Ragnar Weilandt

researcher & journalist, Brussels

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"Tamarrod" sammelt 15 Millionen Unterschriften gegen Mursi

Freitag, 21. Juni, 6:30 Uhr: Vor einer Tankstelle im Zentrum von Kairo warten rund 60 Autos auf Benzin. Eine Schande sei das, sagt ein Passant. "Jeden Morgen das gleiche und die Regierung tut nichts." Er hoffe, dass es nach dem 30. Juni zum Machtwechsel kommt.

Kurz vor Muhammad Mursis einjährigem Amtsjubiläum steht es schlecht um die ägyptische Wirtschaft. Mit dem Tourismus ist eine der wichtigsten Einnahmequellen eingebrochen. Benzinengpässe führen zu langen Schlangen vor den Tankstellen, täglich fällt der Strom aus, Preise und Arbeitslosigkeit steigen. Der Präsident führt indes unbeirrt seine Islamisierungspolitik weiter.

Doch der Widerstand wächst. Seit Ende April sammeln die Aktivisten von "Tamarrod - Rebellion" Unterschriften gegen die Regierung. Der Bewegung hat sich mittlerweile fast die gesamte Opposition angeschlossen. 13,2 Millionen Ägypter hatten im vergangenen Jahr für Mursi gestimmt, "Tamarrod" will 15 Millionen Unterschriften gegen ihn zusammenbekommen. Laut ihres Sprechers wurde dieses Ziel bereits vor einigen Wochen erreicht. Für den 30. Juni hat die Bewegung zu Massenprotesten aufgerufen, um Mursis Rücktritt zu erzwingen.

Die Kampagne ist in Kairo allgegenwärtig - in der ganzen Stadt hängen Plakate, überall verteilen Aktivisten Flugblätter und sammeln Unterschriften. Mursis Umfragewerte sind in den letzten Monaten stetig gesunken. Selbst konservative Muslime wenden sich vom Präsidenten ab. "Ich habe ihn gewählt, ich dachte die Muslimbrüder würden Ägypten auf den richtigen Weg bringen. Aber sie sind einfach inkompetent", sagt Aliaa, eine streng-religiöse Lehrerin. Auch sie wird am 30. Juni auf die Straße gehen.

"Wenn sie unseren Präsidenten angreifen, werden wir ihn verteidigen"

12:30 Uhr: Wie jeden Freitag wird am Tahrir-Platz gegen die Regierung demonstriert. Slogans beschwören die Einheit von Muslimen und Christen, mehrere Demonstranten halten Koran und Kruzifix in die Höhe. "Tamarrod!" rufen sie vorbeifahrenden Autofahrern zu - "Tamarod!" hallt es zurück. Die Wut richtet sich diesmal auch gegen die amerikanische Botschafterin, die zwei Tage zuvor auf die demokratische Legitimität der ägyptischen Regierung hingewiesen hatte. Ihre Äußerungen geben einer verbreiteten Verschwörungstheorie weiteren Aufwind: Die USA hätten die Muslimbrüder an die Macht gebracht.

Unter den Demonstranten finden sich auch einige Unterstützer des alten Regimes. So wie Mohammed, der seit November 2012 in einem Zeltlager am Tahrir-Platz wohnt. Über seinem Zelt hängen Porträts der ehemaligen Präsidenten Nasser und Sadat. Auch für Mubarak hat er gewisse Sympathien. "Er hat Fehler gemacht, aber die Wirtschaft lief und die Straßen waren sicher." Am Tahrir-Platz ist er mit seinen Ansichten in der Minderheit. Aber dass es Ägypten vor der Revolution besser ging, hört man in Kairo mittlerweile häufig.

14:30 Uh r: Reisebusse bringen Mursi-Anhänger aus allen Teilen Ägyptens zur Rabaa-Al-Adawiya Moschee im Osten Kairos. Als Reaktion auf die "Tamarrod"-Kampagne haben die Islamisten zu einer Solidaritätskundgebung für den Präsidenten aufgerufen. Drei Millionen seien gekommen, behauptet ein Demonstrant. Ganz so viele sind es nicht, aber mit über 100.000 Teilnehmern gelingt den Islamisten eine eindrucksvolle Machtdemonstration.

"Unsere islamischen Parteien sind hier, um die Demokratie zu verteidigen", sagt Nabil, der normalerweise als Englischlehrer in Riad arbeitet. "Wir haben Mursi gewählt, die Mehrheit unterstützt ihn. Mubarak war 30 Jahre an der Macht, warum soll Mursi schon nach einem Jahr gehen?" "Tamarrod" dürfe demonstrieren, müsse aber friedlich bleiben. "Wenn sie unseren Präsidenten angreifen, werden wir ihn verteidigen."

Auch die Gamaa Al-Islamiyya marschiert für Mursi

"Nein zur Gewalt" ist das offizielle Motto der Kundgebung. Zu den Initiatoren gehört auch die Gamaa Al-Islamiyya. Die Bewegung war 1997 für den brutalen Terroranschlag in Luxor verantwortlich und ist nun ein wichtiger Partner des Präsidenten. Nur wenige Tage zuvor hatte Mursi versucht, eines ihrer Mitglieder ausgerechnet in der Provinz Luxor zum Gouverneur zu ernennen. Assem Abdel-Maged, ein prominenter Kopf der Bewegung, rief kürzlich zum Mord an dem deutsch-ägyptischen Politikwissenschaftler Hamed Abdel Samad auf. Als Abdel-Maged die Bühne betritt, bricht tosender Jubel aus. Im Laufe des Nachmittags kommt es zu Übergriffen auf die Fernsehteams von BBC Arabic und ONTV. Den Sendern wird vorgeworfen das "Islamische Projekt" zu sabotieren.

Einen säkularen Staat lehnen die Demonstranten ab. Die Mehrheit der Ägypter seien Muslime, die Grundlage des Staates müsse die Scharia sein, sagt Ahmed, ein weiterer Demonstrant. Und die Rolle der koptischen Christen in diesem Staat? "Wir sind eine Nation, wir sind alle Brüder", proklamiert er. Im Hintergrund singen die Massen "Islamiyya, islamiyya, kullu Masr islamiyya - ganz Ägypten ist islamisch". Etwas später heißt es "kullu Bilad islamiyya" - alle Länder sollen nun islamisch sein.

Die Opposition sei eine Minderheit, sagt Hussein, ein junger Mann aus Alexandria. "90 Prozent der Ägypter unterstützten Mursi." "Tamarrod" wolle Chaos und Gewalt verbreiten und sei "das Werk westlicher Agenten". Hussein trägt ein grünes Band mit dem islamischen Glaubensbekenntnis um den Kopf. Und er trägt ein Trikot von Real Madrid. Ganz so schlecht ist der Westen dann doch nicht.

Aufbruchstimmung im Café Riche

21.30 Uhr: An der Tür des Café Riche hängen Bilder liberaler ägyptischer Intellektueller, die den Passanten "Tamarrod"-Flugblätter entgegen strecken. Im Riche wird kein Hehl daraus gemacht, wo man steht. Das Café im Stadtzentrum ist eine Institution in Kairo, viele historische und kulturelle Entwicklungen nahmen hier ihren Anfang. Es heißt, die Unabhängigkeitsbewegung habe in dem Café gegen die britischen Kolonialherren konspiriert, Nasser hier soll hier vor dem Staatsstreich der Freien Offiziere verkehrt haben. Der spätere Nobelpreisträger Naguib Mahfuz hielt wöchentlich einen literarischen Salon im Riche ab, die Sängerin Umm Kulthum gab hier einige ihrer ersten Konzerte.

Auch heute zählen prominente Liberale zu den Stammgästen. Amir Salem, einen der Ankläger im Prozess gegen Mubarak, trifft man fast jeden Abend. Häufig sieht man ihn auch auf einem kleinen Fernsehbildschirm neben dem Eingang des Cafés, wenn er in Talkshows gegen die Muslimbrüder wettert. Was er vom 30. Juni erwartet? "Keiner weiß was passieren wird, alles ist möglich."

Auch im Café Riche werden Unterschriften für "Tamarrod" gesammelt. Die Demonstration der Muslimbrüder nimmt man hier nicht ernst. "Sie haben sich einen kleinen Platz für die Kundgebung ausgesucht, damit es voller wirkt", sagt Andrew, der das Café gemeinsam mit seinem Onkel betreibt.

Die möglichen Konsequenzen schrecken immer weniger Ägypter davon ab, sich für ihre Rechte einzusetzen.

Mursi muss weg, da sind sie sich einig. Doch wie es weitergehen soll, weiß man auch hier nicht. Die Opposition in Ägypten ist im Widerstand vereint, darüber hinaus bleibt sie gespalten. Vor einem Jahr mussten die Liberalen daher mit ansehen, wie Mursi und Ahmed Schafik, ein Vertreter des Mubarak-Regimes, das Rennen um die Präsidentschaft unter sich ausmachten. Alles sei besser als das alte Regime, hieß es damals - selbst Liberale wie der Schriftsteller Alaa Al-Aswany sprachen sich für Mursi aus.

Jetzt heißt es, alles sei besser als die Islamisten - auch Schafik gehört zu den Unterstützern von "Tamarrod". Doch sollte Mursi als erster demokratisch gewählter Präsident Ägyptens wirklich nach nur einem Jahr abgesetzt werden? "Die Wahl war nicht demokratisch, die Muslimbrüder sind Faschisten", sagt Salem. Eine Gruppe verschleierter Mädchen betritt das Café und fragt, ob noch "Tamarod"-Unterschriften-Formulare da sind. Es sind noch welche da. Salem ist sich sicher, dass die Mehrheit der Ägypter am 30. Juni auf die Straße gehen wird, um Mursi und die Muslimbrüder los zu werden.

Doch auch wenn der Umbruch ausbleibt - "Tamarrod" zeigt, dass die Opposition immer kritischer und mutiger wird. Es ist nach wie vor gefährlich, sich gegen die Autoritäten aufzulehnen. Doch die möglichen Konsequenzen schrecken immer weniger Ägypter davon ab, sich für ihre Rechte einzusetzen. Es sei nicht überraschend, dass die Kampagne so erfolgreich ist, sagt Andrew. "Bemerkenswert ist, dass sie stattfindet."

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