Die Maßnahmen in Serbien haben sich drastisch zugespitzt. Menschen über 65 Jahre dürfen ihre Wohnung gar nicht mehr verlassen und für den Rest gilt eine Polizeistunde zwischen 17 und 5 Uhr. Wie kam es dazu?
Die Regierung und die Mediziner, die für das Krisenmanagement verantwortlich sind, haben zuerst unangebracht reagiert. Sie haben über die Krise gescherzt und gesagt, dass dies „das lächerlichste Virus der Geschichte" ist und, dass das Virus keine größere Auswirkung auf Menschen hat als die normale Grippe. Man hat sogar noch Witze gemacht, dass die Menschen weiter in Mailand shoppen gehen sollten. Aber sieben Tage später haben sie ihre Strategie geändert und angefangen, Panik zu bekommen, als die Pandemie in Europa voll ausgebrochen ist. Dann haben die strikten Maßnahmen begonnen.
Das Problem ist allerdings, dass durch die Witze und die ersten Auftritte einige Menschen ihnen nicht vertrauen und den Maßnahmen nicht folgen. Ich habe heute beispielsweise auf der Straße viele Menschen gesehen, die vor geschlossenen Cafés gemeinsam Kaffee getrunken haben. Und jetzt wirft die Regierung den Menschen auch noch vor, sich nicht strikt an ihre Anweisungen zu halten. Die Situation ist absurd.
Sind diese strengeren Regeln nicht in Bezug auf das Gesundheitssystem notwendig? Das serbische Gesundheitssystem funktioniert besser als das in manchen EU-Staaten. Das ist für manche überraschend. Natürlich müssen wir auch Distanz halten und etwa Masken verwenden. Aber gleichzeitig weiß ich nicht, ob die Maßnahmen, die Vucic implementieren will, nur das Ziel haben, Menschen und das Gesundheitssystem zu schützen oder ob er sie politisch nutzen will. Das ist meine Sorge.
Sie sorgen sich also, dass Präsident Vucic den Ausnahmezustand nutzt, um seinen autoritären Kurs zu verschärfen? Ich habe Angst, dass das Schritt für Schritt möglich ist und wir die EU-Atmosphäre verlassen. Wir werden uns wohl an mehr Einschränkungen und an eine neue Atmosphäre gewöhnen müssen. Vucic nutzt die Gunst der Stunde, um die Demokratie weiter abzuschaffen, wie er es schon acht Jahre lang zuvor getan hat. Die Coronakrise ist dafür eine willkommene Gelegenheit.
Viele EU-Staatsoberhäupter haben Vucic unterstützt, da er versprochen hat, das Kosovo-Problem zu lösen. Er hat versprochen, dass er als ehemaliger Nationalist, wie er sich selbst bezeichnet, eher in der Lage ist, in Bezug auf den Kosovo abzuliefern. Und viele EU-Politiker haben das als mutig erachtet. Er mache das, was ehemalige demokratische Staatschefs nicht machen wollten. Aber zur gleichen Zeit hat Vucic die Umstände genutzt, um die Pressefreiheit und demokratische Standards zu zerstören. Wir leben nicht mehr in einer Demokratie wie es sie bis 2012 noch gab.
Aber zur gleichen Zeit ist Vucic sehr enttäuscht und zeigt sich als wütender Mann, da er von der EU nicht ausreichend Schutzausrüstung erhält. Er setzt deshalb auf die chinesische Unterstützung. Die Art des Theaters ist komplett unnütz. Vucics übertriebener Ausdruck der Dankbarkeit und der gleichzeitigen Untergrabung der EU wird von den europäischen Staats- und Regierungschefs sicherlich nicht begrüßt und in diplomatischen Kreisen zur Kenntnis genommen.
Wir haben, in Kooperation mit den USA und Großbritannien, das organisierte Verbrechen bekämpft. Diese Strukturen aufzubrechen, gerade in einem ehemaligen Bürgerkriegsland, war alles andere als einfach. Und haben, trotz aller Bemühungen um eine Aufnahme in die Europäische Union, gute Beziehungen zu Russland und China aufgebaut.
Diese Entscheidung, die fast alle Oppositionsparteien gemeinsam getroffen haben, sorgt selbstverständlich für weitere Kontroversen. Aber es war die einzige Möglichkeit, die wir gesehen haben, um in Serbien als auch im Ausland zu signalisieren, dass hier etwas schief läuft.
Die politische Debatte wird ausgehöhlt und auch die Pressefreiheit wird zunehmend eingeschränkt, da nahezu alle größeren Medienhäuser von der Regierung kontrolliert werden. Mit der Coronakrise tritt das noch offensichtlicher zutage. In nahezu keinem Medium werden die Maßnahmen der Regierung kritisch hinterfragt. Auch im Parlament kommen wir praktisch nicht mehr zu Wort.
Das bedeutet: eigentlich gab es für unsere Ziele - Demokratisierung, die Aufnahme in die europäische Union - nie eine wirkliche Mehrheit in der Parteienlandschaft. Aus diesem Spannungsverhältnis hat sich in Serbien eine starke, konservativ bis rechtsradikale Mehrheit gebildet. Wenn ich ehrlich bin, kann ich Ihnen bis heute nicht wirklich erklären, wie Ich zweimal Präsident werden konnte.
„Ich kann mir bis heute nicht eklären, wie ich zweimal Präsident werden konnte"Und bin beim dritten Mal mit 70.000 Stimmen Unterschied gescheitert. Denn ehrlicherweise hatten unsere Gegner immer eine breitere Unterstützung in der serbischen Gesellschaft. Ich kann also nicht von mir behaupten, meine Gegner unterschätzt zu haben.
Wenn man sich fragt, wieso Präsident Vucic aktuell so viel zulauf bekommt, dann muss man wissen, dass er stark auf die Unterstützung von ehemaligen Milosevic-Anhängern bauen kann. Seine Partei hat lange gebraucht, um sich zu einem pro-europäischen Kurs zu bekennen, trotz ihrer offenen rechten bis rechtsradikalen Umtriebe. Daher warne ich auch meine Oppositionskollegen, wachsam zu sein. Pro-europäisch zu sein bedeutet eben nicht, auch zu europäischen Werten zu stehen.
[Alle wichtigen Updates des Tages zum Coronavirus finden Sie im kostenlosen Tagesspiegel-Newsletter "Fragen des Tages". Dazu die wichtigsten Nachrichten, Leseempfehlungen und Debatten. Zur Anmeldung geht es hier.]Wir brauchen als Opposition mehr Zusammenarbeit, für die ich mich stark einsetze. 2022 finden hier die nächsten Präsidentschaftswahlen statt. Bis dahin müssen wir uns auf einen Kandidaten einigen, der sich gegen Vucic durchsetzen kann. Und ich hoffe sehr, demjenigen mit Rat und Tat beiseite stehen zu können.
„Die EU-Mitgliedschaft wird niemals erreicht werden"Aber eigentlich wollen sie kein EU-Mitglied werden. In der gleichen Zeit können französische oder deutsche Politiker sagen, dass sie sehr willkommen sind. Aber letztlich wird die EU darunter leiden. Denn wenn die EU auf dem Westbalkan nicht existiert, werden andere globalen Player diesen Platz einnehmen.
Früher waren es vor allem Russland und die Türkei, heute ist China sehr in der Region präsent. Aber wenn die EU ein Global Player sein will, dann muss sie ihre eigenen Grenzen auf dem Kontinent definieren und strategische Beziehungen aufbauen. Wenn es einen Leerraum gibt, dann wird es unkontrollierte Einflüsse aus anderen Teilen der Welt geben.Und die EU wird dafür einen sehr hohen Preis zahlen, wirtschaftlich aber auch sicherheitspolitisch.
Boris Tadić (62) war von 2004 bis 2012 der erste gewählte Präsident Serbiens. Der studierte Sozialpsychologe verfolgte in seinen zwei Amtszeiten einen pro-europäischen Kurs. Nach seiner Abwahl durch den rechtspopulistischen Kandidaten der Serbischen Fortschrittspartei (SNS) verließ er die Demokratische Partei, deren Vorsitzender er war und gründete daraufhin die sozialdemokratische SDS.