Das Geschäft mit Wohnmobilen boomt nicht, es ist explodiert. Ich würde gern nach Wladiwostok. Dazu brauche ich ein Expeditionsfahrzeug und eine reiche Tante.
Ich tue jetzt einfach mal so, als hätte ich eine reiche Tante vierten Grades. „Gerlinde“ klingt doch ganz nett, und der habe ich vielleicht vor über zehn Jahren bei der Gartenarbeit geholfen. In meiner Vorstellung hat sie Holunderlimonade gemacht, Whoopie Pies gebacken und auf der schattigen Veranda ihrer Gründerzeitvilla kredenzt. Während ich japanische Faserbananen bewässerte und Nacktschneckenfallen auslegte, saß sie in ihrem Schaukelstuhl und trank einen Matcha Latte zum Nachmittagsjoint.
Jedenfalls muss Tante Gerlinde so nachhaltig glücklich gewesen sein an diesem Nachmittag, dass sie, obwohl ich sie aus unerfindlichen Gründen nie wieder besucht habe danach, trotzdem an mich dachte – neulich, kurz bevor sie diese Welt verlassen hat. Und jetzt kann ich eben so tun, als hätte ich, sagen wir mal, eine halbe Million Euro geerbt und daher die Absicht, einen nach knapp 30 Dienstjahren bei der Feuerwehr ausrangierten Mercedes 1222 – zulässiges Gesamtgewicht 12 Tonnen, Leistung 220 PS – in ein Expeditionsfahrzeug umbauen zu lassen.
In ein wüstengängiges, schlammtaugliches, aber eben auch familienfreundliches Tiny House auf Rädern. Denn ich will weg. Weit weg. Wer will das nicht zurzeit?
„Wohin soll es denn gehen, wie viel Zeit hast du zur Verfügung, und wer reist überhaupt mit?“, fragen mich Anna Stark und André Schwarz abwechselnd. Sie sitzen vor einem Büroregal mit Reiseführern, Island, Libyen, Bolivien, und tun jetzt einfach mal so, als wäre das tatsächlich ein Beratungsgespräch.
Sie: „Vielleicht mache ich erst mal Kaffee.“
Er: „Könnte ja etwas länger dauern.“
Gemeinsam führen sie die Fahrzeugtechnikfirma „Eine Welt Reisen“, bauen individuell zugeschnittene, auf jedes Fahrgestell montierbare, ultraleichte Wohnkabinen und übernehmen auf Wunsch auch die Suche nach einem passenden Fahrzeug. Ein Hidden Champion in einem Lichtenberger Industriegebiet. „Unser Thema ist mobiles Wohnen“, sagt Schwarz. „Autarkie und Praktikabilität.“ Theoretisch ist fast nichts unmöglich.
Echte Kunden, Steuerberater, Werbetexter, Eiskunstlauftrainer, sitzen hier auch schon mal zwölf Stunden. Nach zwei oder drei Jahren auf der Warteliste. Denn das Geschäft boomt nicht. Es ist längst explodiert. Nicht nur bei den Expeditionsfahrzeugen.
Straße weggespült? Einfach weiterfahren
Im vergangenen Jahr wurden 106.859 Caravans und Reisemobile in Deutschland zugelassen, „Weißware“, wie Schwarz beiläufig sagt. Vor fünf Jahren waren es noch 47.143. Die Pandemie hat einen Trend verstärkt: Die Leute wollen individuell reisen, möglichst autark sein, sich frei fühlen in der Natur. Vor dem Alltag flüchtende Familien, kauffreudige Best Ager, abenteuerrüstige Rentner, Freelancer ohne festen Wohnsitz und Arbeitgeber.
„Wir sprechen immer noch vom Reisen auf groben und schlechten Pisten“, sagt Schwarz, „und nicht von einer Rallye querfeldein.“ Aber falls ein Fluss mal die Straße weggespült hat, dann kann man trotzdem weiter.
„Von Berlin nach Wladiwostok“, antworte ich schließlich, wollte ich ja schon immer mal, wird die Familie bestimmt auch wollen. Polen, Ukraine, Moskau, der Ural, Kasachstan, die Westsibirische Tiefebene, hach, die wilde Taiga, der Baikalsee, dann Mongolei, China, immer weiter bis zum Stillen Ozean und dann zurück. 21.670 Kilometer, berechnet Google Maps, in 280 Autostunden. Und weil Fantasiechefs in Fantasiewelten für Fantasieargumente zugänglich sind, ergänze ich: „Ich habe drei Monate bezahlten Urlaub bekommen, reicht das?“
Schwarz, ein Mann mit Haltung im Wort, sagt: „Ambitioniert.“
Stark, eine Frau mit Wärme im Blick, sagt: „Ein halbes Jahr wäre besser.“
Und dann behaupte ich mit der Lässigkeit eines Halbmillionärs: „Kein Problem, mache ich dem Chef schon klar.“
Eine nicht ganz unberechtigte Frage an dieser Stelle: Wie bin ich hier eigentlich gelandet?
Ich wohne ums Eck, bin hier oft vorbeigefahren, Siegfriedstraße, gleich rauf auf die Landsberger Allee und dann, nein, nicht bei Ikea halten, sondern raus aus der Stadt, vorbei an all den Gelegenheiten, Autos neu oder gebraucht zu kaufen, sie zu leasen oder zu mieten, reparieren, lackieren oder einfach nur verschrotten zu lassen.
Hätte ich mit meinem 20 Jahre alten Golf IV auch machen sollen, als mir die Menschen im Rückspiegel immer häufiger immer unwirschere Zeichen gaben, sich auch mal demonstrativ die Nase zuhielten. Bis auch ich roch und verstand, dass der Motor Öl verbrannte.
Ich bin leider nicht zum Schrottplatz gefahren, sondern in die nächste Werkstatt, eine Kundenbewertung überzeugte mich: „Es wird gemacht, was notwendig und sinnvoll ist.“ Zwei (notwendige?) Reparaturen und eintausend (sinnvolle?) Euro später qualmte es immer noch bläulich aus dem Auspuff. Und mir wurde wieder klar, wie wenig ich von Autos verstehe. Noch weniger als vom Gärtnern – oder stehen japanische Faserbananen tatsächlich auf dem Speiseplan von Nacktschnecken?
Neben der Werkstatt meines, nun ja, verbeulten Vertrauens, standen also diese Monster, die man erst mal nicht anders nennen kann. Wegen der vorschulkindsgroßen Räder, der vergitterten Scheinwerfer und des Gefühl, ihnen jeder Zeit und freiwillig die Vorfahrt überlassen zu müssen. Selbst wenn die Monster auf einem Hinterhof im Schlummermodus geparkt sind, zwischen Lagerhallen und einem aufgewühlten und mitten in einer Rasentransplantation steckenden Fußballplatz.
Genug Stauplatz für die ganze Familie
André Schwarz legt sich eine Tastatur auf die Oberschenkel, an der Wand über den Beratungssesseln hängt ein großer Bildschirm, er sucht die Datei mit den Grundrissen. Sie haben noch keine Kabine zweimal gebaut, aber bei jeder ähneln sich die Grundsatzfragen: Wo soll das Doppelstockbett stehen, wo ist der beste Platz für die U-Sitzgruppe, wo und in welcher Größe soll das Bad mit Duschkabine sein, wo die Küchenzeile, wie viel Stauplatz braucht eine vierköpfige Familie?
Anna Stark und André Schwarz, beide in Ost-Berlin geboren, haben alle Kontinente bereist, gemeinsam mit ihren Kindern, in ihrem 1989 gebauten IFA L60, der draußen auf dem Innenhof steht. Inzwischen, sagen sie, sind sie am liebsten dort, wo sie nicht ständig an Lösungen denken müssen, wo sie die Alltagsprobleme von ihrer Festplatte löschen können, in der Sahara, wo es so still ist, dass man nichts hört als den eigenen Pulsschlag.
Ihre Lebensgeschichte in Kurzform: Sie hatten genug gehört in der Schule über die Welt da draußen, wollten selbst sehen, was stimmt, was nicht, wollten mit den Menschen darüber sprechen, sie landeten in der Entwicklungshilfe. Bauten Lehmhütten in Namibia, Krankenhäuser in Rumänien, Altenheime auf Kuba, räumten Minen, bauten Brunnen in Asien. „Irgendwann“, sagt André Schwarz, „merkst du, dass sich das gar nicht ändern soll. Alles ist so angelegt, dass es so bleibt, wie es ist. Es geht um Pflaster, nicht um wirkliche Hilfe.“
Sie beschlossen, Gruppenreisen anzubieten, sich auf kleine Projekte zu fokussieren, sie verstanden sich als Brückenbauer zwischen den Kulturen. Eine Welt. Daher der Firmenname. Doch die Reisenden interessierten sich irgendwann mehr für ihr Auto, für ihre Fertigkeiten beim Umbau einer Wohnkabine, weniger für ihre Ideale. Vor 15 Jahren bauten sie das erste Expeditionsfahrzeug.
Das große Firmengeheimnis ist das Fundament, auf dem die Kabine lagert und selbst dann stabil in der Waagerechten bleibt, wenn das Fahrzeug – aus welchen steinigen oder sandigen Gründen auch immer – sich verschränkt und zur Seite kippt. Auf Messen, wenn es dunkel ist in der Halle, kriechen Konkurrenten mit Taschenlampen unter die Fahrzeuge, um das physikalische Prinzip der Lagerung zu verstehen. Schwarz sagt: „Ist ihnen noch nicht gelungen.“ So überzogen klingt das Firmenversprechen also nicht: „Wir verwirklichen Lebensträume“.
Analoger Zeiger schlägt digitales Display
Es gibt Kunden, die träumen ihr Leben in der Luxusausführung, wollen auch unterwegs nicht auf Design und Qualität verzichten und manchmal auch nicht auf eine „übertriebene Häuslichkeit“, wie Anna Stark es nennt. Im Beratungsgespräch fragt sie dann: „Sind Sie sich sicher, muss das wirklich alles sein?“ Sie plädiert für den Verzicht. Aus eigener Erfahrung. Und er sagt noch: „Jeder Spezialwunsch schlägt vierstellig bis fünfstellig zu Buche.“
Der L60, mit dem sie bereits 150.000 Kilometer zurückgelegt haben, ist purer Pragmatismus, alles im Inneren auf die Funktion ausgelegt. Und das Reiseleben funktioniert auch ohne Kühlschrank oder Waschmaschine. Im L60 sind nur 500 Meter Kabel verlegt, nicht fünf Kilometer wie in den Fahrzeugen, die sie zurzeit umbauen. „Das sind immer noch Autos, keine Computer“, sagt Schwarz. Analoger Zeiger schlägt digitales Display, das die meisten überfordert, versehentlich verstellt werden kann. Und dann kommt der Anruf: „Wie ging das noch mal mit der Heizung?“
Manche Kunden packen dann trotzdem ihre Koffer und nehmen mit: Spülmaschine, Wäschetrockner, Kühlschrank mit Eisfach, Backofen. Sie lassen sich, um mehr Platz zu haben, auch mal nach außen ausfahrbare Außenwände einziehen, kugelsichere Scheiben und dreipunktverriegelte Schlösser einbauen und wollen am besten alles smart mit dem Handy steuern. Dafür braucht man eine Million auf dem Konto. Oder hat gleich zwei reiche Tanten im fortgeschrittenen Alter.
„Vielleicht machen wir jetzt mal einen Rundgang“, schlägt Anna Stark vor.
In der Fabrikhalle, zwischen Reifenstapeln, Kartons mit Hartwachs, Schablonen, Kunststoffschellen und Kabeln, stehen zehn Fahrzeuge in unterschiedlichen Fertigungsphasen. Tischler kümmern sich um die Inneneinrichtung der Kabine, ein Fahrzeugbauer schweißt gerade Baugruppen für die Kabinenlagerung zusammen, er hat den Pin-up-Kalender an der Wand aufgehängt. Auf einem Konstruktionsplan steht grün unterlegt: „Cassettentoilette Thetford C 403 L mit Anschluss über Bordtank inkl. Serviceklappe und rollbarem Fäkaltank (19,3 l).“ Sechs bis neun Monate dauert es, bis alle roten und gelben Kästchen die Ampelfarbe wechseln. Grün bedeutet fertig.
Und dann stehe ich vor dem roten Monster, der Feuerwehr a. D., die mir gehören könnte, wenn ich doch mehr als nur so tun dürfte. „Vorsicht“, sagt André Schwarz, als ich nach der Einstiegshilfe greife, mich in die Fahrerkabine ziehe, mit der Linken das Lenkrad umklammere, mit der Rechten nach dem Schalthebel taste, „hohe Ansteckungsgefahr.“
Plötzlich packt mich etwas und schüttelt so lange an mir, bis die passenden Fernseherinnerungen einzeln herauspurzeln.
Was tun bei zu neugierigen Grizzlybären?
Ich habe mal „Convoy“ gesehen und Kris Kristofferson alias Rubber Duck bewundert, wie er mit verspiegelter Sonnenbrille hinter dem Lenkrad seines Trucks saß, mit Pig Pen oder Spider Mike funkend über den Highway rollte, auf der Flucht vor korrupten Cops, in Begleitung von Ali MacGraw, die mir schon in „Love Story“ das Herz gebrochen hatte.
Oder Steven Spielbergs „Duell“, das erst zu Ende ist, wenn der drängelnde Tanklaster endlich in den Abgrund stürzt.
Und natürlich „Auf Achse“ mit Manfred Krug, einen Film, den ich als Brettspiel („Brummis, Frachten und Moneten“) habe. Man kann sich mit voller Ladung von Hannover nach München würfeln und mit der passenden Ereigniskarte einfach den Stau bei Frankfurt überspringen. Anscheinend hatte ich eine verschüttete Liebe für Sattelzüge.
Ich könnte jetzt losfahren, weg, weit weg. Denn da ist diese Lust auf ein Leben danach, die als Ressource immer knapper wird mit jedem weiteren Pandemietag. Ich drehe mich zur Seite, nach hinten, wo meine Familie sitzen würde. Da fällt mir ein: Wir brauchen noch dringend einen Durchstieg zwischen Fahrerhaus und Wohnkabine. Gerade bei Naturfotografen, haben Anna Stark und André Schwarz vorhin erzählt, die in Nordamerika unterwegs sind und vor einem etwas zu neugierigen Grizzly fliehen müssen, ergibt das Sinn. Ansonsten? Eher nicht.
Egal, denke ich, die Gefahr, irgendwo zwischen Berlin und Wladiwostok einem Bären zu begegnen, ist viel zu groß. Ein Durchstieg, ach, Tante Gerlinde, kostet doch nur vierstellig. Und die kugelsichere Scheibe, die nehme auch noch dazu.
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