1 Abo und 1 Abonnent
Feature

Buh!

Die Pandemie hat gezeigt: Fußball funktioniert auch ohne Fans. Klar fehlen dem Spiel das Herz, die Seele. Aber sind die Stadiongänger so wichtig für die Klubs?

Zum Beispiel Zwiebelmett. Klingt deutsch, schmeckt deutsch, und wer mehr wissen will, schaut bitte in der deutschen Hackfleischverordnung nach. Haben Leser der New York Times vielleicht sogar getan, nachdem die Zeitung im vergangenen Dezember einen Text veröffentlicht hatte, in dem es um die Besonderheiten der rohen Hackfleischzubereitung ging. Jedenfalls postete die Times, wie sie es immer tut, wenn ein Wort erstmals in Druck geht, Zwiebelmett auf Twitter, auf dem Wortpremierenkanal @NYT_first_said. In der jüngeren Vergangenheit fanden sich dort so einige Importe aus Germany: Kinderpunsch, Almosen. Und natürlich: Geisterspiel. Buh!

Seit genau einem Jahr werden Bundesligaspiele vor leeren – oder wie im vergangenen Sorglossommer fast leeren – Zuschauertribünen ausgetragen, vor gespenstischer Kulisse, wie es oft heißt. Das Ganze, über die Außenmikrofone auf die angeschlossenen Endgeräte übertragen, klingt auch nicht aufregender als irgendein Hinterhofgebolze.

Wobei die von Fangeräuschen freigelegte Kommunikation auf dem Platz zunächst schon einen Reiz hatte, oder? Hier ein vom Magazin der Wochenzeitung Zeit dokumentierter Dadasprech zwischen Spielern von Borussia Dortmund und dem FC Bayern aus dem vergangenen Mai: Alaba: „Druck! Druck!“ Kimmich: „Weiter! Weiter! Weiter!“ Dahoud: „Mann!“ Müller: „Komm, komm, ab!“ Dahoud: „Hintermann!“ Müller zu Lewandowski: „Geh ab! Geh ab! Geh ab!“ Hummels zu Bürki: „Mach das Ding weg!“ Dahoud: „Vor! Vor! Vor!“ Delaney: „Komm, komm, go, go!“ Dahoud: „Shoot, shoot, shoot!“ Neuer: „Klasse, Jérôme! Klasse!“

Wichtige Zusatztribüne: die Couch

Die meisten Fans und sogenannten Experten sind sich trotzdem einig: Ohne Stadionpublikum, den Gesang, das Raunen, Pfeifen, Grölen, ist Fußball nicht mehr als immer wieder „shoot“ und immer weiter „go“. Es fehlen das Herz, die Seele, der Zauber und hach, noch so viel mehr auf der nach oben – und unten! – offenen Gefühlsskala.

Mindestens drei Fragen scheinen jedoch unbeantwortet zu sein. Haben sich Fußballfans von ihren Klubs nur entfernt oder schon entfremdet? Wer sind eigentlich diese Geister, die ihr böses Spiel in den Stadien treiben? Daher: Who you gonna call, Ghostbusters?

Anruf bei Wolfram Eilenberger, der zwar kein Geisterjäger ist, als studierter Philosoph und lizenzierter Trainer aber über ein Rüstzeug verfügt, um den Spuk einzufangen. Als Kolumnist und Talkshowgast ist er für Pointiertes zum Thema Fußball bekannt, für Geistesblitze sozusagen. Aber erst mal muss der aktuelle Beziehungsstatus geklärt werden. „Erstaunlich unverändert“, sagt Eilenberger, „es ist eine Abhängigkeit, für die ich mich nicht so sehr hasse, wie ich sollte.“ Eilenberger konsumiert immer noch Fußball. Das mit dem Selbsthass ist kokett übertrieben. Und doch eine Erinnerung daran, dass das Verhältnis zwischen Fans und Fußball, zwischen Basis und Spitze, bereits vor der Krise in der Krise steckte. Knietief und tendenziell bis zum Hals. Es reicht ein Stichwort: Kommerzialisierung.

Dazu gebe es neue, kaum überraschende Erkenntnisse, sagt Eilenberger. „All die Mechanismen, die den Fußball kommerziell getragen haben, sind noch klarer hervorgetreten, noch schamloser.“ Im Hintergrund bellt ein Hund ein paar Ausrufezeichen in die Leitung.

Eilenberger will seine weiteren Erkenntnisse in Phasen einteilen, dann mal los, Nummer eins: „Fußball ohne Zuschauer ist auch nicht interessanter als Feldhockey.“ Hm, vielleicht, vielleicht auch nicht, weiter, Nummer zwei: „Es gibt eine größere Reinheit in den Pässen, in den Formationen, die Spiele sind taktisch cleaner.“

Das sehen andere auch so. René Maric etwa, Trainerassistent bei Borussia Mönchengladbach, sagte dem Fußballmagazin 11 Freunde: „Ohne Publikum fehlt ein sehr großer Faktor, der die Spieler ins Spiel gegen den Ball peitscht und in Pressingsituationen zwingt.“ Folge: weniger Stress am Ball, mehr Zeit und Handlungsoptionen. Eine Beobachtung für die feinsten Spürnasen unter den Taktikfüchsen.

Eilenberger, Nummer drei, vermisst „die Eskalationsmomente, die den Fußball treiben und zu einer wirklich großen Erfahrung machen“. Stimmt schon. Die Spiele sind weniger mitreißend. Mehr Kammerspiel als Bühnenspektakel. Es kommt nicht mehr zu den großen Gesten, es herrscht eine zunehmende Zurückhaltung und Orientierungslosigkeit beim Jubel.

Schon am 11. März 2020 war das so, als Brel Embolo das erste Geisterspieltor der Bundesligagesichte erzielte. Nach getaner Arbeit lief der Gladbacher Stürmer Richtung Eckfahne und hielt sich die Handflächen hinter die Ohren. Das ist ein international anerkanntes Zeichen für: „Ist das alles? Ich kann euch nicht hören.“ Was wahrscheinlich daran lag, dass da niemand war auf den Tribünen; ein paar Hundert Fans standen trotz Kontaktbeschränkungen draußen.

Skandierende Menschen vor Stadien? Das, nur so nebenbei, waren zuletzt keine Fußballfans, sondern schwurbelnde Querdenker. Wie in Sinsheim oder Freiburg.

Bleibt noch Erkenntnisphase vier, die Eilenberger „die vollkommene Ortslosigkeit“ nennt und damit die Europapokalspiele meint, die irgendwo stattfanden, weil sie stattfinden mussten, um den Fortgang der Wettbewerbe, den Geldfluss nicht zu stoppen. Chelsea gegen Atlético Madrid in Bukarest, RB Leipzig gegen Liverpool in Budapest. Das Spiel zwischen 1899 Hoffenheim und Molde FK sahen keine deutschen und norwegischen Fans, sondern namenlose Pappkameraden in spanischen Papptrikots des FC Villarreal.

Das Pandemiejahr hat bewiesen, dass das Geschäftsmodell Profifußball funktioniert, weiterhin funktionieren wird. Mit Verlusten, das schon, aber auch mit Privilegien. Budapest oder Bukarest – Hauptsache, kein Nachtflugverbot über Brandenburg.

Klar, erst mal ging eine Schockwelle durch die Branche, weil das Unmögliche, die Aussetzung der Saison, geschehen war. „Man hat sich in einer Art metastabilem Zustand gewähnt“, sagt Eilenberger, „was auch immer mit dieser Welt passiert: Fußball wird es immer geben.“ Klar damit auch, dass die Betroffenheit echt sein musste. Zunächst.

Doch spätestens, als Fußballfunktionäre, die es gewohnt sind, ihre Anliegen in Großbuchstaben zu senden, sich plötzlich ganz klein machen wollten, zur Demut aufriefen und Systemveränderungen in Aussicht stellten, durfte man – ein über die Jahre und zu Recht antrainierter Reflex – die Augenbrauen heben.

Dazu fällt Eilenberger, und das ist doch mal ein potenzielles Premierenwort für die twitternde Times, „Erwachenskitsch“ ein. Er denkt an Eltern, die gerade ein Kind bekommen haben und dann bei Facebook posten: „Das Leben wird nie wieder so sein wie vorher.“ Das Fußballleben ging weiter, weiter wie vorher, nur eben ohne Stadionzuschauer.

Die schrumpfen ohnehin zu einem symbolischen Kapital. Sollen Stimmung machen, Bilder liefern, ansonsten nicht die Inszenierung stören für den asiatischen Markt; mit Kritik oder Schmähungen auf ausgebreiteten Tapetenrollen. „Das ist die Kränkung, die Stadionfans in diesem Jahr verdauen mussten“, sagt Eilenberger, „dass ihre Bedeutung für das Spiel faktisch nicht die ist, die sie gerne hätten.“

Die Kurven, und dort vor allem die tapetenrollenden Ultras, haben womöglich ihren Einfluss überschätzt, in der Pandemie ihre Daseinsberechtigung eingebüßt. Kann auch sein, dass so manchem Stadiongänger aufgefallen ist, dass man einen Samstagnachmittag auch ganz anders verbringen kann. Dass ein Leben ohne Fußball möglich ist. Ketzerischer Gedanke: Sogar besser? Eilenberger glaubt, „dass die Fanbasis erodieren könnte.“

Thomas Kessen, Vorstandsmitglied des fanpolitischen Vereins „Unsere Kurve“, vermutet: „Es wird erst mal einen Run auf die Karten geben, weil alle wieder ins Stadion wollen.“ Und dann? „Wenn das abebbt, wird es interessant, dann wird man sehr genau sehen können: Was hat Corona eigentlich mit den Fans gemacht? Was ist mit der Entfremdung?“

Ein Trend hat sich ja verstärkt: Nicht der Fan ist wichtig, der sich vor der Saison eine Dauerkarte kauft, während des Spiels zwischen Bierstand und Stehplatz pendelt und dann trotz gezerrter Stimmbänder den späten Siegtreffer hineinbrüllt. Wichtiger ist ein Fan, der es sich leisten kann, zwei Bezahlsender zu abonnieren und jedes Jahr zwei neue Trikots mit Sonderbeflockung zu bestellen. Ticketerlöse machten in der letzten, noch geisterlosen Bundesligasaison 12,9 Prozent der Gesamterlöse aus, das Fernsehgeld 36,9 Prozent. Für die Klubs ist die Couch eine lukrative Zusatztribüne.

Wenn Eilenberger mal wieder ins Stadion gehen könnte, welche Botschaft würde er dort in die Luft halten? Diese: „Habt ihr uns wirklich vermisst?“ Und? Jein. Es wird eine Zeit des „gemeinsamen Glücks“ geben, der großen Wiedersehensfreude, wenn die Stadiontore irgendwann öffnen. Aber dann könnte sich ein anderes Gleichgewicht einstellen. Eilenberger sagt: „Die Vereine werden sich von den Stadionfans emanzipieren.“ Was höflicher klingt als: Sie werden sie nicht mehr so dringend brauchen.

Letzte Frage an den Philosophen. Und wer sind nun die Geister im Stadion? „Ein Geisterspiel ist wie eine Nahtoderfahrung, ein Zustand extremer Resonanzlosigkeit, in dem man spricht und nicht gehört wird. Die Spieler auf dem Platz müssen sich wie Geister fühlen.“ Ist das wirklich so?

Rückruf von Grischa Prömel, Mittelfeldspieler beim FC Union, der sich zwei Tage nach dem Auswärtsunentschieden in Bielefeld ganz gut fühlt, gar nicht wie ein Geist, er sieht die Sache so: „Wir spielen vor leeren Rängen, wo früher Fans waren, jetzt sind da Geister, es ist gespenstisch.“ Heißt: Keine Energie, kein Feedback, nichts schäumt, nichts explodiert. Niemand, sagt Prömel, „der das Stadiondach abreißt“, wenn ein Tor fällt, dreckig, unverdient, egal.

Prömel liebt Fußball, das wird schnell klar, und er wird ihn selbst dann lieben, wenn er mit Ende 30 „in der Kreisliga vor fünfzehn Zuschauern“ spielt. Noch ist er Mitte 20, und dieses Pandemiejahr ohne Zuschauer, das tut ihm schon weh. Auch wegen der Fans, die ihm erzählen, wie sie unter akuten Entzugserscheinungen leiden. „Da brechen Lebensinhalte weg“, sagt Prömel, „das ist verrückt.“ Weil Union mehr als andere ein Stadionklub ist, einer zum Anfassen, Mitmachen, Mitbluten. So geht zumindest die Legende, die sie in Köpenick verkaufen. Modewort: Narrativ.

Es riecht nach Bratwurst

Die Fragen, die Prömel sich stellt: „Wie lange kann das noch gehen, ohne dass die Fans den Draht zu ihrem Verein verlieren?“ Und: „Wie innig wird das Wiedersehen sein, wird man sich umarmen dürfen?“ Es gibt darauf keine Antworten. Was es gibt: Erinnerungen, Träume.

Neulich hat sich Prömel ein Video auf Facebook angeschaut, es war wie eine Reise in die Vergangenheit, gute alte Zeit, keine zwei Jahre her. Er sah ein volles Stadion, glückliche Menschen, erinnerte sich, wie das war vor den Spielen damals: Anfahrt vom Tageshotel, die Stadt im Aufbruch, überall Leute auf den Straßen, Schals in Rot und Weiß, Pyrotechnik: „Hunderte Fans warten auf dich vor dem Stadion, klopfen gegen den Bus, machen die Mannschaft heiß, dann weißt du, warum du mit Fußball angefangen hast.“ Wegen der Resonanz, würde Eilenberger wohl sagen.

Manchmal träumt Prömel davon, wie es sein wird, irgendwann. Und als würde er den perfekten Spieltag zubereiten, zählt er die Zutaten auf: „Volles Stadion, Nieselregen, Flutlicht, es riecht nach Bratwurst.“ In der Kreisliga auch mal nach Zwiebelmett.

In diesem Traum ist es wieder so laut, dass Prömel sein eigenes Wort nicht mehr versteht. Weil die Geister zu sprechen beginnen. Und zu singen. Und zu raunen, pfeifen, grölen. Es sei denn, die Geistertheorie des Philosophen ist richtig. Wie auch immer, der Spuk wäre dann endlich vorbei.


Erschienen am 11. März 2021