Der Turm rückt seinen Hut zurecht. Ein Bauer mit abstehenden Ohren reibt sich verschlafen die Augen. Dann bekommt ein schwarzer Springer ein Kommando: „Springer auf G4!“ Er zieht nach vorne, klopft einem weißen Bauern auf den Rücken. Geschlagen. Der Bauer verlässt das Feld. Es ist Ende Mai in Ströbeck, einem kleinen Dorf in Sachsen-Anhalt. 32 Dorfbewohner stehen als Schachfiguren verkleidet auf dem Dorfplatz. Die meisten deutschen Dörfer kennen vier Jahreszeiten. In Ströbeck sind es fünf: Sommer, Herbst, Winter, Frühling – und das internationale Schachturnier.
Zwei Mitglieder der Siegermannschaften des vergangenen Jahres dürfen mit dem Lebendschachensemble eine Partie spielen, 15 Minuten lang, unter den Augen von rund 300 Zuschauern. Es ist der Höhepunkt dieses Wochenendes. Der Ströbecker Dorfplatz heißt „Platz am Schachspiel“, schwarze und weiße Marmorplatten sind in seinen Boden eingelassen. Er ist selbst ein Schachfeld, 500-mal so groß wie ein normales Turnierbrett. Um den Überblick zu behalten, sitzen die Schachspieler auf hohen Stühlen, wie Schiedsrichter beim Tennis. Die Königspaare auf dem Feld tragen Gewänder wie die Großbauern um 1850 aus der Gegend: Der König einen knielangen Mantel, dazu Fliege und Zylinder; die Dame ein besticktes Kleid aus Brokat, gesponsert von der Kreissparkasse.
Seit 1688 treten die Ströbecker als lebende Schachfiguren auf. Schach und Ströbeck, das gehört zusammen, seit über tausend Jahren: 1011 sollen die ersten Dorfbewohner das Spiel erlernt haben – zu einer Zeit, als Schach den Adeligen und Geistlichen vorbehalten war. Der Legende nach hatte der Bischof von Halberstadt einen Grafen wegen eines Streits um Land im Ströbecker Wehrturm festgesetzt. Weil sich die Bauern, die den gefangenen Grafen bewachten, gut mit ihm verstanden, brachte er ihnen das Schachspielen bei. Darauf sind die Ströbecker stolz, noch 30 Generationen später. Der Dorfplatz ist ein Schachbrett, ein Schachfeld prangt auf dem Dorfwappen, in der Schule ist Schach Pflichtfach. Und seit 1962 richtet das Dorf jedes Jahr im Mai ein Schachturnier aus.
Rudi Krosch sitzt im Schachmuseum. Er hat das Schachensemble schon Dutzende Male auftreten sehen; 20 Jahre lang war er Bürgermeister von Ströbeck. Nach der Wende wollten ihn sowohl CDU als auch PDS als Kandidat. Krosch aber kandidierte für den Schachverein und holte bei den ersten freien Wahlen 465 Stimmen – mehr als alle CDU-Kandidaten zusammen. Über mehrere Jahre bestimmten er und die anderen „Schachfreunde“ als stärkste Fraktion im Gemeinderat die Lokalpolitik.
In seiner Jugend spielte Krosch eigentlich lieber Fußball. „Irgendwann muss sich aber jeder, der die Tradition erhalten will, zum Schach bekennen“, sagt er. Als er Bürgermeister wurde, widmete er sein Leben der Aufgabe, Ströbecks Verbindung zum Schach zu erhalten. Vereinskultur, Traditionen – das ist ihm wichtig. „Ich war fördermittelabhängig“, sagt Krosch und lacht. Zehn Millionen Euro warb der 71-Jährige in seiner Amtszeit für die Gemeinde ein – für das Schachmuseum, das Lebendschachensemble und den Schachverein. Ende der Neunzigerjahre führte er sogar einen Brauch aus dem 17. Jahrhundert wieder ein: Bräutigame müssen gegen den Bürgermeister eine Schachpartie bestreiten. Besiegte Krosch sie, hätten sie traditionell ein Strafgeld in die Dorfkasse zahlen müssen. „Ich habe mich mit meinen Gegnern aber meistens auf Patt geeinigt“, sagt Krosch.
Abseits der Dorfmitte wirkt das Schachdorf mit seinen knapp 1200 Einwohnern verschlafen: Einfamilienhäuser mit Gärten und aufgemalten Schachbrettern an den Fassaden, ringsherum Felder und Wald. Die Volksbank hat zweimal in der Woche geöffnet, es gibt eine Bahnhofsstraße, aber keinen Bahnhof. Die Außenwelt ist nur einmal im Jahr zu Besuch in Ströbeck.
Im „Gasthaus zum Schachspiel“ wird der diesjährige Sieger des Ströbecker Turniers ermittelt. Im großen Saal des Gasthauses sitzt ein Schachspieler neben dem nächsten. Mehr als 50 Mannschaften spielen um den Sieg, insgesamt über 200 Spieler, zwischen acht und 80 Jahren alt. Sie kommen aus ganz Deutschland und den Niederlanden. Eine polnische Mannschaft hat kurzfristig abgesagt. Früher kamen auch Ungarn und Letten.
Das Schachturnier ist ein Volksfest. Spieler, die ihre Partien bereits beendet haben, schauen ihren Kameraden über die Schulter, es wird Hasseröder für 1,80 Euro ausgeschenkt, gebraut im benachbarten Wernigerode. Vom Schachplatz wehen die Beats der Popmusik herein. Es riecht nach Bratwurst.
Dennis Krassenburg, ein Niederländer mit weißem Vollbart, kommt seit über 15 Jahren ins Schachdorf. „Es ist großartig, was die Ströbecker auf die Beine stellen.“ Der Ingenieur wohnt in Wijk am See, einem kleinen Ort nahe Amsterdam. Auch Wijk am See ist schachverrückt: Ein Stahlkonzern veranstaltet dort einmal im Jahr das größte Schachturnier der Welt, mit knapp 1800 Spielern.
Krassenburg hat an diesem Tag keinen Erfolg, am Ende landet seine Mannschaft auf dem drittletzten Platz. Dem Niederländer ist das egal. Er komme nicht nach Ströbeck, um zu gewinnen, sagt er: „Meine Frau und ich haben hier Freunde gefunden.“
Während ihr Mann im „Gasthaus zum Schachspiel“ über den nächsten Zug grübelt, macht Krassenburgs Frau Lia mit Renate Krosch das Damenprogramm. Die beiden Frauen spazieren gemeinsam durch Ströbeck.
Renate Krosch ist die Ehefrau des ehemaligen Bürgermeisters Rudi Krosch und die Ortschronistin von Ströbeck. Oft führt sie Besucher durch ihr Heimatdorf. Ihrer Aufgabe wolle sie gerecht werden, sagt sie: „Immer wieder kommen Kunstwissenschaftler oder Historiker hierher. Wenn ich mit denen Ortsführungen mache, muss ich schon etwas Fundiertes erzählen.“
Nach der Wende, als die Archive geöffnet wurden, begann Renate Krosch, die 1000-jährige Geschichte Ströbecks aufzuarbeiten. Früher war sie einmal Lehrerin für Mathe und Physik. Heute studiert die 65-Jährige noch einmal: Geschichte an der Fernuniversität. Vor kurzem hat sie ihre Bachelorarbeit abgegeben und bereits mehrere Bücher über die Geschichte Ströbecks geschrieben.
Die Freundinnen schlendern zur Grundschule. Sie ist nach Emanuel Lasker benannt, dem einzigen deutschen Schachweltmeister. Schach ist hier von der zweiten bis zur vierten Klasse Pflichtfach, die Schüler fahren regelmäßig zu Turnieren, im Zeugnis steht sogar eine Note. Das ist einmalig in Deutschland. „Diese Tradition besteht seit 1823“, erzählt Krosch. „Heute haben die Schüler eine Stunde Schach in der Woche. Die talentierten Spieler trainieren zusätzlich am Nachmittag.“
Bis 2004 existierte neben der Grundschule auch eine Sekundarschule, eine integrierte Haupt- und Realschule. Von der fünften bis zur siebten Klasse war Schach dort Pflichtfach.
Doch vor elf Jahren musste die Sekundarschule schließen. Zu wenige Schüler. Eltern und Schachfreunde versuchten noch, Schüler aus anderen Dörfern abzuwerben, die Feuerwehr veranstaltete einen Protestmarsch, der Niederländer Dennis Krassenburg sammelte beim Schachturnier zu Hause in Wijk am See die Unterschriften der Schachgroßmeister. Vergeblich.
„Das war damals sehr bitter“, sagt der ehemalige Bürgermeister Rudi Krosch. Er hält kurz inne, kämpft mit den Tränen. „Aber wir hatten überhaupt keine Chance, die Schule zu erhalten.“
Den Verlust der Schule bekommt das Lebendschachensemble rasch zu spüren: „2008 war das Ensemble tot, weil wir das Brett nicht vollbekommen haben“, sagt die Leiterin Sigrid Karasch. Eigentlich standen früher nur Schüler auf dem Schachbrett, heute sind es auch Vorschulkinder und Erwachsene.
Sigrid Karaschs ganze Familie engagiert sich im Ensemble: Ihre Tochter Janine Hofmann steht als Springer auf dem Brett und ist stellvertretende Vorsitzende des Schachvereins, die beiden Enkelkinder mimen Bauern, ihr Mann kümmert sich um die Lautsprecheranlage.
Sigrid Karaschs Enkel Jordi Hofmann besucht die zweite Klasse und lernt wie alle Kinder an der Lasker-Schule Schach. Dem Achtjährigen gefällt das: „Ich gehe mit meinen Freunden sogar noch nach der Schule in die Schach-AG“, sagt er. „Andere sind in der Zeit lieber im Computerraum oder in der Bibliothek.“ Im Lebendschachensemble ist er ein Bauer. Am liebsten, sagt er, würde er mal einen Turm spielen. Doch im Sommer zieht Jordi mit seinen Eltern und seiner Schwester weg aus Ströbeck, wie viele junge Familien vor ihnen. Die meisten kommen nie wieder zurück.
Der Posten seiner Mutter im Vorstand des Schachvereins muss dann neu besetzt werden. „Es wird schwierig, jemanden zu finden, der das machen will“, sagt Janine Hofmann. 100 Mitglieder hat der Verein, 25 davon sind aktive Schachspieler, nur wenige sind bereit, Verantwortung zu übernehmen.
Doch Einwohnerschwund ist nicht das einzige Problem, mit dem die Ströbecker zu kämpfen haben. Kurz vor dem Auftritt des Lebendschachensembles kommt die CDU-Landtagsabgeordnete von Halberstadt, Frauke Weiß, ins Museum. Wäre sie eine Schachfigur, wäre sie die Dame der gegnerischen Mannschaft: Angriffsstark und dazu fähig, im Alleingang den Gegner mattzusetzen. Aber Frauke Weiß spielt kein Schach.
„Man findet ja heute keinen Parkplatz in Ströbeck. Ich habe mich jetzt irgendwo wild hingestellt“, sagt sie zu Rudi Krosch. Es klingt wie ein Vorwurf. „Hauptsache, ich habe nachher kein Ticket!“ „Ach“, entgegnet Krosch müde und zuckt mit den Schultern. Strafzettel werden heute sowieso nicht verteilt. Und wenn, wäre es ihm egal. „Na na na, was soll das denn heißen?“, erwidert Weiß. „Ströbeck ist schließlich Stadtteil von Halberstadt.“
Krosch verzieht das Gesicht, denn Weiß spielt auf seine größte Niederlage an: 2010 wurde Ströbeck Opfer der Gemeindereform in Sachsen-Anhalt. Das Schachdorf verlor seine Unabhängigkeit und wurde nach Halberstadt eingemeindet. Ein Affront für das kleine, aber selbstbewusste Ströbeck. Und eine Gefahr. Denn egal, ob es um den Erhalt der Schule geht oder um Fördermittel für das Schachmuseum: das hochverschuldete Halberstadt hat eigene Schulen, Museen, Sehenswürdigkeiten. Und wenig Verständnis für Ströbecker Sonderwünsche. Und daran seien Politiker wie Frauke Weiß schuld, meint Krosch.
Seine ganze Hoffnung ruht nun auf Kathrin Baltzer. „Sie ist das Beste, was uns passieren konnte“, sagt Rudi Krosch. Die Theaterwissenschaftlerin ist seit 2007 Leiterin des Schachmuseums und die einzige Mitarbeiterin. Früher einmal hatte sie einen Kollegen, doch die Stelle wurde gestrichen. Halberstadt musste sparen. Und Baltzer fürchtet, dass die Mittel für das Schachmuseum bald noch stärker gekürzt werden.
Auch der historische Schachturm, in dem der gefangene Graf gesessen haben soll, gehört seit 2010 Halberstadt. „Eigentlich müssten die sich auch darum kümmern“, sagt Baltzer. Doch der Turm verfällt: Drinnen liegt ein einsames Schachbrett auf einem Tisch, darauf einige Figuren und eine fingerdicke Staubschicht. Ein Bild, das so gar nicht zu dem stolzen Schachdorf passt. Der Turm ist meistens abgesperrt.
Kathrin Baltzer setzt sich dafür ein, dass Ströbecks Tradition durch die Unesco geschützt wird. Sie schreibt Anträge, sucht Gutachter, dreht einen Bewerbungsfilm. Zunächst müsste es Ströbeck auf die Landesliste schaffen, dann von der deutschen Kommission ausgewählt werden und anschließend von der Unesco. Ein langer Weg, aber er könnte sich lohnen. Einem von der Unesco geschützten Dorf kann Halberstadt nicht einfach die Mittel streichen. Baltzer kämpft für Ströbecks Zukunft als Schachdorf.
Momentan ärgert sich die 40-Jährige mit den Formularen der Unesco herum: „Fassen Sie mal 1000 Jahre Tradition in 500 Zeichen zusammen. Unmöglich.“ Kathrin Baltzer blickt aus dem Fenster: Die Lebendschachpartie ist vorbei, nun stellt sich das Ensemble auf, um einen Tanz aufzuführen. Baltzer greift zur Videokamera. Tanzende Schachfiguren – das muss die Unesco sehen.
Erschienen in VEGAS Magazin – Das Abschlussmagazin der Lehrredaktion 53B der Deutschen Journalistenschule
Erscheinungsdatum: 15.12.2015