Sie sind Narzissten – zumindest, wenn man Lifecoaches im Internet glaubt. Überall werden sie gerade vermeintlich entlarvt. Mediziner sagen: Das ist eine Masche.
Menschen sind grundverschiedene, hochkomplexe Wesen. Ihre Beziehungen sollten es daher eigentlich auch sein. Es gibt allerdings die Geschichte einer zerbrochenen Liebe, die man sich seit einigen Jahren immer öfter erzählt. Der Verlauf der Geschichte ähnelt sich stark, obwohl die erzählenden Menschen aus den unterschiedlichsten Milieus und Gegenden kommen. Viele sehen in der Häufigkeit der Geschichte einen Beleg dafür, dass sie wahr ist. Andere das genaue Gegenteil.
Die Geschichte beginnt in etwa so: Eine junge Liebe, die sich anders anfühlt, explosiver, einzigartiger denn je. Der neue Partner - meist ist es ein Mann - wirkt zunächst auf eine schöne Art von sich selbst überzeugt, spontan, abenteuerlustig. Er trägt sein Gegenüber auf Händen, erfüllt jeden Wunsch, umgibt sich mit spannenden Menschen. Im Prinzip verkörpert er all das, was man in einem Datingprofil unter "so sollte er sein" angeben würde. Nach einer gewissen Zeit bekommt dieses Bild Risse: Wer die Perfektion infrage stellt, ihn kritisiert, wird bestraft. Der Partner wendet sich ab, handelt egoistisch, er hört nicht zu, verdreht Tatsachen, setzt zielgenau dort Stiche, wo es am meisten wehtut - fast so, als könnte er die wunden Punkte seines Gegenübers auf magische Art erspüren. Vom Traumpartner wird er so zu einem Albtraummann. Mit all jenen Eigenschaften, die man auf einem Datingprofil unter "so sollte er nicht sein" einträgt.
Hätte man so einen Menschen früher vielleicht als "den Falschen" oder schlicht als "Arschloch" bezeichnet, erklären Medien und Ratgeber im Netz dieses Verhalten heutzutage häufig mit einem anderen Begriff: Dieser Mensch ist eindeutig ein Narzisst. Mit dieser Zuschreibung scheint sein gesamtes Agieren plötzlich Sinn zu ergeben, von der anfänglichen Überzeugungskraft bis zur zerstörerischen Kälte am Ende: Die schöne Anfangszeit war eine manipulative Lovebombing-Phase, Widerspruch und Tatsachenverdrehungen im Streit perfides Gaslighting, und sein scheinbar intaktes Umfeld bestand nur aus flying monkeys, gewissenlosen Kollaborateuren des Narzissten, die in seinem Auftrag Menschen manipulieren.
Überall stellten sich (Ex-)Partner in den vergangenen Jahren als Narzissten heraus. Doch sie tauchten nicht nur in der Liebe auf, sondern auch im Job, in der und Weltpolitik. Den Umgang mit ihnen lehren sogenannte Lifecoaches mit reichweitenstarken YouTube-Kanälen und erfolgreichen Büchern. Ist das nun ein Hype, die Verklärung eines Krankheitsbildes zu einem Meme-Universum, das man missliebigen Menschen jeder Art überstülpen kann? Oder werden hier gerade tatsächlich reihenweise echte Narzissten oder gar eine ganze narzisstische Gesellschaft entlarvt?
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