt ihres Gatten in Personalunion Gouverneurin von Metropolitan Manila, Siedlungsministerin und Marcos' politisch-diplomatische Sonderemissärin. In dieser Eigenschaft bereiste die First Lady u.a. die Volksrepublik China, wo sie mit Mao Zedong zusammentraf, die einstige Sowjetunion, Osteuropa, den Nahen und Mittleren Osten sowie Jugoslawien und Kuba, wo sie jeweils gern mit ihren prominenten Gastgebern posierte - immerfort auf der Pirsch nach Bildstrecken für ihr eigenes Poesiealbum. Mit Verve hatte sich die First Lady für sogenannte Stadtverschönerungsprogramme eingesetzt und dafür gesorgt, dass neben einem extravagant gepflegten Lebensstil im Malacañang ab Mitte der 1970er Jahre auch eine Reihe von Fünf-Sterne-Hotels, Kongress- und Kulturzentren entlang des Roxas Boulevard in der Metropole Manila hochgezogen wurden, wo sich die Eliten des Landes gern mitsamt internationaler Jetset-Schickeria selbst zelebrierten. Ein eigens für internationale Filmvorführungen errichteter Bau, der in Eile aus dem Boden gestampft werden musste, kostete mehrere Bauarbeiter das Leben, deren Leichen in aufgeschüttetem Beton nicht allesamt geborgen werden konnten.

Mitte der 1970er Jahre war auch die Zeit, in der sich die First Lady persönlich dafür einsetzte, dass bedeutsame internationale Treffen wie die Jahrestagung der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds in Manila stattfanden. Ganz zu schweigen vom sogenannten „Thrilla in Manila", als am 1. Oktober 1975 im Araneta Coliseum in Quezon City der mittlerweile legendäre dritte Showdown im Schwergewichtsboxen zwischen Muhammad Ali und Joe Frazier stattfand - ein Sportereignis par excellence.

Diese Jahre waren aus Sicht der Marcos-Familie Jahre von Grandeur und Glamour. Sie stand im Zenit politischer Macht und wähnte sich fest im Sattel. Und auf eben diese Zeit, die von den Marcoses als „Goldene Ära" gepriesen wurde, greift deren Clan bis heute zurück und verklärt sie tremoloartig als die Glanzzeit seit Bestehen der Republik 1946. Das neugeprägte Wort „Imeldific" machte erstmalig die Runde. Gemeint ist damit bis heute ein ausschweifender, extravaganter (Lebens-)Stil à la Imelda Marcos. Überliefert sind zig Videos, in denen das Präsidentenpaar samt Kindern ausgelassen feiert und vor allem die Kinder des Paares auf der präsidialen Yacht Ang Pangulo Partys schmeißen. Zu Gesängen wie „We are the World" entspringt auf einer Geburtstagsfeier für Irene, der jüngeren der beiden Marcos-Töchter, ein beleibter Junge mit einer bunten Windel und „Mama, Mama" rufend einer Riesentorte. [ 6]

Unbehelligte Neugruppierung

Aus dem Hawaiier Exil in Manila retour, knüpfte Imelda umgehend zielstrebig und nahtlos alte Bande, die die Familie nach ihrem Sturz nie gekappt hatte und die selbst sämtliche Regierungen nach 1986 unangetastet ließen. Es begann ihre zweite Karriere in Politik und im Showbusiness. Wo immer sie auftauchte, scharten sich Menschen um sie, weil während ihrer Auftritte, auf denen sie gern sang, stets kleine und große Geldscheine verteilt wurden. Im Jahre 1995 wurde sie als Abgeordnete des ersten Distrikts ihrer Heimatprovinz Leyte in das Repräsentantenhaus, die untere Kammer des Kongresses, gewählt und kandidierte - doch letztlich erfolglos - 1992 und 1998 bei den Präsidentschaftswahlen. Ende Juni 2010 wurde Frau Marcos erneut als Kongressabgeordnete bestätigt und vertrat dort den zweiten Distrikt in Ilocos Norte, der Heimatprovinz ihres Mannes - ein Posten, den zuvor die älteste Tochter Imee innehatte.

Zwei der drei leiblichen Marcos-Kinder traten beherzt in die Fußstapfen ihrer Eltern. Die 1955 geborene älteste Marcos-Tochter Imee Marcos, einst ihrerseits Kongressabgeordnete, war seit dem 30. Juni 2010 Gouverneurin von Ilocos Norte, während ihr zwei Jahre jüngerer Bruder, Ferdinand „Bongbong" Marcos Junior, von 2010 bis 2016 dem Senat angehörte. Zuvor hatte „Bongbong" just jene Posten inne, die später seine Schwester beziehungsweise seine Mutter bekleideten. Während „Bongbong" bei der Präsidentschaftswahl 2016 als Vizeaspirant nur knapp der noch amtierenden Vizepräsidentin und nunmehrigen Präsidentschaftskandidatin Maria Leonor „Leni" Robredo unterlag, eine Niederlage, die er jahrelang juristisch bitter anfocht, gelang Schwester Imee bei den letzten Zwischenwahlen im Sommer 2019 der Sprung in den insgesamt 24-köpfigen Senat. Allein in der väterlichen Heimatprovinz Ilocos Norte sind sämtliche politisch bedeutsamen Posten (vom Gouverneur über den Bürgermeister der Hauptstadt Laoag sowie Kongress- und Städteratssitze) vom Marcos-Clan besetzt, zu dem in dieser Region auch die einflussreichen Araneta-, Keon- und Manotoc-Familien gehören. In der mütterlichen zentralphilippinischen Provinz Leyte zählen seit jeher die Romuáldezes zu den big shots in Wirtschaft und Politik. [ 7]

Vor allem Mutter Imelda blieb Zeit ihres Lebens ihrer eigenen (Schein-)Welt verhaftet. Zig gegen sie angestrengte Prozesse verliefen im Sande, wurden verschleppt oder konnten nach Zahlung einer Kaution abgewehrt werden - mit der Konsequenz, dass sie und kein anderes Mitglied der Marcos-Familie jemals auch nur einen Tag hinter Gittern verbrachten. Nachdem zuletzt im Herbst 2018 das Anti-Korruptionsgericht Sandiganbayan in Manila Frau Marcos in einem halben Dutzend von Verfahren für schuldig befand und sie zu einer langjährigen Haftstrafe „verdonnert" hatte - ja sogar bereits die umgehende Inhaftierung angeordnet hatte - wurde diese durch eine Kautionszahlung in Höhe von maximal 300.000 Peso (umgerechnet gerade einmal ca. 5.000 Euro) im letzten Moment abgewendet.

Ein Jahrzehnt nach dem Sturz ihres Mannes antwortete die Ex-First-Lady in einem Interview mit einem Reporterteam der BBC auf die Frage, ob sie mit etwa sechs Milliarden US-Dollar noch immer die weltweit drittreichste Frau sei, wörtlich:

„Ich weiß nicht, ob ich die Erste oder die Letzte bin. Die Marcoses haben dem Land nichts genommen, sondern alles gegeben. Ich wollte stets nur das Gute und das Schöne (...) Ich bin eine Bettlerin; ich weiß nicht einmal, woher ich meine nächste Mahlzeit bekomme." [ 8]

Titelbild: Mirt Alexander/shutterstock.com

Dr. Rainer Werning ist u.a. Ko-Herausgeber, Autor und Ko-Autor der drei folgenden Philippinen-Bücher: Handbuch Philippinen* Krone, Kreuz und Krieger - Europäische Vermächtnisse in den Philippinen & Ein Leben im Widerstand - Gespräche über Imperialismus, Sozialismus und Befreiung
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