Der Schriftsteller der Stunde, Édouard Louis, über das Verhältnis zu seinem Vater, gefährliche Männlichkeitsbilder und die Arroganz der Macht.
Sein Buch „Wer hat meinen Vater umgebracht?“ hat den 26-jährigen Franzosen Édouard Louis in den vergangenen Tagen zum gefragten Erklärer der Proteste in Frankreich gemacht, zur Stimme derer, die laut ihm lange keine Stimme hatten – und nun jeden Samstag in gelben Westen den Rücktritt der französischen Regierung fordern. An einem Montagabend stellt er sein Buch im Münchner Literaturhaus vor, bereits eine Stunde vor Beginn der Veranstaltung wartet eine Traube Menschen darauf, noch auf die Warteliste für nicht abgeholte Karten gesetzt zu werden. Zwölf Euro Eintritt für einen Abend, der mit den Worten „was es bräuchte, das ist eine ordentliche Revolution“ endet.
Louis' Buch handelt von der Beziehung zu seinem Vater in einem von Arbeitern geprägten Dorf in Nordfrankreich. Unter der Härte des Vaters, der Dominanz und dem Hass auf alles „Verweichlichte“ leidet die ganze Familie – insbesondere Louis selbst. Nach Jahren knochenharter Jobs und einem schweren Arbeitsunfall hat sein Vater heute einen kaputten Rücken, dazu Herz- und Atemprobleme. Zusätzlich belasten die Familie seit jeher politische Maßnahmen wie Sozialstaatsabbau oder die Reform des Arbeitsmarktes. Die Gestalter dieser Politik, die Staatspräsidenten Chirac, Sarkozy, Hollande und Macron hält Louis auch für diejenigen, die für die „Zerstörung“ seines Vaters verantwortlich sind.
Wir treffen ihn in einem Nebenzimmer des Literaturhauses, sein Zug hatte Verspätung, in einer Dreiviertelstunde beginnt die Veranstaltung – ob das reicht? „Falls nicht, dann fängt die Lesung halt zehn Minuten später an“, sagt Louis, gut gelaunt, Plauderlaune. Er nimmt noch einen Schluck Wasser und schlägt dann vor, den Smalltalk zu überspringen und direkt ins Interview einzusteigen.
jetzt: In deinem Buch schreibst du, dass wir nicht sind, was wir tun, sondern eher das, was wir nicht getan haben. Was glaubst du, hätte dein Vater getan, wenn die Umstände ihn nicht daran gehindert hätten?
Édouard Louis: Ich kann mir da alles Mögliche vorstellen: Vielleicht wäre er gerne ein Tänzer geworden, oder ein Sänger. Das war in seinem Milieu aber völlig unmöglich. Das meiste über meinen Vater weiß ich von meiner Mutter, er erzählt nicht gern von sich, weil das in seinem Umfeld als unmännlich gilt. Wenn sie mir von ihm erzählte, davon, wie er früher war, passte das überhaupt nicht zu dem Bild, das ich von ihm hatte. Da gab es vieles, was früher in ihm steckte, das bereits so gut wie verschwunden war.
Deinen Vater beschreibst du als einen unnahbaren, harten Menschen, der sich abfällig über Migranten und Schwule äußert und dir jegliche Form von Unmännlichkeit austreiben will. Ab und zu bricht aber auch seine andere Seite durch, zum Beispiel, als ihr im Auto zusammen Songs von Céline Dion singt.
Ja, das sind die seltenen Momente, in denen diese verschütteten Charakterzüge wieder zum Vorschein kamen. Wäre mein Vater in einem anderen Land, auf einem anderen Planeten oder einfach in anderen Verhältnissen aufgewachsen, hätte er dieses andere Wesen in sich erkunden können. Im Körper meines Vaters waren all diese Möglichkeiten angelegt. Meine Mutter erzählte zum Beispiel, dass früher sein bester Freund ein Araber war, oder dass er sich auf einem Dorffest schützend vor einen Schwulen gestellt hat.