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Reportage

Zero Covid, No Covid, Dead Covid

Was, wenn die Leute nach Corona wieder zum Frisör gehen, sich aber zu sehr an Zoompartys in Jogginghosen gewöhnt haben? Zu Besuch im Kreuzberger Club Watergate.

Plötzlich diese Frage, so vertraut, und doch wie aus einem anderen Leben: Was soll ich anziehen? Ich gehe ja schließlich aus heute und nicht bloß zur Arbeit. Die erwartet mich am Homeofficewohnküchentisch. Hochfahren. Shit, die Kamera, puh, ist ausgestellt. Runterkommen. Merkt keiner, dass ich wie gestern aussehe. Wie vorgestern. Oder wie vielleicht vorvorletzte Woche schon.

Nein, heute gehe ich weiter, richtig weit sogar, aber nicht bloß wieder spazieren. Und nicht nur vor die Haustür, um den Pandemiemüll zu entsorgen und dem Lockdownnachbarn im Fenster gegenüber zu winken. Auf dem Rückweg habe ich manchmal Angst vor den Krähen, die meine monatelang nicht gestutzten Haare für ein Liebesnest halten könnten.

Die Arbeit daheim, der Alltag dazwischen, der wöchentliche Ausbruch namens Großeinkauf, das alles lässt sich schamlos mit der Jogginghose erledigen. Mit der ich übrigens noch nie joggen war. Wann war ich das letzte Mal joggen? Sich gehen lassen scheint mir zurzeit die gesündeste, weil sicherste Art der Fortbewegung zu sein. Aber hatte ich nicht auch mal eine Ausgehjeans?

Von wegen Hammer and Dance

Ich gehe also aus, ich gehe sogar in einen Club – und mir auf die Nerven mit den Anziehanschlussfragen, die ich in dem anderen Leben nicht kannte: Was soll ich da überhaupt? Was soll ich am Tresen, wo niemand mir einen Drink einschenkt? Was soll ich auf einer Tanzfläche, wo keine Musik läuft? Kein Bass, kein Wumms, nullkommanull beats per minute. Und kein bisschen Bewegung, nirgends. Wann noch mal war ich zuletzt auf einer Party? Von wegen Hammer and Dance.

Ich fahre dann doch mit dem Auto. Mit dem Auto! Ins Watergate! Das könnte schon fast alles sein, was man wissen muss über den Spaßfaktor in Zeiten der Ansteckung. Im Berliner Rundfunk läuft „Girls Just Want To Have Fun“ von Cyndi Lauper. Auto! Watergate! Radio! Ich singe im Duett mit Cyndi Lauper! Die Abwesenheit des Nachtlebens konnte nicht folgenlos bleiben.

Jens ist ein Freund, er arbeitet im Watergate, immer noch, trotz allem, er öffnet die Tür, führt auf den Main Floor. Rote Lichter an der Decke, hinter dem Fenster die Spree, dazwischen Leere, Stille, klarer Fall: ein schlafender Ort. Das Erste, was mir auffällt, sind die roten und glattgetanzten Backsteine auf dem Boden. Waren die schon immer da? Dann der Geruch, es riecht nach: nichts. Kein Zigarettenrauch, kein Schweiß in der Luft, die Barkühlschränke sind leer. Sie mussten eine Palette Bier wegkippen, sagt Jens. Abgelaufen. Auf dem Tresen steht eine Flache Sterillium Virugard, ein Desinfektionsmittel. Wann kommt der Weckruf?

Die Bedingung für diesen Termin kam vom Chef per Mail: „Dass wir nicht über Clubcommission, Senat, Politik, Virus und das Ewiggleiche sprechen.“ Alles gesagt und auch von jedem. Vielleicht reicht es ja auch, nur zu erwähnen, dass hinter dem Barbereich neben Grill und Tischtennisplatte noch die selbstgebastelten Schilder („Wir saufen ab!“) liegen, die sie im Sommer auf die Straße trugen, um für eine schrittweise Wiedereröffnung der Clubs zu demonstrieren.

Weil das bekanntlich nichts gebracht hat, stehe ich jetzt alleine auf der Tanzfläche und stelle mir vor, wie es sein wird, wenn alles mal vorbei ist. Zero Covid. No Covid. Dead Covid. Fuck Covid. Wenn sich dann niemand mehr an die Abstandslinien vor der Clubtür halten muss, wenn Begegnungen kein Risiko mehr darstellen. Wenn wir unsere alte Normalität erreichen, aus der wir vor einem Jahr eigentlich noch ausbrechen wollten. Das wird die Party des Jahrhunderts. Ein Superspreaderevent. Und ansteckend wird nur die gute Laune sein.

Es fällt mir wieder ein: Im vergangenen Februar war ich zum letzten Mal feiern, auf Gleishöhe am Kottbusser Tor, ein 40. Geburtstag, auf dem sich Gastgeber und die plus/minus gleichaltrigen Gäste wie 30 fühlen wollten – und es tatsächlich auch schafften. Als ich gegen fünf Uhr morgens aus der Tür und auf die Straße gespuckt wurde und es mir trotz eines böigen Seitenwinds gelang, das Damenfahrrad mit dem Kindersitz zu finden und sogar aufzuschließen, war ich ... ja, was eigentlich, außer anscheinend doch so betrunken, um mir Windböen einzubilden?

Die letzte Clubnacht im Watergate, sie fand im März statt, dann kam der Lockdown, der mit dem Hammer tanzt. Seitdem gab es allenfalls Versuche, so zu tun als ob. Virtuelle Partys, ein gedrosselter Barbetrieb zwischen Plexiglasscheiben. Und gleich nach der Schließung der Start von „United We Stream“, einer Spendenkampagne für Berlins Clubkultur, live und frei Haus und vor allem kontaktlos geliefert. Als dann die Stadt da draußen in den Couchmodus schaltete, begann drinnen das Set von Monika Kruse mit den Vocals: „I want you to breathe in, deeply, breathe in, breathe out, forgetting worry, forgetting fear.“ Ängste und Sorgen waren noch klein genug, um schnell vergessen zu werden.

Vielleicht ein Dutzend Menschen waren damals auf dem Main Floor, großflächig verteilt, jeder für sich gegen den Sog der anbrechenden Nacht ankämpfend. Niemand trug eine Maske. Ich weiß noch, wie ich dasaß (kürzere Haare, Ausgehjeans), die Druckwellen gegen meinen Körper prallten, mein Bein wie ferngesteuert den Basslines folgte und ich zu Jens sagte: „Ich hätte ja schon Bock.“ Er nickte bloß, wir stießen an, blieben sitzen.

Psychologen sprechen von aufgestauter Lebenslust, und es gibt die Theorie, dass auf große Pandemien noch größere Partys folgen: Spanische Grippe, Goldene Zwanziger, Babylon Berlin. Was lange unterdrückt wird, soll jedenfalls wie ein Bumerang zurückkommen. Ich weiß nicht. Ich bin kein Psychologe, kein Resilienzforscher, der Krisen und Chancen mit Erkenntnisgewinn auf eine Widerstandsformel bringt. Manchmal habe ich Lust, gar keine Meinung zu haben, weil es so anstrengend geworden ist, eine zu haben. Und jede weitere Pandemiewoche ist wie ein Bumerang in die Fresse.

„Netflix ist doch auch geil“

Ich kann mich vielleicht wie 30 fühlen, das schon, aber ich kann nicht wie mit 20 denken. Daher nur das: Was, wenn die Leute wieder zum Frisör gehen, sich aber zu sehr an Zoompartys und Onlinetastings in Jogginghosen und das Gelaber bei Clubhouse gewöhnt haben? Das neue Lebensgefühl: Streamingdienst nach Vorschrift? Selbst Jens sagt: „Netflix ist doch auch geil.“

Ich stelle mir trotzdem vor, wie ich an die Bar gehe, einen noch zu brennenden Sterillium Virugardgin Tonic bestelle und warte, dass etwas passiert. Das ist es doch, was das Nachtleben ausmacht, oder? Dass man nicht wissen muss, was passieren kann. Dass Dinge spontan entstehen. Dass es Zufälle gibt und Zufallsbekanntschaften. Dass ein Rausch einem Grundbedürfnis entspricht, dem man aber auch mal grundlos nachgehen kann. Der Kopf, ein ausgehöhlter Kürbis. Weil man es will. Weil man es darf.

Als ich das Watergate verlasse, mich mit dem Ellenbogen von Jens verabschiede, freue ich mich schon auf die nächste Party. Dazu muss ich abends nur vom Homeofficewohnküchentisch aufstehen und fünf Schritte zur Anlage laufen. Wenn ich dann laut aufdrehe, weil Cyndi Lauper vielleicht wieder Spaß haben will, dauert es nur wenige Sekunden, bis sie angelaufen kommt. Sie ist noch keine zwei Jahre alt. Aber einen Partysong erkennt sie bereits.


Erschienen am 16. Februar 2021