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Radio-Beitrag

Die Anderen

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Toleranz ist ein Fremdwort. Vielleicht tun wir uns deswegen so schwer damit. Toleranz klingt nach Zahnarzt und Wartezimmer, das Wort erwärmt keine Herzen, es inspiriert nicht. "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit": so klingen die großen Versprechen der Demokratie. Niemand skandierte "Freiheit, Gleichheit, Toleranz". Und die Leute, die auf Demos Schilder hochhalten, auf denen Toleranz steht, sind sowieso Spielverderber.

Toleranz hat ein schlechtes Image. Nicht nur unsexy, auch herablassend. Toleranz ist heute ein Lippenbekenntnis, ein performativer Akt. Man spricht es aus, und schon ist man es. Es gehört zu einem Ritual, zu einem Glas Wein auf dem Balkon: Hm, diese Intoleranz der Anderen. Warum verstehen die Menschen denn bloß nichts? Schlimm, schlimm. Und die Sache ist erledigt.

Toleranz ist ein richtiges Feindbild. Seit ein paar Jahren, seit den ersten Büchern von Thilo Sarrazin, dem Erfolg von Akif Pirinci und dem Aufstieg der AfD wächst die Zahl der Leute, die eine Diktatur der political correctness an die Wand malen. Und „Toleranz“ steht für diese Leute ganz oben auf der Liste des ihnen verhassten politischen Neusprechs.

Aber solche Leute kann man eh nicht ernst nehmen, oder? Alles Schreihälse mit zu hohem Blutdruck. Toleranz ist eben anstrengend, muss aber sein. Oder?

Betrachten wir die Gegenseite: Wie fühlt es sich an, toleriert zu werden? Anders gesagt: Jemand zu sein, der toleriert werden muss? Toleranz teilt die Gesellschaft in Tolerierende und Tolerierte. Und beide Seiten empfinden das als Belastung. Die einen meckern bloß über political correctness. Aber die anderen fühlen sich wie etwas, das einer Gesellschaft zugemutet werden muss: wie Karies auf den Zähnen der Mehrheitsgesellschaft.

Das Konzept der Toleranz hat ein paar Probleme: Es liefert keine positive Vision, nur eine barsche Anweisung: Halt’s aus. Und es wird meist zur Kritik verwendet. Meistens begegnet uns die Toleranz als Teilwort, mit Vorsilbe. Auch das ist ein Grund, warum das Wort so viele nervt. Viel schlimmer aber: Toleranz spaltet. Es betont die Differenzen der Menschen mehr als ihre Gemeinsamkeiten. Die Anderen…bleiben die anderen.

Der amerikanische Philosoph Richard Rorty sah sich einmal ganz drängend mit der Frage der Andersartigkeit konfrontiert. Es war 1993, im ehemaligen Jugoslawien schlachteten sich Serben, Bosnier und Kroaten ab. Den Westen interessierte das noch wenig, in Deutschland raunte Verteidigungsminister Volker Rühe: „Ich bin nicht bereit, das Leben deutscher Soldaten für Länder zu riskieren, deren Namen wir noch nicht einmal richtig buchstabieren können.“

Die Frage, die sich Rorty stellte, war also: „Warum soll ich mich um einen Fremden kümmern, mit dem ich nicht verwandt bin, und dessen Gewohnheiten mich anwidern?“ Man könnte diese Frage klassisch beantworten: Es ist deine Pflicht. Alles andere wäre doch rassistisch, etc. Rorty aber sagte: „Eine bessere Antwort gibt man, indem man eine jener langen, traurigen, rührseligen Geschichten erzählt, die etwa so beginnen: Denn ihre Mutter würde um sie trauern…’“

Ihre Mutter würde um sie trauern. Wirklich? Das soll die Antwort sein? Eine lange, traurige Geschichte? Aber denken Sie darüber nach: Eines der erfolgreichsten Bücher des 19. Jahrhunderts war eine lange, traurige Geschichte: „Onkel Toms Hütte“, die Geschichte einer Sklavenfamilie in Kentucky, von Harriet Beecher Stowe. Scharenweise bekam die Autorin tränenbefleckte Briefe von ihren Lesern. Zu Hochzeiten des amerikanischen Bürgerkriegs soll Präsident Lincoln Stowe einmal im Weißen Haus empfangen und zu ihr gesagt haben: Sie sind also die kleine Frau, die das Buch geschrieben hat, das diesen großen Krieg verursacht hat.

Rortys traurige Geschichten liefern einen fassbaren Kern für all die abstrakten Konzepte Toleranz und Menschenrechte. Sie belehren nicht, sie erzählen. Sie betonen die Gemeinsamkeiten der Menschen, nicht ihre Unterschiede. Die Anderen…werden Brüder und Schwestern, sie werden Einer von uns. „Onkel Toms Hütte“ machte Afroamerikaner zu Brüdern. „Germinal“ von Émile Zola machte Wanderarbeiter zu Brüdern. Radclyffe Halls „Quell der Einsamkeit“ machte lesbische Frauen zu Schwestern. Sie alle wurden Teil einer politischen Familie. Einer Familie, die an die großen Versprechen der Demokratie glauben kann: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.

Bayern 2, Jazz&Politik, vom 15. November 2014.