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Reportage

Meine Nachbarn, die Revolutionäre

Der erste Schuss fiel gegen drei Uhr morgens, mitten im Schlaf. Es folgten ein zweiter, ein dritter, und während ich noch halb im Traum verirrt überlegte, ob es jetzt die Zeit sei für Zivilcourage, jetzt mal aufspringen und rausgehen und den Helden spielen, passierte nichts: keine Schreie, keine Hilferufe, kein Blaulicht, nichts. Ein paar Minuten später, vom Fenster aus, sah ich drei schwarz gekleidete Männer. Die Kapuzen tief ins Gesicht gezogen, die Bierflaschen routiniert am Körper baumeln lassend, so standen sie da - standen einfach nur da, ein vierter, ein fünfter Knall, und verballerten ihre Silvestervorräte auf einer Kreuzung in Friedrichshain, die man Dorfplatz nennt. Und wo sich dreißig linksalternative Dorfbewohner seit Jahren gegen die Räumung ihres mal besetzten Hauses wehren. Das Haus steht neben meinem. Liebigstraße 14, Berlin-Friedrichshain. Die Besetzer sind meine Nachbarn. Wir leben nur durch eine Wand getrennt.

Vor vier Jahren bin ich hergezogen. Die Dezembernacht, in der ich lernte, einen Schuss von einem Böller zu unterscheiden, war eine meiner ersten hier. Ich war der Neue. Nächsten Mittwoch sollen meine Nachbarn rausgeschmissen werden. Bis zu tausend Polizisten werden das erledigen. Ich bin mir noch nicht sicher, was ich davon halten soll.

Im gegenüberliegenden Haus ging kurz nach dem ersten Knall ein Licht an, trat ein Mann ans Fenster und rauchte eine Zigarette. Unsere Blicke trafen sich, seiner wach und gelassen, meiner schläfrig und immer noch erschrocken. Als zwei Mannschaftswagen der Polizei vorfuhren, waren die Kapuzenträger bereits verschwunden. Hinter der Haustür der Liebigstraße14, auf der in weißen Buchstaben geschrieben steht: Das Leben ist kein Ponyhof. Zurückgelassen hatten sie ihre zerbrochenen Bierflaschen und zwei Anwohner am Fenster, von denen einer, ich, sich am nächsten Morgen fragte, warum ich eigentlich Prenzlauer Berg verlassen habe, um hierher zu kommen? War es wegen der günstigen Mieten? Wegen der niedrigen Bierpreise? Weil ich glaubte, dass mich in diesem Kiez niemand wortlos dazu auffordern wird, morgens am Laptop zu frühstücken und abends bei diffusem Designerlampenlicht ein Kind zu zeugen? Oder war es doch eher wegen der ruppigen Straßenbilder? Wegen der uneitlen Gespräche? Weil ich mir hier insgeheim erhoffte, das Bürgerliche in mir am Ausbruch zu hindern? Und war dies schon ein Trugschluss?

Dem Bedürfnis, wenigstens ein Mindestmaß an Unzufriedenheit und Unangepasstheit zu zeigen, so dachte ich, der Langzeitstudent und sporadische Steuerzahler Ende zwanzig, könne man in Berlin am ehesten noch im nördlichen Friedrichshain nachgehen. Auf Demonstrationen gehen, die Basisarbeit erleben, vielleicht nicht unbedingt in der ersten Reihe, aber auch nicht weit dahinter. Als sich die Vormieter bei der Schlüsselübergabe über dreckige Bürgersteige und Hundescheiße beschwert hatten, über ein latentes Gefühl der Unsicherheit sprachen, hielt ich das für eine Flucht aus der Realität. Das sei doch kein Grund zum Wegziehen, hätte ich, der nie ein Auto und nie Ersparnisse besessen hat, beinahe gesagt.

In den nächsten vier Jahren sollte ich zwei Dinge lernen über das Leben am Dorfplatz, über den Ort, an dem die asphaltierte Rigaer Straße auf das Kopfsteinpflaster der Liebigstraße trifft und wo, zum Andenken an vergangene Nächte, Brandspuren zu sehen sind, wie Narben im Asphalt. Erstens lernte ich: Wenn es knallt, weiterschlafen. Zweitens: Wenn es brennt, auch weiterschlafen. Hier braucht niemand einen Helden, der um drei Uhr morgens auf die Straße rennt, um Menschen zu retten oder Motorhauben zu löschen. Ich lernte also, was mein am Fenster rauchender Nachbar von Gegenüber wahrscheinlich damals schon wusste, was er mir damals schon voraushatte: die Gelassenheit. Gelassenheit im Umgang mit Pyrotechnik, brennenden Mülltonnen und Autos. Gelassenheit beim Anblick von Gewalt und Vandalismus.

Denn der Dorfplatz ist nicht nur eine Kreuzung, an der sich Menschen im Sommer zu Picknick und Sonnenbad verabreden, Couchen und Boxen vor ihre Haustür stellen und mit Hunden über selbst gepinselte Zebrasteifen tänzeln, nein, der Dorfplatz ist auch ein Ort, an dem sie aus Wut Fenster einschmeißen und Farbbeutel auf frisch sanierte Fassaden schleudern.

Hier pflegt man seine Feindbilder so gründlich wie die eigene Existenz und beschwört eine Gefahr, die immer von außen kommt: die Gier der Immobilienmakler und Hausbesitzer, die Repression des Rechtsstaats, das Gedankengut der Rechten. Doch irgendwo zwischen Picknick und Punkrock geht zuweilen unter, was linksalternative Aktionen vielleicht früher mal ausgezeichnet hat: ein Echo, das über die eigene Szene hinaushallt, ein Effekt, der gesellschaftliche Akzeptanz hervorruft. Oder wenigstens Anerkennung.

Was sich parallel abspielt im Kampf um dieses Minimalziel der Dorfplatzanwohner, in diesem so kuscheligen und so krawalligen Kiez, morgens wie abends, im Winter wie im Sommer und direkt vor meinem Fenster, das ist ein Prozess, den weder eine angekündigte Demonstration noch ein illegales Konzert aufhalten werden. Diesen Prozess würden einige vielleicht ganz einfach als Veränderung bezeichnen. Andere nennen es Gentrifizierung.

Wo vor ein paar Jahren noch unverputzte Häuser standen, leuchtet heute frische Farbe. Und auch wo Bürgersteig und Straße einst ihre graue Traurigkeit verströmten, tauchen nun Bäume und Blumenbeete auf. Wer die vom Dorfplatz östlich gelegene Schreinerstraße entlangläuft, in der immer mehr Dachstühle zu Wohnungen ausgebaut werden, erahnt das Ende der neuen Farboffensive. Im Norden ist der Wunsch sogar schon in Erfüllung gegangen. Auf dem Gelände des alten Schlachthofs, das zum südlichsten Zipfel Prenzlauer Bergs zählt und wie ein Stachel hineinragt in den Friedrichshainer Wohnraum, leben Menschen in roten Stadthäusern, die Achat, Onyx oder Smaragd heißen, jedes mit Garten undStellplätzen für den Zweitwagen. Einer Studie zufolge herrscht dort die geringste Arbeitslosigkeit und Kinderarmut Berlins.

Am Dorfplatz sprechen sie von Verdrängung, von kommerzieller Verwertung der Straßenzüge und sprayen ihren Protest an die Wände - wenn zwischen Street Art und Konzertplakaten überhaupt noch Platz ist. Die Neuen im Kiez, von denen manche womöglich auch mal wegen der guten Sache hergekommen sind, sagen, das sei nun mal der Lauf der Dinge. Sie kaufen Eigentumswohnungen und warten, bis der letzte Protestbuchstabe verschwunden sein wird und ihre Geduld sich endlich auszahlt. Doch so aufgeladen, wie ich mir den Konflikt zwischen Verdrängern und Verdrängten vorgestellt hatte, ist er letztlich doch nicht gewesen, nicht in den vergangenen vier Jahren zumindest.

Vom Dorfplatz geht keine Bewegung aus, denn die Bewohner der Liebig 14 tun kaum mehr, als sich die Überwindung der Verhältnisse auf ihre Fahnen zu schreiben. Ihr Repertoire scheint sich schnell zu erschöpfen, die Müdigkeit des Widerstands macht sich breit. Selbst die Unterschiede sind untergegangen in den Gemeinsamkeiten des Alltags. In der Bäckerei an der Ecke, wo alle Anwohner, Punk oder Anwalt, morgens Schrippen, Croissants und Spritzkuchen kaufen und am Abend, wenn die Bäckerei zum Spätkauf wird, zwischen zwanzig Biersorten wählen. Aber vielleicht ist aus meiner antrainierten Gelassenheit bereits Gleichgültigkeit geworden. Eine Gleichgültigkeit, die blind macht für die Anstrengungen des Untergrunds, der am zweiten Februar zum Straßenkampf werden könnte.

Im Morgengrauen sollen sie kommen, Polizisten und Spezialkräfte, die einen gepolstert, die anderen maskiert, alle mit dem gleichen Befehl im Ohr. Sie werden den Kiez absperren, um das Haus in der Liebig 14 zu räumen, und dann wird wohl wirklich gekämpft. Wie brutal wird das werden? Schlagstöcke gegen Steine? Wasserwerfer gegen Brandsätze? Die etwa dreißig Bewohner, darunter Studenten, Künstler und Arbeitslose, die vor drei Wochen den Räumungsbescheid zugestellt bekamen, haben ihren Widerstand angekündigt. Und ihre Sympathisanten haben zu Blockaden und Hausbesetzungen in der Stadt aufgerufen, zu sogenannten dezentralen Aktionen - und auch zu Gewalt. Man kann das alles im Internet nachlesen. Allerdings solle man nicht den Fehler machen, jeden Forumseintrag als konkrete Absichtserklärung zu deuten, wie die Polizei beruhigt. Womöglich auch sich selbst.

Das Ziel der Gegner ist klar: Wenn man die Hausräumung schon nicht verhindern kann, was niemand, nicht mal sie selbst, ernsthaft bezweifeln, dann soll sie doch wenigstens so teuer und aufwendig und medienwirksam wie möglich werden. Und wenn man schon gehen muss oder sich heraustragen lässt, dann nicht ohne eine letzte große Geste.

Im Grunde aber ist die Polizei schon immer dagewesen. Ein Mannschaftswagen, der auffällig langsam über den Dorfplatz rollt, ist ein alltäglicher Anblick, genauso wie die uniformierten Insassen, die ihre Hälse recken, um auch das oberste Stockwerk der Liebig 14 in Augenschein zu nehmen. Alle paar Minuten fahren sie vorbei, man könnte die Uhr danach stellen. So ein verlässlicher Takt würde so manchen Zuverlässigkeit erwartenden Bahnfahrer neidisch machen. Zuletzt ging die Polizeipräsenz sogar noch weiter, sie weitete sich zur nächtlichen Belagerung aus. Das monotone Tuckern der Dieselmotoren bildete den neuen Klangteppich der Straße, den Sound vor der Haustür.

Die sind schon seit sechs Stunden hier, sagte der Bäcker neulich, um zwei Uhr morgens, zu einer Zeit, als er bereits ein Spätverkäufer war. Es gibt keinen triftigen Grund, dem Mann nicht zu glauben, es sei denn, es geht um Fußballwetten. Dass die Bewohner der Liebig 14 das verrauchte Hinterzimmer der Bäckerei zum inoffiziellen Pressezentrum gemacht haben, lag allerdings weniger an der Glaubwürdigkeit des Bäckers als an der Tatsache, dass seit ein paar Wochen niemand das Haus betretendarf. Weder aus beruflicher Neugier noch aus nachbarschaftlicher Sorge um den Straßenfrieden. Das haben sie im Plenum beschlossen, wie sie alles beschließen: gemeinsam.

Und so kam es dann, dass Hausbewohner und Journalisten beim Bäcker an einem Tisch zusammensaßen und die aktuelle Widerstandslage besprachen. Die teils weit angereisten Fragesteller ließen sich zudem die ganze Geschichte erzählen: von der Hausbesetzung im Jahr der Wiedervereinigung, als in Ostberlin ganze Straßenzüge unbewohnt waren, über die Legalisierung zwei Jahre später. Bis zum Zeitpunkt, als die Lila GbR, bestehend aus den Kapitalisten Suitbert Beulker und Edwin Thöne, das Haus kaufte. Das war 1999, und nach und nach wurden die Mietverträge gekündigt. Den letzten Prozess gegen die neuen Eigentümer verloren die Bewohner im November 2009. Ein Jahr später feierte die Liebig 14 ein Fest, kuschelige Illegalität stand auf den Flyern, die Polizei hat das Fest aufgelöst. Dass der Richter letztlich eine gesetzeswidrig eingebaute Zwischentür im Erdgeschoss als Kündigungsgrund akzeptiert hat, wird allgemein als ironisch anmutende Pointe gewertet. Kopfschütteln in der Bäckerei.

Auch nach dem Urteil sind die Bewohner der Liebig14 am Versuch gescheitert, das Haus zu kaufen oder einen alternativen Wohnraum zu finden, waren alle Runden Tische und politischen Schlichtungsversuche ergebnislos geblieben. Die Hausbesitzer Beulker und Thöne haben nach anfänglicher Kompromissbereitschaft auf den Räumungsbefehl gesetzt. Seitdem, und so endet die Geschichte, warteten die Bewohner der Liebig 14, von denen keiner mehr zu den Wohnprojektgründern zählt, auf die Vollstreckung. Zum Abschied hinterließen manche Journalisten ihre Visitenkarten, kauften ein belegtes Brötchen und sagten dem Bäcker, er möge sie doch bitte anrufen, wenn hier irgendwas passiert. Er hat nie angerufen, er hat die Karten in den Mülleimer geworfen.

Was dann passiert ist, lässt sich gut an den angrenzenden Fenstern und Balkonen ablesen, wo in den vergangenen Tagen immer mehr Plakate und Transparente aufgetaucht sind und großflächig Solidarität bekunden. Die kämpferische, letztlich aber eher verzweifelte Botschaft vielerorts lautet: Liebig 14 bleibt!

Vom gegenüberliegenden Haus, in dem sich das zweite und ebenfalls von der Räumung bedrohte Wohnprojekt am Dorfplatz befindet, ist zurzeit ein Schriftzug quer über die Straße gespannt, "Sisters" steht drauf. Es ist ein Zeichen der Verbundenheit, das der Wind in flatternde Fetzten gerissen hat. Aber auch südlich der Frankfurter Allee, der ehemaligen Prachtmeile, die Friedrichshain in zwei fast gleich große Stücke schneidet, finden sich unterstützende Worte. Die ganze Nachbarschaft, so verkünden es die Bewohner der Liebig 14 in den Pressegesprächen, sei eindeutig gegen die Räumung. Dabei ist nicht einmal sicher, ob überhaupt die linke Szene geschlossen hinter dem Wohnprojekt steht. Das seien doch nur Leute, die an Partys und günstigem Wohnraum interessiert seien, die nichts für ihren Kiez tun, sich nicht einmal politisch engagieren, heißt es in linken Internetforen.

Sind die am Dorfplatz wohnenden Menschen also Revolutionäre oder nur die Darsteller einer Revolution? Ist das, was sie da tun Kampf, oder gespielte Kampfbereitschaft?

Beliebt ist die Liebig 14 allemal, es gibt viele Sympathisanten, die nun vor dem Räumungstermin anreisen und gerne zugucken bei diesem Kampf Gut gegen Böse. Der Dorfplatz ist ein mythischer Ort geworden, der schon seit Langem autonome Reisegruppen anzieht, ob aus Spanien, Chile oder Schweden. Vor zwei Jahren stand ein bärtiger und der Zerschlissenheit seines Rucksacks nach zu urteilen weitgereister Mann vor meiner Wohnungstür. In gebrochenem, aber selbstbewusstem Deutsch fragte er: Kann ich hier pennen? Mein Mitbewohner antwortete: Du hast dich in der Tür geirrt, du musst ein Haus weiter klingeln. Was er dann wohl tat, sogar mit Erfolg, so glücklich, wie er später mit Bier und Drehtabak in der Hand die Bäckerei verließ. Den Rucksack hatte er irgendwo abgelegt.

Beliebt ist der Dorfplatz aber auch bei Menschen, die manchmal nichts anderes im Sinn haben, als gegen fünf Uhr morgens mit dem Fahrrad ihre einsamen Runden zu drehen, bewaffnet mit einer drei Meter langen Regenrinne, zum Kampf bereit, wo kein feindlicher Fahrradritter in Sicht ist, sondern nur Autofahrer mit wenig Verständnis für mittelalterliche Lanzenduelle. Man kann diese Menschen dann beobachten, wie sie der nächsten Eingebung folgend vom Fahrrad steigen, ihre Waffe auf die Straßenlaterne richten und versuchen, wenigstens das Licht auszustechen.

Es kommen auch gerne Menschen vorbei, die beschließen, die Straße mit bunten Kreideschnörkeln zu schmücken, die wollen aber partout nicht verstehen, dass man für jemanden, der die Straße hauptsächlich nutzt, um zur Arbeit zu kommen, eine schöpferische Pause einlegen könnte. Du Kapitalistenschwein, das war die Antwort auf die Frage: Kann ich mal bitte vorbei?

Wenn ich Geld hätte, würde ich mir vielleicht eine Eigentumswohnung nebenan kaufen. Drei Zimmer, Küche, Bad, auf den Balkon fällt schräg die Abendsonne. Das lohnt sich bestimmt, und ich könnte das auch machen, wenn mein Versuch, unangepasst zu sein, sich irgendwann erledigt hat. Und dann werde ich vielleicht eines ruhigen Abends meinen Kindern erzählen, dass hier mal Menschen gewohnt haben, die andere Ansichten hatten als ich. Menschen, die mir vier Jahre lang vor Augen geführt haben, dass alternative Lebensentwürfe Platz brauchen in dieser Stadt, selbst wenn sie manchmal nicht wissen, was sie mit ihren Freiräumen anfangen sollen. Ich werde ihnen sagen, dass es leichter ist, sich im Leben zurechtzufinden, wenn man sich an Extremen orientieren kann. Und dass man sich dann manchmal selbst wie ein Verräter fühlt, nur weil man am Ende in der Mitte landet.

Zurzeit aber ist es wichtig, ein Transparent aus dem Fenster zu hängen und darauf in Großbuchstaben zu schreiben: Solidarität mit den Bewohnern der Liebig 14! Obwohl das nur die halbe Wahrheit ist.


Erschienen am 29. Januar 2011