Ein Rennfahrer steigt in ein Elektroauto und beschließt, sein Leben zu ändern. Nicht aus Umweltgründen. Weil es Fahrspaß bringt. Und was ist ein E-Cannonball?
Zwanzig Sekunden können ein Leben verändern. Es so drehen und wenden, dass die Dinge plötzlich Kopf stehen und sich trotzdem gut anfühlen, besser, viel besser sogar. Das Leben von Ove Kröger zum Beispiel. Vor fünf Jahren war das, als er in einen Opel Ampera stieg, den Motor startete, das Gaspedal durchdrückte, und dann schoss das Ding so schnell nach vorne, so leise, so frei von Vibrationen. Alles elektrisch. Ove Kröger war schwer begeistert. Am Telefon sagt er: „Nach diesen 20 Sekunden wusste ich, das ist es. Danach habe ich mein Leben der Elektromobilität gewidmet.“ Er hat alles verändert.
Nun sollte man wissen, dass Kröger kein gewöhnlicher Mann ist, der hier lediglich eine persönliche Verkehrswende vollzog. Kein normaler Autokunde auch, der womöglich von Starkwetterereignissen oder besorgten Kindern aufgeschreckt Strom gegen Benzin eintauschte. Nein, Krögers damaliger Sinneswandel war in etwa so wahrscheinlich, wie es das zukünftige Erreichen der deutschen Klimaziele ist.
Kröger war schon immer einer, der Kilometer „ballert“, Autos und Motorräder „rannimmt“, einer, den man in Amerika „petrol head“ nennt. Im gleichnamigen Song von Sting heißt es: „300 Pferdestärken in meinem V8, fast 100 Meilen pro Stunde, immer im roten Bereich.“ Bei uns heißt es: Er hat Benzin im Blut. Oder weniger autoerotisch: ein Raser.
Mit 18 Jahren und für 2000 DM kaufte sich Kröger einen 1977er Ford Thunderbird, natürlich V8, wegen des Blubbersounds. Zehn Jahre später, zur Geburt seines ersten Sohnes, gönnte er sich einen Hot Rod, und von da an war es nicht mehr weit bis zum Drag Racing, 1002 PS, 9 Liter Hubraum, 285 km/h nach einer Viertelmeile aus dem Stand. Der Benzin-Kröger sagte: „Da bebt die Erde, da wackelt die Luft – das ist unglaublich, das ist einmalig.“ Zehn Jahre lang fuhr er Rennen. Der Elektro-Kröger sagt: „Und dann setze ich mich in einen Opel und merke, dass das auch ohne funktioniert und wie schön das ist.“
So schön, dass Ove Kröger, inzwischen 52 Jahre alt, „moin“, wohnhaft in Reinfeld bei Lübeck, auch andere für Elektroautos begeistern will. Nicht unbedingt aus ökologischen Gründen. Sondern weil es mehr Fahrspaß bringt, entspannter ist, auf E unterwegs zu sein, auch auf der Langstrecke, ja, schon heute. Davon ist er überzeugt. Und um all das auch einer elektroskeptischen Öffentlichkeit zu beweisen, startet an diesem Sonnabend der E-Cannonball, eine sogenannte Vergleichsfahrt von (fast) Berlin nach München. Kröger bittet mehrmals: „Schreiben Sie bloß nicht Rennen.“ Denn da gibt es ja Paragraf 29 Absatz 1 der Straßenverkehrsordnung (StVO): „Rennen mit Kraftfahrzeugen sind verboten.“
Bei einer Vergleichsfahrt fliegen Autos nicht wie Kanonenkugeln über die Autobahnen, sie gleiten eher dahin, und das auch mal über eine Landstraße, wenn der Weg dadurch kürzer wird. Denn wer den kürzesten Weg mit dem wenigsten Stromverbrauch kombiniert, hat große Chancen, der Sieger zu sein. Dafür gibt es immerhin einen Pokal.
Kröger sagt: „Beim ursprünglichen Cannonball ging es um Geschwindigkeit und Zeit, bei uns geht es um Effizienz, Köpfchen vor Bleifuß, und um die Frage: Wie komme ich mit möglichst wenigen Ladestopps von A nach B?“ Start des ersten von 70 Fahrzeugen ist um 6.30 Uhr, vor einem Hotel zwischen Dahlewitz und Rangsdorf, direkt an der A10 gelegen, alle 70 Teilnehmer müssen bis 19 Uhr das Ziel in München erreicht haben. Unterwegs liegen teils vor dem Start unbekannte Zwischenziele. Der prominenteste Name im Starterfeld lautet Heinz-Harald Frentzen, ein ehemaliger Formel-1-Pilot, seit 2010 ein Elektroenthusiast. Hat gleich zugesagt, als Kröger ihn fragte.
Der Name „Cannonball“ hat eine lange und vor allem illegale Geschichte, und diese beginnt mit Erwin Baker, der 1914 mit einem Motorrad die USA von Küste zu Küste durchquerte, in knapp elf Tagen, und danach von Wegen „wie frisch gepflügten Äckern“ berichtete. Mehr als 100 weitere Geschwindigkeitsrekorde stellte Baker auf. So bekam er den Spitznamen „Cannonball“. Der Mann hatte nicht nur Benzin im Blut, er trank es womöglich auch.
Jedenfalls war dieser Höllenritt eine Sensation, und schon bald gab es Nachahmer. Um es hier etwas abzukürzen: Am 15. November 1971, erdacht vom Chefredakteur des renommierten Automagazins Car and Driver, starteten acht Fahrzeuge zum ersten „Cannonball Baker Sea-To-Shining-Sea Memorial Trophy Dash“. Die 4628 Kilometer lange Strecke zwischen New York und Los Angeles legte ein zwölfzylindriger Ferrari in 35 Stunden und 54 Minuten zurück, im Schnitt waren das 19 l/km und 130 km/h.
Geschwindigkeitskontrollen waren ein Problem, das Späher und eingebaute Radarwarngeräte lösen konnten. Später konnten Fahrer auch Ampeln auf Grün stellen.
Wer beim E-Cannonball geblitzt wird oder bei Rot rüberfährt, bekommt 100 Strafpunkte, nur 10, wenn ein Sponsorenaufkleber fehlt, und Sponsoren gibt es viele bei der bereits vierten Auflage. Kröger sagt: „Die einzige Tücke unterwegs könnte sein, dass eine Ladesäule nicht funktioniert.“ Profitipp: Dann fährt man eben weiter. Deutschlandweit gibt es 50.000 Möglichkeiten, Strom nachzuladen. Tankstellen gibt es 13.000. Kröger sagt: „Die Verbrenner sind am Ende, es wird nichts mehr Neues entwickelt von den Herstellern.“ Seine Prognose: „In ein paar Jahren wird ein Ladevorgang fünf Minuten dauern.“
Wer an Cannonball denkt, denkt vielleicht auch an Burt Reynolds und Farrah Fawcett und an „Auf dem Highway ist die Hölle los“ von 1981, also an „anspruchslose, mit Kalauern gespickte Unterhaltung“, wie es im Lexikon des Internationalen Films nicht ganz zu Unrecht heißt. Oder, wie es der Trailer verspricht: „Dies ist die Geschichte eines ausgeflippten Highwaydrivers und seiner niedlichen Auspuffmietze.“ Am Ende ist es ein ertrinkender Pudel, der das Rennen entscheidet.
Der E-Cannonball, der – bitte nicht vergessen – kein Rennen ist, ist das Event einer Branche, die boomt, die sich sicher ist, dass ihr die Zukunft gehört. Nur ein Indiz, dass das wohl so stimmt: Der Batteriepreis, der bei Elektroautos etwa 40 Prozent der Herstellungskosten ausmacht, sinkt beharrlich. Auch darüber spricht Kröger als Experte bei Veranstaltungen, die „Alternativer Autogipfel“ oder „Brandenburg Electric“ heißen. Im Netz findet man ihn vor allem bei YouTube, auf dem Kanal „T&T Emobility“, 61.000 Abonnenten. T steht für Technik, Tipps, Talk, Trends und natürlich Tesla. Wer „Doc Tesla“ googelt, findet einen Kfz-Sachverständigen mit Schwerpunkt Elektromobilität aus Reinfeld bei Lübeck, „moin“, der erklären kann, warum Käufer eines Model 3 mit einer rostigen Heckklappe rechnen müssen. Ein Leben zu verändern, das bedeutet auch, alles über Elektromotoren zu lernen.
Vor allem steht das T aber für Testfahrt, denn diese verschreibt E-Doktor Kröger am liebsten. Die Mindestdosis liegt wohl bei 20 Sekunden. So ein Leben ohne Benzin, für Krüger ist es „eine Guerillarevolution“. Die Umstrukturierung komme nämlich nicht von oben, von der Politik, sondern von unten, dem Autovolk, und jeder, der ein Elektroauto fährt, sei ein Multiplikator. „Wenn man sich so ein Ding kauft“, meint Kröger, „dann kommen die Nachbarn und Freunde und sagen: Was ist das denn, ist doch Blödsinn. Nee, sage ich dann, komm, fahr mal damit – und zack, haben wir den Nächsten.“ Und vielleicht noch mehr Starter für den nächsten E-Cannonball.
Illegale Cannonballs finden übrigens immer noch statt. Längst existiert auch eine inoffizielle Bestenliste für Elektroautos. Die führt seit vergangenem Dezember ein amerikanischer Journalist an, der mit seinem Team in 44 Stunden, 25 Minuten und 59 Sekunden von New York nach Los Angeles fuhr, in einem Porsche Taycan. Das ist zwar zufällig das Elektroauto, das auch Ove Kröger besitzt. Aber keine Sorge, die Zeiten sind vorbei, der Gasfuß juckt nicht mehr ganz so doll. Der frühere Benzinkopf Ove Kröger befürwortet inzwischen sogar ein Tempolimit auf deutschen Autobahnen. Auch wegen der Umwelt.
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