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Reportage

Glitzer und Glück

Was macht eine Berufsprinzessin, wenn Kinder wegen der Pandemie keine Geburtstagspartys feiern können? Sie setzt trotzdem ihre Krone auf. Ein Schlossbesuch bei Maike Wende, die auf das gute Ende hofft

Es war einmal eine Prinzessin, die hieß Maike und lebte in einem Schloss in Stahnsdorf. Ihre größte Freude war es, zu tanzen und Kinder glücklich zu machen. Doch eines Tages verbot die böse Hexe Corona alle Partys und sperrte Maike im Schlossturm ein. Dort oben, an der Seite ihrer kranken Hündin Milka, wurde die Prinzessin immer trauriger.

So würde diese Geschichte beginnen, wenn sie ein Märchen wäre. Diese Geschichte ist aber ein Pandemiedrama, es fehlt das Happy End. Jedenfalls begann alles mit Existenzsorgen im Lockdown-März, weil niemand mehr eine Prinzessin als Partygast buchen wollte. Und mit Herzschmerz. Am Abend flossen die Trennungstränen und am Morgen waren die Augen im Spiegel verquollen.

Ich kann doch nicht jeden Tag heulen, dachte Maike, und mir ständig selbst leidtun. Aber was kann ich machen? Was bringt mir Sicherheit? Zehn Monate ist das jetzt her. Milka, ein 14 Jahre alter Mini Australian Shepherd, hatte noch keine Zitteranfälle in den Beinen.

An einem Januarabend sitzt die Berufsprinzessin Maike Wende im Homeoffice, oben unterm Dach einer Doppelhaushälfte. Sie trägt einen Bademantel und verteilt Schmucksteinkleber auf einem neuen Kostüm. Ihre tausendfach erprobte Technik: Wachsohrstöpsel auf Strass, Strass auf Stoff, passgenau auf die vorgeklebte Stelle. Auf dem Teppichboden liegen goldene Sternchen, silberne Pailletten, als hätte hier ein Feenball stattgefunden. Maike Wende sagt: „Ich wünsche mir mein altes Leben zurück.“

Sie vermisst das Reisen. Die Bühnenauftritte. Den Applaus. Am meisten: die Freudenschreie der Kinder, die wirklich noch an Magie glauben, wenn sie als Prinzessin verkleidet zur Tür hereinkommt. „Ich kann etwas mehr Fantasie in den Köpfen der Kinder schaffen“, sagt Maike Wende. „Die Märchenwelt länger aufrechterhalten.“ Auch ihre eigene. „Vielleicht traue ich mich mehr als andere, in dieser Welt zu verharren.“ Im Glitzerland.

Vor sechs Jahren gründete Maike Wende, 34, die Agentur Prinzessin fuer dich, und in Vorviruszeiten lief das Geschäft bestens. Hier ein Geburtstag, dort eine Party, die Kinder hießen Zazou, Joel, Elena, Medina, Khadi. Die Eltern zappelten auf der Wohnzimmertanzfläche oder tranken im Hintergrund Prosecco. Mal war Maike Wende als Meerjungfrau gefragt, mal als Zahnfee mit einer bestrassten Riesenzahnbürste. Zur Begrüßung fielen ihr die Kinder um den Hals. Einige waren so aufgeregt, dass sie eine Stunde lang kein Wort sprechen konnten. Milka schlief im Auto.

Der Anspruch: Theaterniveau

Über 20 Charaktere und passende Partyprogramme, Hunderte Kostüme hat Maike Wende inzwischen zu bieten: von der Latinaprinzessin bis zur Marienkäferheldin, es lief ja immer besser. Bald konnte sie fünf Mitarbeiterinnen einstellen, ausgebildete Darstellerinnen oder Tänzerinnen wie sie selbst, alles sollte authentisch aussehen, der Anspruch: Theaterniveau. Als Team waren sie deutschlandweit im Einsatz, auch mal in Dubai, weil es Menschen gibt, die sich alles leisten können. Maike Wende verdiente dort Geld, wo Menschen zusammenkamen. Sie lebte von der Nähe. Doch zu diesem Leben musste sie auf Abstand gehen.

Sie trat beim Igelfest in Prenzlau auf, bei der Eisshow in Teltow, beim Osterfest im Alexa, sie war die Hauptattraktion beim Neujahrsbrunch auf einem Indoorspielplatz. Dazu die vielen Einschulungen, Sommerfeste, Krankenhausbesuche, bei denen sie im Eisköniginnenkleid Kinder schminkte, Schatzkistchen bemalte, sang, tanzte. Sie hatte eine Antwort gefunden auf die Frage: „Wenn ich morgens aufstehe, was würde sich nicht anfühlen, als müsste ich arbeiten gehen?“ Sie war glücklich. Glitzer macht glücklich.

Die Kommerzialisierung des Kindergeburtstags war ein stabiler Trend vor Corona. Immer größer, immer ausgefallener, Topfschlagen und Eierlauf alleine reichen nicht mehr. Manchmal ist es ein Wettbewerb, bei dem die Eltern wie Hubschrauber am Erwartungshorizont – dem eigenen oder dem der Kinder? – rotieren und sich gegenseitig überbieten in Spektakel und Kosten. Da ist ein Prinzessinnenbesuch auch mal ein Partyordnungspunkt unter vielen. „Ich glaube“, sagt Maike Wende, „viele buchen mich, weil sie ihre eigenen Prinzessinnenträume an ihre Kinder weitergeben wollen – oder selbst den Traum noch leben wollen.“

Das Leben von Maike Wende spielte schon immer im Märchenland. Ihr Kinderzimmer: weißes Himmelbett, viel Rosa, überall Kuscheltiere, Prinzessinnen-Barbies, kein Ken. „Die einen fallen in einen Topf mit Zaubertrank“, sagt sie. „Ich bin in Glitzer gefallen.“ Eines Tages fragte sie ihre Mutter: „Bin ich anders, bin ich besonders?“ Die Mutter antwortete: „Ja, aber das ist doch schön.“

Maike Wende packt den Wachsohrstöpsel zur Seite, die Strasssteine zurück in eine Plastikbox, die friemelige Aschenputtelarbeit wird sie an einem anderen Abend beenden. Jetzt muss sie in ihre Eisköniginnenrolle schlüpfen, sich für ihre tägliche Märchenstunde schminken und stylen, so wie sie es als Kind mit ihrer Mutter getan hatte. Das Schönseinwollen, für sich selbst, für die anderen, in dieser Reihenfolge, das hat sie von der Oma. Die zog sich selbst vor ihrer letzten Operation noch einmal den Lippenstift nach.

Eine steile Holztreppe, die Milka nicht mehr hochkommt, führt von der Dachkammer hinunter. An der Decke hängt eine strandballgroße Discokugel, im Bücherregal neben der Tür zum Schlafzimmer: „Liebe, Freiheit, Alleinsein“, „Die Frau, die alles haben kann“, „Solange am Himmel Sterne stehen“, „Naturheilpraxis Hunde“. Für Milka gibt es heute Möhren und Kartoffeln mit Hanföl zubereitet. Dazu Dorschlebertran. Das neue Medikament.

Das Schlafzimmer: rosa und weiß gestrichen, Theaterschminktisch, Standspiegel, vier Perückenköpfe, unter der Dachschräge ein langes Sideboard, eine Schublade nennt Maike Wende das „Krönchenfach“, es passen auch Plastikblumengestecke hinein. Aktuelle Bettlektüre: ein Magazin, das Courage heißt, zu Geld, Karriere, Lebenslust ermutigt und erklärt, wie man digitale Plattformen nutzt. Darin kommt Tijen Onaran zu Wort, die Gründerin des Netzwerks Global Digital Women: „Zehn hochwertige Kontakte, die auch den Hörer abnehmen, wenn du sie anrufen würdest, helfen dir unter Garantie mehr weiter als 1500 Kontakte, zu denen du keinerlei Verbindung hast.“

Als die Buchungen im Lockdown-März wegbrachen und Maike Wende nach einem Halt für ihr Leben suchte, kam sie auf die Idee, Märchen auf Instagram vorzulesen, live, jeden Abend, immer ab sieben. Der Kontakt zu den Kindern, den Eltern, ihren Kunden sollte nicht abreißen: hochwertige Netzwerkpflege. In Pandemiezeiten brauche jeder feste Rituale, hatte sie gelesen. Also setzte sie sich an den Schminktisch, trug den lilafarbenen Lidschatten der Eiskönigin auf, klebte falsche Wimpern an, zog sich das blau-weiße Glitzerkleid über, setzte Perücke und Krone auf.

Im Wohnzimmer baute Maike Wende das Ringlicht auf, das jeden Augenring kaschiert. Sie klemmte ihr iPhone, das sie „Icephone“ nennt, in die Halterung, knipste ein Lächeln an und sagte: „Hallo, ihr lieben Prinzessinnen und Prinzen ...“ So begann ihr Kampf um Aufmerksamkeit und Reichweite, „Rabatz auf allen Kanälen“, der Maike Wende aber mehr Herzchen als Spendengelder einbrachte. Die Tierarztkosten für Milka haben sich zu einem vierstelligen Betrag angehäuft. Niereninsuffizienz. Blutarmut. Eine genaue Diagnose fehlt trotzdem. „Hoffentlich ist es kein Hirntumor.“

Die kleine Maike wollte Eiskunstläuferin werden, mit vier Jahren begann sie dann mit dem Tanzen. Sie hatte Talent, trainierte hart, gleich nach der Schule und bis zum Abend, mit sieben stand sie zum ersten Mal ganz oben auf dem Siegerpodest. Ein straff getakteter Alltag war das, aber nicht frei von Ausbrüchen. Mit 16 schmiss sie eine Matratze aus dem Fenster des Ritz-Carlton, nach einem Turnier irgendwo in Florida, während ihre Klassenkameraden am Schlachtensee kifften. Der Vater sagt immer: „Wenn ich dich nicht gehabt hätte, hätte ich jetzt ein Haus in der Toskana.“ Er meint es nicht böse. Die Turniertanzkarriere der Tochter verschlang nun mal Zehntausende Euro. Die Kleider. Die Reisen.

Es war eine Scheinwelt, für die Maike Wende sich da entschieden hatte, das sagt sie selbst: „Alle Menschen so schön, durchtrainiert, braun gebrannt, die Glitzerkleider, das hat mich fasziniert als Mädchen, ich wollte mehr davon.“ Sie bekam mehr, viel mehr. Sie tanzte 16 Jahre lang im Amateurbereich, dann wurde sie Profi, kletterte in der Weltrangliste unter die besten 25. Einer ihrer Partner war Robert Beitsch, den man von „Let’s Dance“ kennen kann. Mit Ende zwanzig machte ihr Körper nicht mehr mit. Die Knie. Der Rücken.

„Dornröschen“ am Abend

Es musste immer leicht aussehen, obwohl es anstrengend war. Auf dem Tanzparkett und auf dem Boden der Tatsachen. Immer lächeln, obwohl ein Gewicht an den Mundwinkeln zog, „mit zehn Kilogramm manchmal“. Einerseits die Lebensfreunde der Samba, das Sinnliche der Rumba, andererseits die Mühen des Medienmanagementstudiums. Später die Auftritte als Burlesketänzerin Mademoiselle Kiki la Bise oder als Mitglied des Ensembles Petit Fours. Philharmonie München, Schmidts Tivoli-Theater Hamburg, dazwischen die vielen Stunden im Tourbus. Und immer mit Milka an ihrer Seite. „Mein kleiner Schatten“. Der jetzt wieder zu zittern beginnt.

Corona ist keine Hexe, aber der Glitzer verschwand trotzdem wie durch böse Zauberhand. Im Sommer wurde es besser, Kindergeburtstage fanden draußen statt. Doch dann kamen Herbst und Winter, und wieder wollte niemand eine Eiskönigin buchen. Die Eltern sitzen im Homeoffice, wenn sie können, die Kinder sind im Homeschooling, weil es sein muss, werden allenfalls notbetreut. Das Leben ist eine Dauerschleife daheim – wie soll der Haussegen da nicht in Schieflage geraten?

Und dann muss auch noch der Monate im Voraus geplante Geburtstag ausfallen. „Für viele Kinder ist das ein Weltuntergang“, sagt Maike Wende. Eltern berichten ihr von Wut und Tränen. Kinder schicken ihr Videobotschaften, fragen, was sie heute lesen wird, wenn sie schon nicht vorbeikommen kann. Viele wollen wissen, wie es Milka geht, nachdem sie einmal in den Livestream gejault hatte vor Schmerzen.

An einem guten Abend erreicht Maike Wende 50 Livezuschauer mit ihren Gutenachtgeschichten, ein paar Tausend Aufrufe können es später sein. Manchmal schauen eine Seniorin und ihr Pfleger zu, manchmal ein Feuerwehrmann, der auf den nächsten Einsatz wartet. An einem schlechten bekommt sie einen digitalen Mittelfinger gezeigt oder muss die Lesung gleich absagen und mit Milka wieder in die Tierklink fahren.

An diesem Januarabend hat sich Maike Wende für „Dornröschen“ entschieden, das passt gut zum Lockdown, sagt sie. Schlafen und hoffen. Auf einen erlösenden Kuss, auf den Impfstoff. Das Ringlicht brennt, das „Icephone“ filmt, sie schaltet noch den Filter ein, der auf den irgendwo da draußen in Kinderhänden liegenden Bildschirmen Schneeflocken aufwirbeln lässt. „Hallo, ihr lieben Prinzessinnen und Prinzen, ich warte ganz geduldig, wer heute dabei ist.“ Es sind 30 Zuschauer, die fleißig Herzchen und Röschen schicken. Etwa 20 Minuten dauert eine Lesung. Und am Ende verweist die Eiskönigin auf einen Spendenlink.

Maike Wende schaltet gerade das Licht aus, da piept schon das „Icephone“, ein Video von der dreijährigen Mila: „Ich freue mich, dass du immer so schöne Geschichten erzählst und habe dich lieb, ich sende dir Herzchen, deine Mila.“ Luftkuss. Noch einer. Und noch einer. Mila hatte im Januar Geburtstag. Maike Wende wäre als Prinzessin verkleidet eingeladen gewesen.


Erschienen am 1. Februar 2020