Wer Havanna kennen lernen will, muss auf die Straße gehen. Hier wird Kubas Geschichte erzählt
Spuckend und sprotzend rattert der Blaue Bus weiter. Nächste Kurve, nächster Halt, noch mehr Menschen in die feuchte Hitze, ein paar Alte rufen: „Permiso, me quedo!" Was bleibt ist eine stinkende, dunkle Wolke über der schmutzigen Straße. Interessiert aber keinen, ist schließlich Alltag.
Der Monte bietet alles für den kleinen Mann. Devisen kommen hier später an, bis dahin gibt es Talgkerzen und Säcke voll günstigem Reis, gibt es metallene Ersatzteile und große Blumensträuße, gibt es kleine Statuen für die Gebete und gebrannte Filme für den alten Fernseher. Hier sitzen noch morgens um drei, zwei alte Frauen und verkaufen Kaffee aus Termoskannen für Prostituierte und die ersten Arbeiter. Der Schmutz der Jahre klebt an zerfallenen Hauswänden, Urin läuft in kleinen Bächen aus dunklen Ecken auf den zerfahrenen Asphalt. Der Monte ist die pulsierende Ader, die Centro Habana antreibt, das Viertel Havannas, in dem es angeblich viel Candela gibt, viele Probleme, der Monte ist die Verbindung mit dem anderen Havanna, dem der grünen Parks und Schatten spendenen Bäume am Straßenrand, mit dem Havanna der großen Häuser und des Raums zum Atmen.
Wir biegen ab. Calle Carmen y Monte, lautet die Adresse. Vor der Bank an der Ecke steht eine Schlange, Geld wird hier noch von Händen bewegt. Daneben zwei große Mülltonnen, daneben zwei größe Müllberge. Companeros, schmeißt euren Müll in die Tonne und nicht daneben, kommandiert der Staat. Companeros, regelt doch endlich die Müllabfuhr besser, klagen die Bürger. Die Wahrheit? Morgens jedenfalls sind die Straßen noch sauber.
Häuserschatten liegen über der Straße, noch ein Cafesito, bevor es zur Arbeit geht, noch eine Pizzeta, bevor der harte Tag beginnt. Der Staat zahlt zwar schlecht, aber Arbeit muss sein. Die räumliche Enge hält die Sonne fast den ganzen Vormittag über fern. In manchen Momenten möchte man dieses Übereinanderhocken verfluchen, dieses Gedrängte, dieses unvermeidbar Zusammengeworfene. Morgens aber genießen alle den Schatten: Tatti zum Beispiel, der schüchterne Alte, der nicht über sich selbst reden will, aber trotzdem immer freundlich grüßt und William der fosforéro, der schon seit zwanzig Jahren alte Feuerzeuge auffüllt; oder Melva, die 75 ist, aber mindestens zwanzig Jahre älter scheint - und trotzdem fast jeden Tag auf ihrem kleinen Hocker sitzt, die Krücken neben sich gelehnt, eine Schachtel Creoles neben einem kleinen Paket staatlichen Kaffees und einer Packung Milchpulver zum Verkauf auf dem Tisch ausgebreitet. Sie kann kaum laufen und wenn sie CUC in CUP umrechnen muss, kommt sie ins Schwimmen - aber wenn nach der Vergangenheit getaucht wird, dann fangen ihre Augen an zu leuchten: „Als ich in die Stadt kam", wird sie sagen, „damals, da wurde noch richtig viel gefeiert. Fast jeden Abend sind wir losgezogen." Damals, als sie noch Köchin war, noch nicht mit vier Generationen in einem Haus gelebt hat. Damals...
Aber Kuba befindet sich im Cambio, das weiß die ganze Welt - nur die Kubaner wissen am Wenigsten. Während die Sonne langsam über den Himmel wandert, wandelt sich auch die Carmen Stück für Stück. Der Schatten schrumpft in sich zusammen und verkriecht sich an die Häuserwände. William und Melva ziehen sich in ihre Häuser zurück und die Anderen sind längst irgendwohin gegangen, wo es vielleicht Geld zu finden gibt. Denn das wird das Kuba von morgen werden: ein einziges Streben nach Geld. Eigentlich ist es das schon jetzt - nur mit begrenzten Möglichkeiten. Wann es was wo zu kaufen gibt, ist Gesprächsthema Nummer eins, wie man am Besten zu Geld kommt, bestimmt die Gedanken von Vielen. Brechen erst einmal Monsanto und die Anderen über Kuba herein wie ein Unwetter, das man schon lange erwartet hat und dann doch von seiner Gewalt überrascht wird, dann wird sich eine Flut über die Läden und die neuen Firmen ergießen. Alles was neu ist, glänzt. Aber nicht alles was glänzt, ist Gold, möchte man noch hinzufügen.
Zwei bunte Regen-, ach nein, Sonnenschirme hüpfen am Fenster vorbei, zwei Brüder in Uniform schlendern nach Hause, ein Musikinstrument unter dem Arm geklemmt. Die Straße wird zum Durchgangsort, einzig der Mann mit den Telefonkarten hockt noch immer auf seiner umgedrehten, verrosteten Badewanne. 5, 10, 20 Pesos bietet er an. Vermutlich illegal? Aber was ist hier schon legal. Die vorbeiziehenden Horden jedenfalls beachten ihn nicht. Mehr Aufmerksamkeit bekommt der Motorradfahrer. Stinkende Rauchwolken spuckt seine alte Maschine aus, während er vergeblich versucht den Motor richtig zum Laufen zu bringen. Irgendwann klappt es dann doch und das laute Knattern der davon ruckelnden Maschine schreckt ein paar zerrupfte Straßenhunde auf, die im schmalen Schattenstreifen dösen.
Später kriecht die Hitze dann in leuchtenden Streifen an den zerfallenden Häuserwänden empor und lässt die Straße in erlösendem Schatten liegen. Die Wäsche auf den kleinen metallenen Balkonen ist schon längst trocken, als langsam die BewohnerInnen auf die Straße zurückkehren. Der Ort zwischen den Häusern ist kein Graben, sondern ein Marktplatz, ein Treffpunkt. Ein paar Jungs mit Neymar-Frisuren diskutieren bei kaltem Jugo die europäische Championsleague, die Jüngeren kicken selber, mit Plastiklatschen und einem zerfetzten Ball, der nur halb mit Luft gefüllt ist. Der Mantequilla-Mann schiebt seinen Wagen singend vor sich her. Tag für Tag singt er das gleiche Lied von Butter und Brot und den anderen Produkten, die er zum Verkauf anbietet. Alle kennen alle, also reden wir laut über die guten und leise über die schlechten Dinge des Landes. Was uns an der Carmen gefällt? Der soziale Zusammenhalt! Nur im Friseurladen, da wird kein Blatt vor den Mund genommen. Vielleicht ist es auch eine Generationsfrage - die Jungen jedenfalls haben genug. „Wir wollen haben, was alle haben. Wir wollen Internet, wir wollen Telefon, wir wollen uns nicht verstecken müssen, um Dinge zu kaufen." Vorsichtig blickt ein kleiner Mann mit großer Plastiktüte in das umgebaute Wohnzimmer. Ein Blick auf den Ausländer, dann zu den Kundinnen. Die Luft ist rein, also: „Langusten? Nur zwanzig Pesos!" Sie kommen jeden Tag hierher, tratschen über Männer, lassen Luft ab über dieses Land. Lange rote Fingernägel flechten künstliche Haare in die dunklen Locken. „Warum ich einen halben Monatslohn für eine Haarverlängerung bezahle? Na, damit ich einen Ausländer finde, der mich hier rausholt." Die Jungen haben keine Lust zu warten auf einen Cambio, der sowieso nie kommen wird. Und die Alten?
Hay que esperar. Natürlich, das haben sie gelernt, jene, die die Perioda Especial mitgemacht haben, Anfang der 90er, als es nicht mal für Ausländer etwas zu kaufen gab, jene, deren einziges Fenster in die Welt die Reden eines greisen Präsidenten und eine Zeitung mit vier Seiten ist. „Wir Kubaner sind Kämpfer - und wir wissen uns zu helfen." Die Häuser sind irgendwie aufeinandergeschummelt, alles recycelt, die Motoren laufen mehr durch starken Willen als durch starke Technik. Weil es weitergehen muss, sucht jeder seinen Weg. „Ich habe mit 25 CUC angefangen und schau her: Jetzt mache ich 100 Pizzas am Tag und vermiete eine Wohnung an Ausländer." Dein Name, Fidelina, eine Ode an die Revolution und all die guten Dinge, die sich getan haben. Wir haben freie Bildung, wir haben günstige Ärzte, wir haben Reis für alle. Aber dein Rücken schmerzt und dein Körper bekommt zu wenig Vitamine. Vielleicht ist dieser Kampf schon längst verloren. Andere jedenfalls verkaufen Cohibas und Habanas und machen damit ein besseres Leben. Nicht nur für sich, sondern auch für ihre Familien. Keiner lebt hier alleine, nicht in dieser Straße und auch nicht im Rest des Landes. Kehrt man dem Asphalt den Rücken zu und lässt die Straße als leuchtenden Umriss hinter dem Türrahmen, kommen Wohnungen über Wohnungen. Hier wohnt noch jemand, da vorne eine anderen Familie, über uns noch ein paar mehr. Es riecht nach starkem Kaffee, es riecht nach Reis mit Bohnen und frittiertem Hühnchen, aus einer Wohnung klingen Trommeklänge, weiße Gestalten tanzen.
Ein paar schmutzige Plastikitüten kleben am Bordstein, eine zerrissene Zeitung wird von einer sanften Brise in Richtung Monte bewegt. Geschichte für Geschichte ziehen sich die Menschen zurück von ihrer Straße und überlassen sie dem buttergelben Licht einer Laterne. Nachts kommen hier höchstens noch ein paar junge Männer mit Rum in Tetrapacks durchgeschlendert. Lazaro Pena wurde an diesem Ort geboren, verkündet ein altes Bronzeschild, ein Held der Arbeiterbewegung. Während auf dem Monte noch Betrunkene gegen Wände pinkeln, am Malecón die Massen sich vom kühlenden Golf durchlüften lassen, während eine müde Band noch immer für die letzten Touristen spielt und der Schatten der Nacht die verbleichenden Revolutionssprüche endgültig verschwinden lässt, warten in der Carmen die Menschen auf morgen. Nicht, weil vielleicht der Cambio kommt oder die Revolution sich an ihre Kinder erinnern könnte - sondern weil das Leben weitergeht wie immer, weil es neuen Tratsch gibt, neue Pizzas und ein neues Fußballmatch. So wie an fast jedem Ort der Welt.
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