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„Angehörige sind der Pflegedienst der Nation"

Credits: Bild von Sabine van Erp auf Pixabay

In Deutschland werden die meisten pflegebedürftigen Menschen zuhause betreut. Diese unbezahlte Sorgearbeit wird noch immer vor allem von Frauen geleistet. Ein Beitrag über Motivation, Hindernisse und Lösungsansätze.


Karin Lehmann und ihr Vater haben eine schlaflose Nacht hinter sich. „Er litt unter starker Verstopfung, deswegen mussten wir den Notarzt rufen", erzählt sie am Telefon und fügt hinzu, „Solche Situationen sind nicht außergewöhnlich. Er wacht mindestens dreimal, manchmal bis zu achtmal pro Nacht auf und klingelt nach mir. Manchmal ist er verwirrt und weiß nicht, welche Tageszeit ist, manchmal muss er zur Toilette."


Seit 20 Jahren pflegt die alleinerziehende Mutter von drei Töchtern ihren Vater, der vor kurzem 99 Jahre alt geworden ist. Sie sei in diese Aufgabe hineingerutscht, weil sie als einziges von drei Geschwistern noch im Haus der Eltern lebte, erzählt sie. „Ich konnte gar nicht drüber nachdenken, ob das gut oder schlecht für mich ist. Es war eine Selbstverständlichkeit." Zunächst übernahm Lehmann die Pflege ihrer krebskranken Mutter. Nach deren Tod, half sie ihrem Vater bei bürokratischen Aufgaben. Heute hat er Pflegegrad fünf ─ und damit die höchstmögliche Pflegestufe.


In Deutschland werden drei Viertel aller pflegebedürftigen Menschen, Kinder wie Erwachsene, von Familienangehörigen mit oder ohne ambulante Hilfe zuhause versorgt und nicht in Alten- oder Pflegeheimen. Das entspricht laut Statistischem Bundesamt zur Zeit etwa 2,59 Millionen Menschen. Tendenz steigend.


Wenn auf Pflegearbeit Altersarmut folgt

Unlängst hat die AOK Sachsen-Anhalt darum dem Institut für Gesundheits- und Pflegewissenschaft der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg eine wissenschaftliche Analyse in Auftrag gegeben. Deren Ausgangsfrage: Wie kann die Kasse pflegende Angehörige besser unterstützen?


Zentrales Ergebnis der Befragung von 183 Betroffenen aus Halle (Saale) und dem Burgenlandkreis: Die Pflegesituation in Deutschland ist für die meisten ein undurchsichtiger Dschungel. Die vielen unterschiedlichen Angebote mit ihren ganz eigenen Begrifflichkeiten und Regularien verstehen die wenigsten. Fazit: Krankenkassen sollten darum individuelle Beratungstermine anbieten, die zeitlich auf die Pflegenden abgestimmt sind. Umfangreiche Beratungen rechneten sich auch für die Kassen selbst, da die Angehörigen somit länger selbst pflegen könnten. Was die Kassen deutlich billiger kommt.


Das heißt, Kinder sollen sich weiterhin um ihre Eltern kümmern und (Ehe-)Partner*innen so lange wie möglich füreinander da sein. Deutschlandweit bedeutet das, dass vor allem Frauen zwischen 55 und 64 Jahren für Angehörige sorgen. Dieser Erkenntnis entsprechen auch die Ergebnisse in Halle und Umgebung. Dort leisten mit 63 Prozent überwiegend Frauen diese spezielle Sorgearbeit. Im Burgenlandkreis sind es sogar 75 Prozent.


Die ungleiche Arbeitsteilung unter den Geschlechtern führt dazu, dass Frauen neben der häuslichen Pflege nicht Vollzeit arbeiten können. Dr. Anja Bieber, die am Institut für Gesundheits- und Pflegewissenschaft der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg arbeitet und am Projekt mit dem Titel „Pflegende Angehörige bedarfsgerecht unterstützen" beteiligt war, berichtet, dass nur knapp die Hälfte der weiblichen Befragten berufstätig gewesen sei. „Und die Hälfte dieser Berufstätigen schätzt ein, dass sich Pflege und Beruf schlecht miteinander vereinbaren lassen."


Was für Folgen unbezahlte Sorgearbeit auf Dauer haben kann, hat ein Gutachten des Sozialverbands Deutschland 2019 erneut festgehalten: So rutschen ausgerechnet viele sorgende Angehörige in Altersarmut. Auch Karin Lehmann arbeitet pro Woche gerademal 20 Stunden bei einem Dienstleistungsunternehmen und hat somit nicht viel Geld zur Verfügung. Bislang waren ihre Arbeitszeiten gut mit der Pflegearbeit vereinbar, da ihr Vater morgens und abends jeweils eine Stunde von einer ambulanten Pflegekraft versorgt wird. Außerdem ist er dreimal wöchentlich in einer Tagespflege-Einrichtung untergebracht. Und: „Wir haben eine Art Pflegenetzwerk von verschiedenen Familienangehörigen: Wenn einer geht, dann kommt der nächste." Da ihr Vater häufig stürzt und zudem verwirrt ist, kann er nicht alleine bleiben.


Ausgeprägte familiäre Verpflichtung

Dann kam Corona: Die Tagespflege-Einrichtungen wurden geschlossen. Lehmanns Beruf erlaubt kein Homeoffice, darum nahm sie zunächst ihren gesamten Jahresurlaub von sechs Wochen auf einmal. Danach halfen ihre drei erwachsenen Töchter mit. Schließlich wurde Karin Lehmanns Antrag auf häusliche Tagespflege für ihre Arbeitszeiten angenommen und von der Pflegekasse bezahlt. Anspruch gibt es darauf nicht. Das weiß auch Lehmann und nennt sich einen „Einzelfall". „Ich habe das einfach gemacht und hatte Glück."

Sich politisch zu engagieren, öffentlich Druck zu machen, um für mehr Unterstützung pflegender Angehöriger zu werben, selbst dafür hat Karin Lehmann sich eingesetzt. Doch sie musste einsehen: „Wer hatte zu Beginn der Corona-Krise schon Zeit dafür? Es gab Existenzängste in den Familien."


„Angehörige sind der Pflegedienst der Nation", fasst Anja Bieber die Bedeutung der häuslichen Pflege zusammen. Über die Lobby dieser für das Funktionieren der Gesellschaft so relevanten Gruppe sagt sie: „Pflegende Angehörige agieren im Hintergrund. Es gibt keine Option zu sagen: Wir streiken! Denn dann bricht alles zusammen." Die Wissenschaftlerin weiß auch um die prekäre Lage in ganz Europa. „Die familiäre Verpflichtung ist besonders in den südlichen Ländern ausgeprägt", erklärt Bieber. Gleichzeitig sei es dort aber verbreitet, eine Haushaltshilfe in Anspruch zu nehmen, die in die Kinder- und Altenpflege einbezogen werde.


Gründe für die momentane schwierige Gestaltung der häuslichen Pflege sind laut Anja Bieber der Mangel an Alternativen und der ungeschriebene Generationenvertrag. Diesem fühlt sich Karin Lehmann verpflichtet. „Ich mache Dinge, von denen ich mir nicht hätte vorstellen können, dass ich sie machen würde. Aber ich denke mir: Als ich ein Kind war, hat mein Vater auch Dinge gemacht, die er sich nicht hätte vorstellen können." Und nach einer kurzen Pause fügt sie an: „Ich brauche keine Anerkennung für das, was ich mache, ich will nur, dass es mir nicht auch noch schwerer gemacht wird."

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