Eigentlich soll die Schule ein geschützter Raum sein. Schüler sollen sich geborgen fühlen, vor Mobbing und Diskriminierung bewahrt bleiben. Doch der Ist-Zustand geht oftmals an der Realität vorbei. Vor allem Schüler jüdischen Glaubens haben an öffentlichen Schulen, wo die gängige und oftmals unsanktionierte Beleidigung „Du Jude" über den Schulhof hallt, zu leiden. Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus hat allein in Berlin im vergangenen Jahr 30 antisemitische Vorfälle in Bildungseinrichtungen registriert - die Dunkelziffer dürfte wahrscheinlich höher liegen. Schulen geben nicht gerne zu, dass sie ein Antisemitismus-Problem haben. Vor allem der Nahostkonflikt gilt vielen Schülern als hervorgebrachte Legitimation, antisemitisch zu agieren - und jüdische Schüler, die womöglich keinerlei Kontaktpunkte mit Israel haben, für eine kritisierte Politik des Staates verantwortlich zu machen. Dass eine Meldepflicht für antisemitische Vorfälle eingeführt wird - wie sie der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, fordert - ist ein erster Schritt.
Den Kampf gegen Antisemitismus aber bei der Symptombekämpfung zu belassen, greift zu kurz. Vielmehr bedarf es einer umfassenden Aufklärung über den Nahostkonflikt, aber auch über die israelische Demokratie, fordert Jörg Rensmann. Als Programmdirektor des Mideast Freedom Forum Berlin setzt er sich unter anderem mit Antisemitismus und Israelfeindschaft auseinander. „Antiisraelische Vorbehalte werden nämlich teils vor dem Hintergrund einer erstaunlichen Unkenntnis über die komplexe historisch-politische Konfliktstruktur zwischen Israel und den Palästinensern formuliert", sagt er.
Nun ist es aber Aufgabe der Schule, fehlerhafte Konzepte zu korrigieren und Ressentiments zu bekämpfen. Allein aus pädagogischer Sicht handelt es sich um eine äußerst anspruchsvolle Aufgabe, ein bereits gefestigtes Weltbild aufzubrechen. Die bisherige Sozialisation, aber auch der heute deutlich leichtere Zugang zu Propaganda-Material, verschwörungsideologischen Inhalten und Fake News durch das Internet geben ihren Teil dazu. Umso mühsamer ist es, wenn die schulischen Rahmenbedingungen auch noch defizitär sind.
Noch immer sind Schulbücher das wohl am häufigsten verwendete Medium im Klassenzimmer. Der Anspruch an ihren Wahrheitsgehalt und ihre fachliche Ausgewogenheit muss dementsprechend hoch sein. Sekundär-antisemitische Relativierungen des Nationalsozialismus durch eine Gleichsetzung mit der israelischen Regierungspolitik, die im Kontext des Nahostkonfliktes nur allzu gerne hervorgebracht werden, ließen sich in ihnen zwar nicht finden, so Rensmann. Doch wiesen Schulbuchinhalte oft Verzerrungen auf, die antisemitische Ressentiments der Schüler eher stärken. „Uns ist aufgefallen, dass die Sachtexte, die eigentlich neutral sein sollen, Auslassungen ganz entscheidender Art aufweisen", resümiert Rensmann die Untersuchung seiner Organisation, die vor allem Geschichts- und Geographiebücher unter die Lupe genommen hat. Damit kommt das Mideast Freedom Forum zu den selben Ergebnissen wie die Deutsch-israelische Schulbuchkommission, die schon vor Jahren das Israelbild in Schulbüchern anprangerte. Beispielsweise thematisieren Schulbücher selten, dass jüdische Präsenz im historischen Palästina durchgängig vorhanden war und nicht nach der Diaspora erst um 1880 wieder auftauchte. Im Schulbuch „Forum Geschichte 4" fürs Bundesland Hessen findet sich aber zum Beispiel eine entsprechende Auslassung. „Für Schüler entsteht dadurch ein verkürztes Bild", so Rensmann. Schließlich könnte sich der Mythos entwickeln oder bestärken, Juden seien Eindringlinge.
Besonders problematisch sei aber die Thematisierung des Nahostkonflikts, deren Aufarbeitung ebenfalls große Leerstellen aufweist. Das Schulbuch „Geschichte und Geschehen" für bayrische Gymnasiasten der 10. Klasse möchte anhand einer Spiegel-Reportage aus dem Jahr 2004 mit einem gescheiterten Selbstmordattentäter Beweggründe dafür aufzeigen, warum junge Menschen zu terroristischen Maßnahmen greifen. Neben persönlicher Verzweiflung benennt die Reportage vor allem die Indoktrinierung durch die Terrororganisation Hamas, die allgegenwärtig ist. So zeigt eine Kindersendung des Hamas-eigenen Al-Aqsa TV Plüschtiere, die „alle Juden auffressen" wollen, und auch palästinensische Schulbücher befeuern durch ein konsequent negatives Bild von jüdischen Menschen und Israel den Nahostkonflikt. In der für das Schulbuch gekürzten Version erfahren die Schüler jedoch nur von der Verzweiflung des Selbstmordattentäters - vom Einfluss der Terrororganisation auf die Herausbildung eines antisemitischen Weltbildes ist keine Rede.
„Dass die Indoktrinierung durch die Hamas unerwähnt bleibt, ist ein entscheidender Umstand, der bei der Quellenauswahl fehlt", findet Rensmann. Dadurch werde der Eindruck erweckt, dass palästinensischer Terror nicht kritisiert, sondern rationalisiert und damit legitimiert wird. Solche Verkürzungen verzerren die Bewertung des Nahostkonflikts zugunsten einer bestimmten Partei.
„Aufgrund dieser verkürzten Darstellungen müssen wir befürchten, dass die Reflexionsfähigkeit der Schüler nicht gegeben ist, weil gängige Klischees vermittelt werden, sodass sie keine faktengestützte Analyse vornehmen können", so der Politikwissenschaftler weiter. Die notwendige Basis, antisemitische Stereotype zum Beispiel auch in den Medien oder in Rap-Texten zu erkennen, erhalten die Schüler durch die lückenhafte Vermittlung jedenfalls nicht. Auslassungen dieser Art stehen vielmehr im Konflikt mit dem Überwältigungsverbot, der im Beutelsbacher Konsens als einer der Grundsätze politischer Bildung festgeschrieben ist. Schüler dürfen nicht im Sinne einer gewünschten Meinung - zum Beispiel durch die privilegierte Darstellung einer Position oder durch Aussparungen wichtiger Informationen - überrumpelt werden. Genau hier verläuft die Grenze zwischen politischer Bildung und Indoktrinierung.
Auch wenn sich die Schulbuchverlage mittlerweile bewegen und Revisionen kritischer Texte vornehmen, bestünde noch viel Änderungspotenzial, sagt Rensmann. Das vermittelte Bild von Israel sei noch immer das eines kriegsführenden Krisenstaates - über das deutsch-israelische Verhältnis oder das politische System erfahren die Schüler hingegen nichts. „Die Besonderheit Israels als liberale Demokratie in einem nicht-demokratisch geprägten regionalen Umfeld wäre darzustellen", fordert er. Denn die Auseinandersetzung mit Antisemitismus dürfe nicht einzig auf einer historisch-politischen Ebene verhaftet bleiben, sondern müsse auch die aktuellen Erscheinungsformen in den Fokus nehmen. Wie der Antisemitismusbericht der Bundesregierung zeigt, offenbart sich vor allem der Islamismus als neuer Träger von Antisemitismus. Hinzu kommt, dass etwa 20 Prozent der Bevölkerung latent antisemitisch eingestellt sein sollen - Antisemitismus ist also kein rein importiertes Phänomen.
In dieser Situation stehen Lehrer vor großen Herausforderungen. Inwiefern sie denen gerecht werden können, bleibt fraglich. „Bis heute gibt es selten wirksame pädagogische Angebote, die sich fokussiert mit den besonderen Ressentiments, Vorurteilen und negativen Konnotationen gegen den jüdischen Staat beschäftigen ", sagt Rensmann. Das Mideast Freedom Forum biete zwar Tagesseminare an, die sich mit dem Nahostkonflikt und der israelischen Demokratie auseinandersetzen und von Lehrern und politischen Bildern gut besucht würden. In der Lehrerausbildung komme die Sensibilisierung mit Antisemitismus und dem Nahostkonflikt jedoch viel zu kurz. Ohne fachwissenschaftliche Expertise können fachdidaktische Prinzipien allerdings nur schwer Anwendung finden. Das muss sich ändern, findet der Politikwissenschaftler. Es müsse verpflichtend zur universitären Ausbildung von Lehrkräften - vor allem in den Gesellschaftswissenschaften - gehören, sich mit Theorie und Erscheinungsformen von Antisemitismus und seinen modernen Ausprägungen zu beschäftigen. Nur so sei es möglich, das Versprechen der bundesrepublikanischen Staatsräson konsequent zu erfüllen und mit der historischen Verantwortung sensibel umzugehen, so Rensmann.