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Reportage

Losgetreten

In einigen europäischen Ländern werden schon Sperrzonen für E-Scooter errichtet. Der Widerstand wächst. "Das Schlimmste für uns wäre", sagt ein Verleiher, "dass wir aus den Städten ausgeschlossen werden." In Berlin nimmt man die Sache recht locker - noch

Entschuldigung, suchen Sie auch ein Tier? Die Frau schaut mich an, als hätte ich bereits einen Vogel. Dabei ist sie kaum älter als ich, hält wie ich ein Smartphone in den Händen, tippt und blickt abwechselnd aufs Display und in vier Himmelsrichtungen, sie scheint wie ich auf der Suche zu sein, sie müsste eigentlich Bescheid wissen. "Nee", sagt sie aber. "Hier soll irgendwo ein guter Burgerladen sein." Habe sie in ihrem Lonely Planet gelesen. Da vorne, sage ich. Sie bedankt sich knapp, geht.

Und wo ist jetzt mein Tier? Die App zeigt doch an, dass ich, der blaue Punkt, nur noch drei Meter vom türkisfarbenen Punkt entfernt bin - vom einem E-Scooter des Berliner Start-ups Tier, dem mit der Nummer 115027. Aktuelle Akkuleistung: einhundert Prozent. Mein Status: bedingt abfahrbereit.

Seit einem Monat gilt ein deutsches Wort mit 33 Buchstaben: Elektrokleinstfahrzeugeverordnung. Seit einem Monat dürfen Verleiher wie Tier, Circ, Lime oder Voi ihre mit Elektromotoren betriebenen Tretroller in deutschen Städten aufstellen. In diesem einen Monat wurde auch in Berlin eine Diskussion um Sinn und Bedarf von Mikromobilität losgetreten. Es ist eine typisch deutsche Diskussion voller Verknappungen, vorzeitiger Fazits, der eine Eigenschaft abgeht: die Gelassenheit im Umgang mit Minderheiten.

Denn das sind bislang nur Zehntausende E-Scooter im Vergleich zu 75 Millionen Fahrrädern und 47 Millionen Autos auf unseren Straßen - eine Minderheit; eine allerdings, die offensiv Lobbyarbeit betreibt und auf das Momentum setzt. Aktuellen Studien zufolge machen sich drei Viertel der Deutschen Klimasorgen, ein Drittel will in Zukunft häufiger aufs Auto verzichten. Eine Verkehrswende soll es geben, aber noch hat die Regierung den Wendekreis eines Öltankers.

Rote Ampeln gelten nur als Vorschlag

Ein E-Scooter beschleunigt mit zwei Fußtritten, einem Gasknopfdruck und in sechs Sekunden von 0 auf 20, das ist die hierzulande erlaubte Höchstgeschwindigkeit; in Frankreich sind es 25, in Polen 30 km/h. Auch das Tier unter mir könnte mehr, es rollt aber gedrosselt in den Berufsverkehr: Fahrradpapas mit Römer Jockeys auf den Gepäckträgern, die Bestzeiten zwischen Kita und Büro aufstellen wollen und rote Ampeln nur als Vorschlag verstehen; Kleintransporterfahrer mit blickdichten Schultern beim Abbiegen in einem Kreisverkehr; Touristen auf E-Bikes, die Jump heißen und auch ohne ausdefinierte Oberschenkel zwischen parkende Autos und fahrende Bussen springen.

Die einen wissen offensichtlich nicht, die anderen haben wohl vergessen, dass es in Deutschland ein gültiges Wort mit mit 22 Buchstaben gibt: Straßenverkehrsordnung. Die erste Grundregel lautet: "Die Teilnahme am Straßenverkehr erfordert ständige Vorsicht und gegenseitige Rücksicht."

Seit Einführung der E-Scooter in Europa gab es einige tödliche Unfälle: Stockholm, Paris, Barcelona, am vergangenen Freitag ist in London eine berühmte YouTuberin nach einer Kollision mit einem Lastwagen gestorben. In Berlin blieb es bei Verletzungen. Siegfried Brockmann erklärt mir am Telefon: "Die Unfallzahlen sagen noch nichts aus, das ist purer Zufall." Der Leiter der Unfallforschung beim Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft geht davon aus, dass es erst nach zwei bis drei Jahren belastbares Datenmaterial geben wird. Brockmann sagt trotzdem: "Ich vermisse, dass die Polizei deutlicher gegensteuert." Vor allem Fußgänger müssen mehr geschützt werden.

Vor dem Hotel Park Inn am Alexanderplatz stehen Herr Weber und seine fünf Kollegen von der Polizei: allgemeine Verkehrskontrolle. Die Kelle geht raus, als fünf Scooterfahrerinnen auf dem Bürgersteig anrollen. Ein Bußgeld von 15 bis 30 Euro wäre jetzt denkbar, aber es bleibt bei einer freundlichen Ermahnung, den Fahrradweg zu benutzen. "Berlin gilt als liberal", sagt Herr Weber, "auch was die Verkehrspolitik angeht." Vor allem Touristen hielten sich deshalb nicht an Regeln, würden sich überschätzen, zu zweit oder zu dritt fahren, was verboten sei, Unfälle und teilweise Verletzungen verursache, die eine Helmpflicht verhindern könnte. Es wäre, sagt Herr Weber, für alle einfacher, wenn der Verkehr insgesamt zurückginge. "Aber wer will das wie durchsetzen?" Ich soll mir mal das Gedränge Unter den Linden anschauen. Mache ich. Mein Eindruck: Inoffiziell gilt hier das Recht des PS-Stärkeren. Und nach einem mittelschweren Schlaglochvorfall kommt mir der Gedanke: Ist das noch eine ruppige Thai-Massage oder bereits ein Bandscheibenvorfall?

Ganz grob getrennt gibt es zwei Argumentationsseiten in der Scooterfrage. Auf der einen stehen die umweltbewussten und innovationsfreudigen E-Anhänger, die sich zwanzigminütige Fahrten für fünf Euro leisten können, und natürlich die Anbieter, die behaupten, ihr Angebot würde den Weg, "die letzte Meile", zum Bahnhof oder zur Haltestelle verkürzen, also eine Mobilitätslücke in den Städten schließen. Unfallforscher Brockmann spricht von einer - deutsches Wort mit 23 Buchstaben - Mobilitätslückentheorie der Branche und findet: "Scooterverleiher bieten ein Modell an für Regionen, wo es gar nicht gebraucht wird." Mehr Fahrradwege in den Städten und ein Ausbau der öffentlichen Verkehrsmittel würde mehr Sinn machen.

Auf der anderen Argumentationsseite stehen die ohnehin schon genervten Pendler, die den Verkehr als tägliches Überlebenstraining empfinden; unterstützt werden sie von Verbänden wie dem ADAC, der bessere Gefahrenaufklärung fordert, und dann sind da noch besorgte Lokalpolitiker, die Regulierung verlangen, wo Verleiher sich zu viele Freiheiten nehmen, aber wenig auf Pflichten geben. "Warum", sagte Mittes Bezirksbürgermeister Stephan von Dassel der Berliner Morgenpost, "stellen wir unser Straßenland kostenlos zur Verfügung, um Gewinnstreben von Privatunternehmen zu ermöglichen?" Natürlich hat von Dassel recht. In Mitte ist es besonders eng, sind die meisten Scooter unterwegs, nach Recherchen des RBB 2 165; auf Bürgersteigen abgestellt konkurrieren sie mit Fahrrädern, Kinderwagen, Hunden und Cafégästen um jeden Quadratzentimeter urbaner Lebensqualität.

In den vergangenen Jahren sind außerdem immer mehr Verkehrsteilnehmer hinzugekommen: Essenslieferanten, Bierbikes, Segways, Fahrräder, Roller und Autos mit und ohne E auf Leihbasis. Der Bürgermeister hätte auch fragen können: Warum haben in Berlin parkende Autos zehnmal mehr Platz als spielende Kinder? Sollte man nicht also eher etwas dagegen tun, dass unsere Stadt auf einem Fünftel ihrer Gesamtfläche nur aus Dauerabstellplätzen für Autos besteht?

Die Linienstraße in Mitte ist eine Fahrradstraße und auch für Scooterfahrer ein willkommener Schutzraum. Man hat hier mehr Ruhe, sich zu grüßen, wie Bullyfahrer auf der Landstraße es tun. Es ist allerdings ratsam, das Handzeichen knapp zu halten. Einarmiges Scooterfahren ist eine wackelige Angelegenheit, und korrektes Rechtsabbiegen entkrampft zwar den Vollgasdaumen, erhöht aber das Sturzrisiko, wenn ein Auto zum Überholen ansetzt. Als ein Mercedes meinen Weg schneidet, kann ich unter dem Nummernschild den Claim eines Autohauses aus Grimma lesen: "Näher als Sie denken ..."

Die Zentrale von Tier Mobility befindet sich im Ullsteinhaus in Tempelhof. Südlicher soll man in Berlin nicht rollen, außerhalb der mit GPS getrackten Verleihzone erlaubt der Motor nur Schrittgeschwindigkeit; Scooter sind bislang ein Innenstadtphänomen. Unfallforscher, Lokalpolitiker und Mobilitätslückenthoriekritiker würden das gerne ändern. Philip Reinckens im Grunde auch.

Reinckens, 34, T-Shirts, Jeans - "Kaffee? "Ja, danke" - ist der Deutschlandchef von Tier, korrekter Jobtitel: Country Manager. In den karg eingerichteten Räumen der Firmenzentrale fällt zunächst ein an die Wand gemalter DeLorean DMC-12 auf, das Auto, mit dem Marty McFly zurück in die Zukunft geflogen ist. Deutschlandweit plant Tier mit 10 000 Scootern. In Berlin ist das Start-up vor einem Monat mit etwa 1 000 gestartet. Reinckens glaubt: "Der Verzicht auf das Auto wird durch ein erhöhtes Mobilitätsangebot vorangetrieben." Tier sei eine sinnvolle Ergänzung zu den öffentlichen Verkehrsmitteln.

Seit April arbeitet Reinckens daran, aus den Fehlern zu lernen, die in anderen Großstädten gemacht worden sind. In San Francisco stellten US-Anbieter Tausende Scooter auf, ohne die Stadt zu informieren und Fahrregeln festzulegen. Es herrschte Chaos auf den Straßen, es gab viele Unfälle. Scooter wurden mit Fäkalien beschmiert oder in die Bucht geworfen. In einigen europäischen Innenstädten werden inzwischen Sperrzonen errichtet. Der Widerstand wächst. Klimaschutz ist zu ernst, um ihn als Spaßveranstaltung zu vermarkten. "Das Schlimmste für uns wäre", sagt Reinckens, "dass wir aus den Städten ausgeschlossen werden."

Nicht verpetzen wegen des Fahrstils

Der deutsche Markt ist der wichtigste für die Scooteranbieter in Europa. Über die deutsche Politik, die sich viel Zeit genommen hat bei der Klärung aller zulassungsrelevanten Sicherheitsfragen, sagt Reinckens, sie sei einen sehr konservativen Weg gegangen. Es war nun mal ein demokratischer Weg. "Früher oder später", das ahnt Reinckens, "wird Reglementierung in den unterschiedlichsten Facetten ein Thema für uns werden." Etwa: Begrenzungen der Scooter und Anbieter, Sperrräume, eine Verpflichtung, die Außenbezirke zu beliefern. Reinckens Lieblingssatz lautet: "Wir haben unterschiedliche Konzepte." Wahlweise sind es auch unterschiedliche Ideen oder Möglichkeiten. Und ist da auch die Möglichkeit dabei, in den Ausbau der Fahrradwege zu investieren? "Die ist uns momentan natürlich nicht gegeben. Wir probieren es über den kooperativen Ansatz."

Aus der Entfernung ist es ein Scooterfahrer mit Anzug und Umhängetasche, der vor dem Brandenburger Tor rechts abbiegt. Als er absteigt, sich vorstellt, erkenne ich ihn. Konstantin von Notz sitzt für die Grünen im Bundestag, für einen Termin im ARD-Hauptstadtstudio hat er sich auf einen Scooter gestellt. Als Ergänzung sei das ganz nett, sagt von Notz, es mache Spaß. Es sei aber auch gefährlich. Es werde enger auf den Straßen.

Von Notz nimmt mir das Versprechen ab, ihn nicht zu verpetzen wegen seines Fahrstils. Dafür bekomme ich den Tipp, meinen Helm fester zu schnallen. "Man selbst ist die Knautschzone." Stimmt, denke ich. Mein Tier steht eher unten in der Nahrungskette.

Erschienen am 15. Juli 2019