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Spannungsfeld überm Blütenmeer: Lavendel-Bauern in der Provence klagen über Influencer

Violett und blau blüht der Lavendel im Hochsommer. Die Felder der Provence scheinen schier endlos. Bis zum Horizont reiht sich Pflanze an Pflanze. Im Abendlicht leuchten die sanften Wellen des Blütenmeers fast überirdisch. Mittendrin steht eine Frau im wallend weißen Kleid. Scheinbar allein und der Natur so nah: ein romantisches Idealbild.

Und noch eins und noch eins und noch eins. Kein Ende zu nehmen scheinen auch der Hashtag #lavenderfields und die Ortsmarke des Valensole-Plateaus auf Instagram. Influencer und solche, die es gerne wären, lassen sich in den Lavendelfeldern fotografieren – wahlweise allein, mit Partner, Kind, Hund oder Pferd.

Die „Instagramability“ des Ortes wird mittlerweile als Qualitätsmerkmal für Besucher angeführt. „Viele Influencer um dich herum machen Instagram-Aufnahmen:)“, kommentiert ein Nutzer bei Tripadvisor und vergibt fünf von fünf Punkten. Allein die schiere Menge dieser um Einzigartigkeit bemühten Fotos führt das Anliegen ad absurdum – und bekräftigt die Schilderungen des Fotografen Paul Reiffer, der sich kürzlich auf seinem Blog über diese Urlaube fürs Foto echauffierte.

Reiffer erzählt von Zuständen, die ihn an ein Filmset erinnerten: Die umliegenden Landstraßen waren zugeparkt. Die Besitzer der Autos zerrten Outfit um Outfit aus dem Kofferraum, trampelten rücksichtslos über die Felder und rissen Blumen ab, um die gepflückten Sträuße versonnen dem Himmel entgegen zustrecken. Klack, klack, klack – und Ende der Pose.

Immer weiter hinein in die Felder seien die Scharen von Fotografierenden gedrungen, sagt Reiffer, bemüht die Illusion aufrechtzuerhalten, sie wären dort allein. Etwa 150 Leute hätten sich auf und um das Feld geschart, als er Anfang Juli dort war. Auch eine Absperrung habe sie nicht abgehalten, sie seien einfach darüber gesprungen. „Es geht den Leuten darum, zu zeigen, wie toll ihr Leben ist, deswegen wollen sie im Bild sein. Ein schönes Foto von den Feldern kann man auch vom Rand machen, das reicht ihnen aber heute nicht mehr.“

Die Begeisterung für das Motiv kommt nicht von ungefähr. Im Juni präsentierte das Modelabel Jacquemus in den Lavendelfeldern von Valensole seine Herbstkollektion – in Abstimmung mit den Bauern. Schließlich sind die entstehenden Bilder auch Werbung für ihre Arbeit und Lebensgrundlage: den Lavendel. Ein pinkfarbener Teppich wies den Weg durch die blühenden Büsche und bildete einen phantastischen Kontrast zu der französischen Landschaft als Inspirationsquelle des Designers. In den achtziger- Jahre-inspirierten Entwürfen schienen die Models einem französischen „Call Me By Your Name“ entstiegen. Leichtfüßig durchschritten sie das entstandene Spannungsfeld zwischen der Grundidee der Romantik, von der Flucht des Menschen vor der Leistungsmaxime der fortschreitenden Industrialisierung in die Ruhe der Natur, und der naiven Technikbegeisterung der achtziger Jahre, als der Mond noch näher schien als Plastikinseln in den Weltmeeren. <NO1>Die romantische Flucht ins Somnambule vor der zunehmenden Industrialisierung und dem Beginn der Leistungsmaxime, den Grundzügen kapitalistischen Denkens, wird kontrastiert mit den retrofuturistischen Träumereien der achtziger Jahren. Damit stellte die Schau die Fragen der Gegenwart.

Die unbefriedigende Antwort dieser Zeit führen die Influencer ins Feld. Dort laufen und liegen sie, und stellen sich zur Schau als – und für – das Konsumprodukt. Uhren, Parfums, Sommerkleider und Strohhüte sind häufig die eigentlichen Protagonisten der Inszenierung. Auch ohne direkte Produktplatzierung ist jedes Bild Investment. Die Währung: Follower und Likes. Bei Instagram sind es Herzen, denn die Profitkalkulation darf eben nicht als solche erkennbar sein, damit sie funktioniert.

Das Lebenswerk ganzer Bauernfamilien wird zur Kulisse degradiert. Für ein Produkt, dessen modische Halbwertszeit meist kürzer ist als der Blütenstand der Pflanzen. Dem hehren Ziel des perfekten Fotos verpflichtet, stehen die Influencer über diesen Dingen, steigen dafür sogar auf eigens mitgebrachte Trittleitern und werfen sich hinein ins Blütenmeer.

Die Bauern in Valensole wollten sich das schließlich nicht länger ansehen – weder analog noch digital. Weil sie sich nicht anders zu helfen wussten, hängten sie ein handbeschriebenes Transparent an den Baum, der Fluchtpunkt vieler Aufnahmen gewesen war. „Bitte respektiert unsere Arbeit.“, baten sie dort durch die Blumen, um die es geht. Zu Journalisten sagten sie: „Unsere Herzen brechen, wenn wir sie durch die Felder springen sehen.“ Anstatt als Verlierer von diesen zu gehen, entschieden die Betreiber einer englischen Lavendelfarm in Surrey, das Spiel mitzuspielen – und fortan Eintritt zu verlangen.

Nicht nur der Lavendel ist von dem Hype betroffen, der durch Instagram-Bilder entsteht und weitergetragen wird. Im Frühjahr berichteten niederländische Tulpenbauern von unkontrollierbaren Touristenströmen, die zwischen den roten und gelben Tulpen einen finanziellen Schaden von 10.000 Euro verursachten. Die Ignoranz sei das Hauptproblem, hieß es damals. Der Tourismusverband gab schließlich eine Verhaltensanweisung für die Tulpen-Selfie-Jäger heraus. Im Jahr zuvor hatte eine Sonnenblumenfarm in Amerika die Zustände mit einer Zombie-Apokalypse verglichen und alle Touristen ihres Geländes verwiesen. Bei diesen Meldungen verwundert nur die bisher ausbleibende Begeisterung für Narzissen, sollte man doch meinen, sie wären den Instagram-Apologeten die liebsten.

Die virtuelle Anerkennung lässt Grenzen vergessen, die des eigenen Körpers, die des Anstands, die der Scham, die der Vernunft und allen voran die des Respekts. An jeder Touristenattraktion, im letzten vermeintlich ausgestorbenen Winkel Norwegens, in Tschernobyl und sogar am Mount Everest entstehen Schlangen, um heute ein Foto zu bekommen, morgen eins von Heidi und übermorgen endlich den Werbedeal – mit Unternehmen, die durch ihre Geschäftspraktiken der Umwelt schaden. Vielleicht sollte der ein oder andere Influencer beim nächsten Blick in den Spiegel etwas genauer hinsehen.


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