1 Abo und 3 Abonnenten
Radio-Beitrag

Europe is lost. Mehr Demokratie wagen

Wird geladen ...

Seit einer guten Woche gibt ein neues Bild für den verzweifelten Zustand der Europäischen Union: Die kanadische Handelsministerin Chrystia Freeland, wie sie den Tränen nahe erklärt, warum sie die Verhandlungen mit der EU und Wallonien gerade abgebrochen hat. Freeland sagte: „Es ist offensichtlich für mich, für Kanada, dass die Europäische Union im Moment nicht zu einem internationalen Abkommen in der Lage ist.“ Sie sagte nicht „bereit ist“, sie sagte: „nicht in der Lage.“ Handlungsunfähig. Blockiert.

Für manche ist Wallonien, der französisch geprägte Südteil Belgien, gerade so etwas wie das Kuba Europas. Eine kleine rote, sozialistisch regierte Insel inmitten eines europafahnenblauen konservativen Kontinents. Ein Widerstandsnest gegen Freihandel, konzernfreundliche Wirtschaftspolitik, Neoliberalismus. Wer die Sache so sieht, meint: In Wallonien wird die wahre Demokratie hochgehalten. Andere dagegen sagen: Wallonien sabotiert und lähmt die Union. Schaut Euch doch bloß Chrystia Freeland an: Wir bringen sogar Kanada zum Weinen, das freundlichste Land der Welt!

Wenn man zuhört, wie diese Lager diskutierten, bleibt eines hängen: Demokratie und die EU vertragen sich nicht gut. Entweder haben wir eine handlungsfähige Union, dann sollte aber nicht alles und jedes gleichzeitig von Kommission und EU-Parlament beschlossen, im EU-Rat einstimmig angenommen, 27 nationalen Parlamenten von Estland bis hinunter zur Regionalregierung der Wallonie vorgelegt und dem französischen, irischen, niederländischen und dänischen Volk als Referendum gestellt werden. Oder aber wir haben Demokratie, dann können wir aber folgendes vergessen: CETA, TTIP, eine Reform der europäischen Institutionen, eine gemeinsame Asylpolitik, und so weiter.

Demokratie oder eine funktionierende EU – ist das wirklich ein Grundwiderspruch? Der Harvard-Wirtschaftsprofessor Dani Rodrik hat einmal eine Theorie dazu aufgestellt, das „politische Trilemma der Weltwirtschaft“. Sie besagt: Demokratie, nationale Selbstbestimmung und Globalisierung sind ein Stück weit inkompatibel. Man kann nur zwei von dreien haben. Denn wenn man einen ökonomisch stark integrierten Wirtschaftsraum will, wie die EU einer ist, dann braucht man einheitliche Regeln und Handelsvorschriften, man muss Zölle abbauen und die Grenzen öffnen. Möchte man in so einem Wirtschaftsraum, dass weiterhin Nationalstaaten die Entscheidungen treffen, dann muss man sie in eine „goldene Zwangsjacke“ stecken, wie Rodrik das nennt. Denn die Staaten müssen den Bedürfnissen der Globalisierung oder des gemeinsamen Wirtschaftsraums entsprechen.

Das ist das, was wir bei der Verhandlung um CETA gerade erleben. Man kann das Abkommen nicht sämtlichen Parlamenten und Regionalparlamenten Europas vorlegen und erwarten, dass alle mit Ja stimmen – zumindest ist es grob unrealistisch. Man kann so lange nachverhandeln, bis alle einverstanden sind – dann aber gibt es für die einzelnen Mitgliedsstaaten keine wirkliche Entscheidungsfreiheit mehr, weil eigentlich nur eine Option legitim ist.

Man könnte sich natürlich gegen CETA entscheiden.

Das Problem ist nur: es geht nicht nur um CETA. Es gibt längst einen gemeinsamen europäischen Wirtschaftsraum, der immer neue Probleme mit sich bringt: Wer haftet für Schulden in der Eurozone? Welche Regeln gelten für europäische Banken? Gleichzeitig sind es die Staaten, die über die Lösung der Probleme entscheiden. In der Eurokrise setzte sich Deutschland mit der Sparpolitik durch. Griechische Parlamentsbeschlüsse oder Volksabstimmungen konnten daran nichts ändern. Die EU hat sich in Rodriks Trilemma für wirtschaftliche Integration und Nationalstaaten entschieden. Auf der Strecke bleibt die Demokratie, denn die Entscheidungen der Wallonen oder der Griechen oder wie früher, in Volksabstimmungen, der Franzosen oder Niederländer können nicht berücksichtigt werden, wenn sie nicht richtig, also im Sinne des Binnenmarktes, getroffen werden.

Es gibt noch zwei Auswege: Man könnte auf wirtschaftliche Integration verzichten. Allerdings müsste man dafür die Geschichte der EU seit der Montanunion rückgängig machen – das wäre aufwendig, teuer und politisch schwer umsetzbar.

Oder aber: Die Staaten geben nationale Souveränität ab. Und zwar an eine demokratische Institution, die über ihnen steht. Das Europäische Parlament. Mehr Demokratie wagen – auf europäisch heißt das: weniger nationale Souveränität haben.

Stellen wir uns das kurz vor: Ein solches Parlament würde gemeinsam über das entscheiden, was alle gemeinsam angeht, über Handelspolitik und Abkommen. Weiter gedacht: über die Wirtschaftspolitik der EU. Über Klimapolitik. Über Asylpolitik. Es gäbe keine nationalen Vetos mehr, die man doch umgehen müsste. Keine Erpressungspolitik und keine Referenden, die doch nicht zählen und so das Demokratische verhöhnen.

Das wäre ein Traum.

Es ist ein Traum, weil das Europäische Parlament dafür noch viel zu wenig demokratisch legitimiert ist. Kaum jemand kennt die Namen der Europaabgeordneten des eigenen Wahlkreises. Nicht mal jeder Zweite wählt. Das EU-Parlament müsste zum zentralen Ort der Auseinandersetzung in Europa werden. Das ist es aber nicht: De facto regiert dort eine große Koalition aus konservativer EVP und Sozialdemokraten, die sich gemeinsam gegen die Euroskeptiker und Anti-EU-Fraktionen von rechts stellen. Das heißt: Gestritten wird, ob wir mehr oder weniger Europa brauchen. Das ist wichtig, aber es ist bloß eine institutionelle Frage. Es wird zu wenig über die zentralen Fragen geredet, wie wir mit Schulden in der Eurozone umgehen. Ob es weitere Sanktionen gegen Russland geben soll. Über Asylpolitik.

Das sind Fragen, die viele interessieren und die eine demokratische Arena gehören. Derzeit aber werden sie von Staats- und Regierungschefs im Europäischen Rat ausgehandelt.
Ein supranationales, wirklich demokratisches Europa liegt in weiter Ferne. Großbritannien ist ausgetreten, Frankreich wird im nächsten Jahr möglicherweise Marine Le Pen zur Präsidentin wählen und die Niederlande Geert Wilders. Das politische Momentum läuft also genau in die andere Richtung.

Trotzdem: Träume sind wichtig, weil sie Orientierung geben und den Weg weisen. Eine europäische Demokratie – hätte die Flüchtlingskrise besser überstanden. In einer europäischen Demokratie wäre die Finanzkrise nicht so eskaliert. Es wäre ein Europa, in dem man sich nicht immer wieder zwischen Demokratie und gemeinsamem Handeln entscheiden muss.

Und es wäre ein Europa, das Kanada nicht zum Weinen bringt.

Jazz & Politik, 29. Oktober 2016

http://www.br.de/radio/bayern2/politik/jazz-und-politik/europa-verloren-demokratie-100.html