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Reportage

Wadim wischt

Diese WM ist die erste, die vor allem online stattfindet. Das ist lustig, manchmal seltsam und kann in die Irre führen. Also folgen Sie mir lieber nicht auf Twitter unter @palplus

Wadim mag keinen Fußball. Seine Freundin hat ihn gerade verlassen. Selbst wenn seine Freundin ihn nicht verlassen hätte, sagt Wadim, würde er keinen Fußball mögen. Eto wsjo. Das ist alles, was ich über ein Paar erfahre, das keines mehr ist. Und fast alles über einen Mann, der Mitte dreißig oder Mitte vierzig sein könnte. Ein Lehrer vielleicht, weil er so ein braunes Cordsakko trägt und eine Kassenbrille zu seinem kantigen Gesicht. Ich weiß aber nicht, ob russische Lehrer auch braune Cordsakkos und Kassenbrillen tragen wie die Lehrer, die ich hatte. Vielleicht ist Wadim ja Handwerker, denke ich, weil seine Hände nach harter Arbeit aussehen, aber nicht so grob geschnitzt sind wie die eines Bauarbeiters.

Wadim beantwortet keine Fragen, außer eben, sdrastwujte, dass er Wadim heißt und aus Gründen in Ruhe gelassen werden möchte. Er wird auf dieser Fahrt nur auf sein Smartphone starren, während ich zufällig neben ihm sitze. Er wird mit beiden Daumen Sätze ins Display tippen und Fragezeichen hineinwuchten. Er wird Apps öffnen, wieder schließen, wird sich durch Bilderwelten scrollen, Ausschnitte vergrößern, wieder verkleinern, wird sie wegwischen und verjagen wie Geister, die ihn rufen. Manchmal wird er Dinge murmeln. Dinge, die ich nicht verstehe. Verrückte führen Selbstgespräche, denke ich. Wadim ist nicht verrückt. Das ist noch unklar, als die Metro losfährt.

Irgendwann höre ich auf, mir auszumalen, wer Wadim sein könnte, wie die Frau aussieht, die ihn nicht mehr haben will, und warum sie das an einem so sonnigen Tag entschieden hat. Ich bin nicht deswegen an der Station Komsomojskaja eingestiegen. Linie eins, die rote, die von rechts oben nach links unten durch Moskau fährt wie ein Messer, das einen Kuchen mittig teilt. Ich bin nicht hier, um Beziehungsprobleme zu lösen. Ich will Fußball gucken. Neben der Tür hängt ein Bildschirm. In Sotschi spielt Belgien gegen Panama. Unten im Livebild läuft ein Spruchband: "Watch football matches in the Moscow metro trains. Do not miss a thing!"

Es ist Montagabend und kein Sitzplatz frei. Die Sitzplatzverteilung folgt anständigen Regeln: Alter vor Jugend, Frau vor Mann - immer. Im Gang stehen hier nur junge Männer. Ein Mexikaner, der seine Landesfahne umgebunden hat wie ein Superheld oder Weltmeisterbezwinger. In seiner Hand läuft ein Video. Ich sehe es nicht. Doch ich höre und ahne, worum es geht. Dann zwei Polen mit weißen Adlern am Herzen und roten Flecken im Gesicht, die etwas auf Instagram posten. Und dazwischen Engländer, die anscheinend alle wie Harry Kane sein wollen und unterwegs sind zum Fifa-Fan-Fest, wo später das Spiel gegen Tunesien übertragen wird. Becher links, Smartphone rechts. Sie haben noch Stationen vor sich. Etwa zwölf Unterweltenkilometer. Wadim wird in sieben aussteigen. Wadim wischt.

Ein Regen aus Sternchen und Herzchen

Ich habe irgendwo, nebenbei, zwischendurch von einem Erdbeben gelesen. Nicht dem in Japan. In Mexiko. Ein gigantisches Erdbeben war das sogar, das im Internet stattgefunden haben soll. Wie bescheuert, dachte ich. Doch mit jeder Metrofahrt und nach jedem Blick über Moskaus Parks, Plätze und Pressetribünen kommt mir dieser Vergleich nicht mehr so unpassend vor. Jedenfalls, wenn ich mir all die Daten, Bytes und Bits als Masse vorstelle, als einen Klumpen aus Wörtern und Bildern, Hashtags und Emoticon, die plötzlich aus dem Nichts entstehen und verbreitet werden, nur weil ein Tor gefallen ist. Ja, dann könnte es schon mal beben.

Die Weltmeisterschaft in Deutschland war die letzte ohne Smartphones, die bei uns erst ein Jahr später auf den Markt kamen. Vor vier Jahren in Brasilien wurden bereits 35,6 Millionen Tweets zum Halbfinalspiel #BRAGER #7:1 versendet. 672 Millionen während des gesamten Turniers. Die Weltmeisterschaft in Russland wird einen neuen Rekord aufstellen. Vielleicht hat sie es schon längst. Denn sie ist die erste, die mehr online ausgetragen wird als offline im Stadion oder vor dem Fernseher. Dort sitzt man heute mit dem Second Screen in der Hand, verfolgt Liveticker, liest Newsletter, hört Podcasts, kommentiert oder teilt und liket, was andere kommentieren und teilen oder liken. Es geht ein Regen aus Sternchen und Herzchen nieder. Der Informationsfluss auf Facebook, Instagram, Twitter reißt nie ab, spült die Aufmerksamkeit mal hier hin, mal dort hin.

Ich war noch keine halbe Stunde in Moskau, und schon hatte ich: "Unlimited Internet." Das hatte der SIM-Kartenverkäufer mit hart gerollten R am Flughafen versprochen. Und es war keine Übertreibung. Das Internet kennt keine Grenzen, wenn der Zugang nicht gelenkt wird wie Zuschauer vor den Stadien. Oder wenn die für Meinungseinheit zuständigen Behörden in Russland nicht versuchen, den Messengerdienst Telegram zu blockieren. Was ihnen nicht so recht gelingen mag.

Die Freiheit, mich theoretisch jedem auf dieser Welt mitzuteilen, hat knapp fünfzig Euro gekostet und gilt einen Monat lang. Seitdem muss ich mich manchmal daran erinnern, dass nicht alle gezwiebelten Türmchen oder unterirdischen Rolltreppenfahrten, nicht alle achtspurigen Schnellstraßen und verrosteten Ladas fotografieret, mit Filtern bearbeitet und verschickt werden müssen. Ich will auch nicht jede Metrostation nach Büsten von Puschkin, Gorki oder Lenin absuchen, um sie unter #MetroPanini zu twittern, als wären sie Fußballer und ich dabei, mein Sammelalbum zu füllen. Die doppelten Lenins nerven. Sonst bringt es Spaß.

Manchmal scheint auch Wadim auf mein Smartphone zu schielen, wenn seine Daumen kurz zur Ruhe kommen.

Ich habe viel gelacht in den vergangenen Tagen. Da - wo noch mal? - war dieser Fan im Deutschlandtrikot, und auf dem Rücken stand in fehlerfreiem Kyrillisch, dass er nicht verheiratet sei. Da war dieser russische Polizist, dem eine Mexikanerin einen Sombrero aufgesetzt hatte. Und natürlich sind da all die Schnappschüsse von Wladimir Putin. Putin als T-Shirt-Motiv, wie er einen Hundewelpen streichelt, einen Bären reitet, mit Sonnenbrille und Pilotenhelm Coolness und Kraft vereint. Putin als Cover für das Smartphone nicht zu vergessen. Das kaufe ich mir. Nehme auch Bestellungen auf.

Und den Finger aufs Herz

So lustig ist es nicht immer. Die Welt mag gelacht haben über den russischmexikanischen Polizisten und vielleicht gedacht, diese WM könne ein autoritäres Land lockern, verändern. Ein Kommentar, den ich - und wo war das wieder? - gefunden habe, wurde jedoch nicht tausendfach geherzt. Dort stand, dass man sich besser nicht vorstellen sollte, was passieren könnte, wenn die Party bald zu Ende ist und ein Russe dann auf die Idee kommt, einen Diener der Staatssicherheit zu verkleiden. Um ihn zu fotografieren und ins Netz zu stellen, wo der Staat nicht immer kontrollieren kann, wer dieses Bild wie kommentiert oder in welchen politischen Kontext mit Foto Shop montiert.

Manchmal ist die Smartphonisierung dieser Welt und ihrer Weltmeisterschaft nur seltsam. Etwa auf dem Fan-Fest, wo Fifa und Putin sich die Massenbilder wünschen, die jeden Oppositionellen in Russland sprachlos machen müssen. Auf den Sperlingsbergen also, die eher Hügelniveau erreichen, kommt man dem nahe, was Fifa-Präsident Gianni Infantino - #Putinfantino - bei der Eröffnungsfeier angedroht hatte: Dass Fußball Russland erobern wird.

Auf den Sperlingshügeln befindet sich die Universität MGU, unverwechselbar der Zuckerbäckerstil. Die Studierenden wurden nicht gefragt, ob sie Lust haben, Kulisse zu spielen. Proteste brachten einige kurzzeitig ins Gefängnis. Von hier hat man einen wunderschönen Blick über die Stadt. Ein romantisches Plätzchen ist das, und ich stelle mir vor, wie Wadim und seine Freundin Arm in Arm in den Sonnenuntergang schlendern und an der Brüstung halten, wo ich neulich einen Brasilianer traf.

Im Hintergrund, wo Fußballfans sich vor drei Leinwänden versammeln, fiel ein Tor, man konnte einige Hundert Meter entfernt den Jubel hören. Auf seinem Smartphone war der Spielzug noch im Entstehen. Mit zwanzig Sekunden Verspätung erreichten die Livebilder den Brasilianer. Warum er nicht da hinten guckt, wollte ich wissen. Er sagte: "Weil der Ausblick so schön ist." Als ich das später unter Notizen ins Smartphone tippte und überlegte, ob die Welt das wissen will, erhielt ich die Meldung: Mein Chefredakteur folgt mir auf Twitter.

Die Metro lässt einen Bremsschrei los. "Haben Sie beobachtet", fragt mich Wadim vor der Station Park Kultury, "dass ich Bilder gelöscht habe?" Nein, versuche ich zu lügen. Er lässt sein Smartphone in der Sakkotasche verschwinden, blickt mir zum ersten Mal, seitdem ich mich neben ihn gesetzt hatte, in die Augen. Erst jetzt sehe ich, dass seine gerötet sind. Er sagt etwas, bevor er aussteigt, aber ich verstehe es nur in Fetzen. Waschno. Wichtig. Moment. Die Bremsen heulen. Dazwischen ein Verb, das nach sochronit klingt und speichern bedeuten könnte. Dann legt Wadim einen Finger aufs Herz und tippt es an, als wäre es ein Speicherknopf.