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Radio-Beitrag

Adé Égalité

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r größer g, sagt Thomas Piketty. Bedroht die berüchtigte Schere die Demokratie?

Weil das hier ja ein Essay über Wirtschaft wird, fangen wir mit ein paar Zahlen an: In den letzen dreißig Jahren wuchs die Produktivität der amerikanischen Wirtschaft um 80 Prozent. Das Einkommen des reichsten Prozents der Bevölkerung, des berühmten „One-Percent“, wuchs um 270 Prozent. Das Einkommen des ärmsten Fünftels der Amerikaner: fiel um 4 Prozent. Die Vereinigten Staaten sind heute ein Land, in dem die Reichen so reich und die Armen so arm sind wie seit fast 100 Jahren nicht mehr. Aber: Offenbar haben das die amerikanischen Bürger so gewollt. Denn in den diesen letzten dreißig Jahren haben sie Präsidenten gewählt, die kaum etwas anderes getan haben, als Steuern zu senken: von 70 auf zuletzt unter 40 Prozent.

Also alles kein Problem, oder? Es ist offensichtlich demokratisch abgelaufen. Was soll also dieses ganze Gerede von der „Schere zwischen Arm und Reich“, die die Demokratie bedroht? Schließlich bedeutet der Satz „Alle Menschen sind gleich“ nicht automatisch: Alle Menschen sollen gleich viel haben. Niemand verbietet Armen das Wahlrecht, also ist Ungleichheit kein Problem für Demokratien. Oder?

Manche sagen, Demokratie brauche die Ungleichheit – denn Ungleichheit gehört zu einer freien Marktwirtschaft. Die Argumentation geht so: Nur freie Märkte bringen freie Menschen hervor. Es gibt keine Demokratie ohne Kapitalismus. Und wer sich über Ungleichheit beklagt, der ist eben neidisch: Neidisch auf den Nachbarn mit dem Pool und dem Porsche im Garten. Aber im Grunde ist dieser Nachbar doch harmlos, wesentlich harmloser jedenfalls als der gierige Staat, der an unsere Sparbücher will. Er bedroht unsere Freiheit, permanent. Deswegen funktioniert der Staat dann am besten, wenn er sich bloß um ganz elementare Grundrechte kümmert – und sich sonst heraushält. Der Rest ist dann das freie Spiel der Kräfte – und jeder hat ja eine Stimme, die gleich viel zählt.
An dieser Argumentation ist schon etwas dran: Tatsächlich bedeutet Demokratie in der einfachsten Formulierung: Jede Stimme gilt gleich viel. Es gibt da allerdings ein paar Dinge mit politischer Wirkung, die Reiche besser können als Arme:

1. Reiche sind überall auf der Welt willkommen. Das bedeutet: Sie können sich ihren Staat aussuchen.
2. Reiche sind große Gourmands – und treffen sich beim Mittag- oder Abendessen gerne mit Politikern, um ein paar Dinge zu besprechen.
3. Reiche sind Arbeitgeber. Sie haben Jobs anzubieten, die sich müde Politiker nach einem harten Lebenswerk wünschen könnten.
Eins nach dem Anderen: Unternehmen sind mobiler als Staaten. Sie sind überall zuhause, also meistens dort, wo die Steuern niedrig sind. Amazon zahlt ein ganzes Prozent Steuern in Europa, Google immerhin schon fünf. Dem Staat fehlt dieses Geld – und Menschen, die auf den Staat angewiesen sind, auch. Außerdem ist allein schon die Drohung, ins Ausland zu gehen und Arbeitsplätze mitzunehmen, ein gutes Mittel, um Entscheidungen zu beeinflussen.

Der zweite Punkt, Lobbyismus. In Washington, so schätzen Wissenschaftler, arbeiten bis zu 100.000 Lobbyisten, in Brüssel und Straßburg sind es 20.000. Klar kann man jetzt sagen: Lobbyismus ist legal und schließlich lobbyiert ja nicht nur die Finanzindustrie oder der europäische Verband der Dämmstoffhersteller, sondern auch Greenpeace - aber: All das kostet Geld und wer mehr zahlt, der sitzt öfter mit Politikern am Mittagstisch. Und ja: Die sehr knappe Zeit gewählter Vertreter lässt sich so kaufen. Wer sich einmal angeschaut hat, wie viel vom Text der letzten europäischen Datenschutzverordnung von Lobbyisten geschrieben wurde, weiß: Lobbyismus lohnt sich. Wirklich.

Der letzte Punkt: Das Drehtür-Prinzip. Politiker wechseln in die Wirtschaft und umgekehrt. Lässt sich alle paar Jahre nach den Wahlen beobachten, zuletzt bei Dirk Niebel, Roland Pofalla und Eckart von Klaeden. Von konservativen und liberalen Politikern sind wir so etwas jaauch gewohnt, aber: Heute machen das auch Sozialdemokraten und sogar Grüne! Jeder fünfte Minister oder Staatssekretär aus dem Kabinett Schröder II wechselte nach 2005 die Seiten, um Unternehmen ein bisschen sozialer oder grüner anzustreichen. Viele Politiker freuen sich schon während der Amtszeit auf ihren wohlverdienten Ruhestand in der freien Wirtschaft und werden dabei gefällig. So zum Beispiel Stephan Mappus. Mappus, früher Ministerpräsident von Baden-Württemberg, ließ sich beim Rückkauf von EnBW-Aktien von Dirk Notheis beraten, Deutschland-Chef von Stanley Morgan. Mappus bekam Mails von seinem alten Freund aus Junge-Union-Zeiten und musste sich Sätze anhören wie: „Du solltest nach Aufforderung durch mich Folgendes ausführen…“

All diese Vorteile – Drohungen, Kontakte, Köder – bedeuten handfeste politische Macht: für die, die sie sich leisten können. Und das ist tatsächlich bedrohlich für die Demokratie: Denn Demokratie verspricht zwei Dinge, Freiheit und Gleichheit. Sie verspricht jedem den gleichen Einfluss und sie gibt jedem das Recht, beim nächsten Mal anders zu wählen.

Damit dieses System funktioniert, setzen wir einige Dinge voraus. Bürger müssen erstens wissen, was ihre Repräsentanten den ganzen Tag so tun und sie zweitens dafür zur Rechenschaft ziehen können.
Und jetzt erleben wir, dass Entscheidungen am Mittagstisch gefällt werden, und zwar auch von Leuten ohne Mandat. Wir erleben, dass es weniger Unterschied macht als früher, wen wir wählen: Die großen Steuersenkungen in Europa und den USA sind von Mitte-Links-Regierungen durchgebracht worden, gut beraten von Lobbyisten und Unternehmensberatern. Eine politische Klasse im weiteren Sinne regiert die westlichen Demokratien. Und unten? Ist nicht mehr viel, was sich dieser Demokratie verbunden fühlt: Gewerkschaften, die keine Mitglieder mehr haben, Proletarier, die keine Arbeiter mehr sind, ein stabiler Sockel von Langzeitarbeitslosen. Das untere Ende der Gesellschaft geht nicht mehr wählen, es organisiert sich nicht mehr, es geht nicht mehr auf die Straße. Kurz: politisch hat es aufgehört, zu existieren.

Hier liegt der Grund, warum Ungleichheit die Demokratie bedroht: Weil die, die entscheiden, wie wir leben, immer weniger werden.

Bayern 2, Jazz&Politik, vom 25. Oktober 2014.