Shoppingliste, Kalender, Erinnerungen - alles liegt abrufbereit in unseren Geräten. Wir brauchen fast nicht mehr zu denken. Wir lagern unser Gehirn aus. Das ist bequem. Und gefährlich.
Mitte der 90er-Jahre verglich der Schriftsteller David Foster Wallace die Wirkung des Fernsehens mit der von Süßigkeiten oder Fastfood: Es ist leicht zu konsumieren, fordert nichts von uns und verschafft uns eine schnelle Befriedigung. Wenn wir zu viel davon konsumieren, fühlen wir uns gleichzeitig voll und leer, doch aufhören wollen wir auch nicht. Wir werden stimuliert, ohne viel tun zu müssen, doch wir werden nicht genährt.
Wenn du das hier liest, besteht eine gute Chance, dass du den Artikel beim Scrollen durch deinen Facebookfeed entdeckt hast und ihn dir auf einem Smartphone ansiehst. Kommen dir die oben beschriebenen Symptome auch unangenehm vertraut vor? Wenn das Fernsehen für Wallace wie Süßigkeiten war, was sind dann Facebook, Youtube, Google und Co heute für uns? Heroin?
Der technologische Fortschritt ist atemberaubendAls Wallace sich 2008, nach langem Kampf mit schweren Depressionen, das Leben nahm, war der Aufstieg des Internets zum prägenden Medium unserer Zeit bereits in vollem Gange. Doch heute entwickelt es dank der rasanten Verbreitung von Smartphones und Sozialen Medien eine ungleich größere Wucht. Die moderne Informationstechnologie drückt unseren Leben einen tiefen Stempel auf, den wir spüren, aber in großen Teilen noch nicht zu entziffern wissen.
Die Frage: Welche Folgen hat es für uns, wenn wir uns zunehmend auf Geräte und Technologien verlassen, anstatt das eigene Gehirn zu benutzen? Was macht es mit uns, wenn wir unser Gehirn outsourcen? Die tiefergreifenden Auswirkungen werden sich erst in zehn, zwanzig Jahren bemessen lassen. Trotzdem bemühen sich Forscher und Journalisten schon jetzt, Antworten zu finden.
Cognitive offloading: Unser Gehirn spart EnergieAus evolutionsbiologischer Sicht lässt sich ein großer Teil der Menschheitsgeschichte als Versuch sehen, ein möglichst energieeffizienter Organismus zu sein. Wenn sich zwei Wege bieten, ein Problem zu lösen, gibt es eine starke Tendenz, den weniger aufwendigen zu nehmen. Wer Energie und Zeit spart, überlebt. Diese Effizienzmaxime ist auch in vielen Funktionsweisen unseres Gehirns eingeschrieben.
Früher mussten wir uns Wege und Orte merken, um uns zu orientieren. Bis wir Landkarten entwickelt haben, die uns einen Teil dieses kognitiven Aufwandes abnahmen. Aber auch eine Karte muss man lesen können - beziehungsweise musste man, bevor wir Smartphones und GPS und Google Maps entwickelt haben. Jetzt folgen wir einfach einem Pfeil und einer Stimme, die uns den Weg weist. Hypereffizient!
Diesen Prozess der Auslagerung von Denkaufgaben an unseren Körper und die äußere Welt wird auch cognitive offloading genannt. Das Phänomen ist nicht neu, Menschen haben sich seit jeher verschiedener Varianten davon bedient. Doch wir leben in einer Zeit, die uns mehr Möglichkeiten dazu bietet, als je eine zuvor. Die Neuroforscher Evan F. Risko und Sam J. Gilbert haben zu dem Thema kürzlich einen Übersichtsartikel im Fachjournal Trends in Cognitive Sciences veröffentlicht. Gilbert schreibt: „Cognitive offloading birgt ohne Zweifel riesige Vorteile, aber auch mögliche Kosten. Wir beginnen gerade erst, diese Effekte zu verstehen."
Unstrittig ist, dass sich unser Denken durch neue Technologien verändert. Das menschliche Gehirn ist keine Maschine, die auf genau eine Weise funktioniert. Es ist plastisch, es verändert sich über das Leben eines Menschen. Der Journalist Nicholas Carr führte in seinem Aufsatz für „The Atlantic" das Beispiel der mechanischen Uhr an, die sich ab dem 14. Jahrhundert verbreitete. Die Messbarkeit der Zeit und die Planbarkeit von Ereignissen (essen, schlafen gehen, etc.) führte nach Carr dazu, dass wir „aufhörten, auf unsere Sinne zu hören, und begannen, der Uhr zu gehorchen". Doch wie wirkt es sich aus, wenn wir unseren Smartphones gehorchen?
Die Auslagerung von Denkprozessen bringt enorme FreiräumeDie gewaltigen Vorteile, die uns das cognitive offloading an digitale Technologien bietet, liegen auf der Hand. Unsere Gehirne verfügen über eine begrenzte Kapazität, und wenn wir die im Alltag nicht für „niedere" kognitive Aufgaben aufwenden müssen, schafft das Freiräume, uns substantielleren Dingen zu widmen. Wir haben die Shoppingliste, den Terminkalender, das wortwörtlich fotografische Gedächtnis und so vieles mehr griffbereit in der Hosentasche. Das spart unheimlich Zeit und Energie.
Viele Menschen erleben es zudem als positiv, binnen Sekunden auf das geballte Wissen der Welt zugreifen zu können, jederzeit mit Menschen aus aller Welt kommunizieren zu können. Die digitalen Technologien bedeuten die ständige Möglichkeit von sofortiger Gratifikation. Warum warten, wenn man etwas jetzt haben kann?
Bisherige Studien zeigten, dass die Auslagerung von Denkaufgaben zu gesteigerten Leistungen in verschiedenen Bereichen (etwa Gedächtnis, Zählen, räumliche Vorstellung) führen kann. Diese Studien haben allerdings nicht die unterstützenden Effekte von Smartphones untersucht, sondern davon, wenn wir zum Beispiel die Hände zu Hilfe nehmen, um uns Dinge vorzustellen.
Der Journalist Carr spekulierte in seinem Buch „The Shallows: What the Internet Is Doing to Our Brains", dass sich unsere Multitasking-Fähigkeiten durch das Navigieren im Netz und in sozialen Medien verbessern könnten. Forschung aus den vergangenen Jahren kann dies allerdings nicht pauschal bestätigen; entsprechende Studien kommen zu unterschiedlichen Ergebnissen. Was wir wissen: Multitasking bedeutet nicht, mehrere Dinge gleichzeitig zu tun, sondern die Aufmerksamkeit sehr schnell zwischen verschiedenen Aufgaben hin und her zu verteilen. Dabei fallen sogenannte switching costs an. Wir müssen uns jedes mal neu eindenken - kein sehr effizienter Prozess.
Ohne Erinnerungen keine IdentitätIn einer kürzlich veröffentlichten Studie sollten zwei Gruppen von Teilnehmern eine Reihe von Fragen beantworten. Die eine Gruppe durfte Google benutzen, die andere musste sich auf das eigene Gedächtnis verlassen. Es folgte eine zweite Runde mit einfacheren Fragen. Dieses mal war es allen freigestellt, Google zu benutzen oder nicht. Ergebnis: Wer in der ersten Fragerunde Google genutzt hatte, tat dies auch bei den simplen Fragen. Die „Gedächtnisgruppe" hingegen schaltete auch jetzt den eigenen Kopf ein und beantwortete die Fragen schneller.
Die Studie illustriert, was wir selbst aus dem Alltag kennen. Je mehr wir uns darauf verlassen können, durch unsere Smartphones an Informationen zu gelangen, desto weniger müssen wir uns selbst merken. Eigentlich ja eine Entlastung, warum sollte das ein Problem sein? Nun, eine Information selbst im Gehirn gespeichert zu haben oder nur zu wissen, wie man sie im Internet findet, ist ein großer Unterschied. Im Gedächtnis werden Informationen zu einem Netzwerk aus Wissen, Assoziationen und Emotionen verwebt - sie werden nicht einfach „abgelegt" wie in einem Aktenschrank.
Diese Netzwerke aus Informationen sind essentiell für vieles, was unser Verständnis vom Menschen ausgemacht hat. Wir brauchen sie, um uns tiefergehend mit Themen zu beschäftigen. Aus den Assoziationsnetzwerken entstehen kreative Ideen und Konzepte. Sie ermöglichen es uns - wortwörtlich - Informationen in einen Kontext zu setzen. Ohne Erinnerungen und Wissen kein deep thinking, keine Reflexion. Und, vielleicht der wichtigste Aspekt: Wir sind unsere Erinnerungen. Verschiedenen Formen von Gedächtnisinhalten sind die Grundlage zur Ausbildung einer Ich-Identität.
Kritische Reflexion, kreatives Denken - bleibt das auf der Strecke?Die Gefahr: Wenn wir zunehmend kognitive Prozesse auslagern, werden unsere Erfahrungen oberflächlicher, unsere Erinnerungen weniger lebhaft. Die Neuroforscher, Risko und Gilbert, zitieren zwei Studien, die Hinweise dafür liefern. In der einen wurde getestet,wie gut Museumsbesucher sich an bestimmte Ausstellungsstücke erinnern. Die Hälfte der Teilnehmer, die Fotos von den Objekten machen durfte, erinnerte sich schlechter, als die andere, die sich auf das eigene Gehirn verlassen musste.
Die zweite Studie zeigte einen ähnlichen Effekt für die Orientierungsfähigkeit: Teilnehmer, die eine Route mit Hilfe eines Navigationssystems abfahren sollten, machten im ersten Durchgang weniger Fehler, als Fahrer ohne Unterstützung. Doch sie konnten sich an weniger Szenen von der Strecke erinnern und schnitten in einem zweiten Durchgang schlechter ab als die Selbstfahrer - nun mussten beide Gruppen den Weg ohne Navi finden.
Das Internet und besonders die sozialen Medien beeinflussen stark, wie wir lesen. Wie die Entwicklungspsychologin Maryanne Wolf in ihrem Buch „Proust and the Squid: The Story and Science of the Reading Brain" darlegt, lesen wir nicht unbedingt weniger als früher, aber weniger konzentriert und am Stück. Wir springen von Artikel zu Artikel und Informationsquelle zu Informationsquelle, immer auf der Suche nach einem neuen Klick - und Kick. Unser Gehirn belohnt uns dafür mit Dopamin. Das ewige Scrollen durch den Newsfeed hat etwas von Suchtverhalten.
Nach Wolf beeinflusst unser Leseverhalten auch unser Denken. Sich über einen längeren Zeitraum mit einem Text auseinanderzusetzen ist eine Kulturtechnik, die wir uns historisch erarbeitet haben. Es ist uns von der genetischen Grundausstattung nicht nahgelegt, keine „instinktive Fähigkeit". Konzentriertes Lesen und tiefes Denken erfordern Aufwand und Übung, beides bietet keine schnelle Befriedigung, wie es das Klicken durch den Informationsdschungel im Internet tut.
Was soll es in Zukunft bedeuten, Mensch zu sein?Es ist noch zu früh, die komplexen Auswirkungen des cognitve offloadings an digitale Technologien erschöpfend zu bemessen. Klar ist jedoch: Smartphone, Facebook, Google und Co. verändern, wie wir denken und erleben. Dies vermutlich auf eine sehr grundlegende Weise. Auch wenn wir noch nicht beurteilen können, ob dabei das Positive oder das Negative überwiegt (und welche Veränderungen überhaupt so oder so zu bewerten sind), sollten wir uns bewusst machen, dass es diese Veränderungen gibt.
Vielleicht ist es nicht schlimm, wenn unsere Fähigkeit zur tiefen Reflexion verkümmert, weil künstliche Intelligenzen uns in Zukunft auch kreatives Denken abnehmen werden. Vielleicht spielt es keine Rolle, dass wir uns nirgends ohne Google Maps zurechtfinden, weil unsere Leben sich ohnehin in virtuelle Welten verschieben. Doch man muss sich nicht David Foster Wallaces Bandana und seine runde Brille aufziehen, um eine gewisse Tragik in dem explosionsartigen Fortschritt unserer technologischen Entwicklung zu sehen. Unsere immer schlaueren digitalen Geräte schenken uns immer mehr Zeit, die wir immer mehr damit verbringen, an unseren immer schlaueren digitalen Geräten zu hängen.
Es geht im Kern nicht darum, ob wir einzelne kognitive Fähigkeiten verlieren oder verbessern. Es geht darum, was es bedeutet, ein Mensch zu sein, um uns als Personen, als Persönlichkeiten. Oder, wie der Journalist Andrew Sullivan es in seinem äußerst lesenswerten Artikel „I Used to Be a Human Being" formuliert:
„Doch diese neue Epidemie der Ablenkung ist die größte Schwäche unserer Zivilisation. Sie bedroht nicht so sehr unsere Köpfe, auch wenn die sich unter dem Druck verändern. Sie bedroht unsere Seelen. Bei der aktuellen Geschwindigkeit, falls der Lärm nicht nachlässt, werden wir vielleicht sogar vergessen, dass wir welche haben."