Es gibt Schmerzen, die sich nicht heilen lassen. Man muss lernen, mit ihnen zu leben
Wenn das Wetter umschlägt, rast der
Schmerz wie ein Blitz über Hannelore Grays Gesicht. Er fängt im Kiefer
an, zieht über die Haut bis zum Haaransatz. Manchmal verschwindet er
sofort wieder, und der Alltag geht normal weiter. Manchmal aber bleibt
er in ihrem Kopf. Es ist ein Stechen, das ihr Denken beherrscht. Sie
erstarrt dann, denn sie weiß: Jede Erschütterung kann ein weiteres
schmerzhaftes Beben auslösen.
Hannelore Gray ist 69 Jahre alt, hat kurze, rotgefärbte Haare und ein breites Lächeln. Wie rund zehn Millionen Menschen in Deutschland leidet sie an chronischem Schmerz. Wenn sie liegt, hämmert er in ihrer linken Gesichtshälfte, wenn sie laute Musik hört, kriecht er ihr unter die Haut. Seit 15 Jahren bestimmen die Schmerzen ihr Leben, sie werden Gray nie wieder loslassen. Eine Therapie soll ihr helfen, damit zu leben. Heute ist einer der guten Tage. Gray sitzt in ihrem großen Wohnzimmer in Erlensee und gießt sich großzügig Kaffee in eine weiße Tasse.
Ein Ventilator wirbelt heiße Luft durch den Raum. Bis vor wenigen Jahren hatte Gray mit ihrem Mann in der Innenstadt gelebt, dann hielt sie den Verkehr nicht mehr aus. Sie sagt, sie habe jeden Lastwagen, der vorbeifuhr, im Gesicht gespürt. Der Fachbegriff für Grays Schmerz ist „Trigeminus-Neuropathie“. Gray nennt ihn „den Blitz“. Der Trigeminus-Nerv zieht sich wie ein verzweigter Ast vom Ohr über die ganze Gesichtshälfte. Er ist einer der sensibelsten Nerven im ganzen Körper. Wird er verletzt oder eingedrückt, kann es zu starken Schmerzen kommen.
Als Gray im Sommer 2003 zum Zahnarzt geht, weiß sie nicht, dass dieser Tag ihr Leben verändern wird. Die damals 54 Jahre alte Frau hat Zahnschmerzen, der Arzt entschließt sich zu einer Wurzelbehandlung. Er spritzt Gray ein Betäubungsmittel und kratzt das entzündete Gewebe aus dem Zahnmark heraus. Am nächsten Morgen wacht Gray auf, weil sich ein stechender Schmerz über ihr Gesicht zieht. Was sie nicht weiß: Vermutlich hat der Arzt ihren Trigeminus-Nerv verletzt.
Hannelore Gray hatte ihr Leben lang Schuhe verkauft. In einem kleinen Geschäft in Hanau vermaß sie Füße und beriet die Kunden. Sie sagt, sie habe gerne mit Menschen gearbeitet. Als die Schmerzen anfangen, hält sie es nur noch wenige Stunden im Laden aus, dann geht sie wieder nach Hause. Ihr ganzes Denken kreist nun um das Stechen im Gesicht. Es beginnt eine Leidenszeit. Sie kann kein Fahrrad mehr fahren, nicht arbeiten, nichts tun, was ihren Körper anstrengt. Sie lässt sich krankschreiben und kehrt nie wieder in das Schuhgeschäft zurück. Zwei Wochen nachdem ihre Schmerzen angefangen haben, bekommt sie einen Termin beim Neurologen. Er untersucht ihren Kopf, schickt sie ins MRT, erklärt, er könne ihr nicht helfen. Eine Woche später ruft ihr Mann den Notarzt. Hannelore Gray hält die Schmerzen nicht mehr aus. Im Krankenhaus geben sie ihr starke Medikamente, die sie ruhigstellen.
Eine Woche später liegt Gray wieder in der Notaufnahme. Im folgenden Jahr geht sie immer wieder ins Krankenhaus und lässt sich mit Schmerzmitteln vollpumpen. Sie sagt: „Die Schmerzen waren so stark, ich hätte damals alles getan, um sie wieder verschwinden zu lassen. Ich habe sogar darüber nachgedacht, aus dem Fenster zu springen.“ Schmerzen haben eigentlich eine Schutzfunktion. Wenn man sich verletzt, senden die Nerven Warnsignale an das Gehirn. Der Körper weiß dann: Er ist in Gefahr. Der Schmerz hört auf, wenn die Ursache beseitigt ist. Krankheiten oder Reizungen können dieses System stören. Sie greifen die Nervenfasern an. Obwohl der Reiz dann längst vorbei ist, produzieren Gehirn und Rückenmark weiterhin Schmerzsignale. Das Gefühl wird chronisch. Die Ursache des Schmerzes lässt sich dann nicht mehr behandeln – der Schmerz selbst ist die Krankheit.
In der medizinischen Ausbildung wurde die Behandlung von chronischem Schmerz lange vernachlässigt. Erst 2012 stimmte der Bundesrat zu, Schmerzmedizin zum Pflichtfach im Medizinstudium zu machen. Viele Hausärzte sind noch heute im Umgang mit Schmerzpatienten überfordert. Betroffene berichten, sie würden mit ihren Schmerzen nicht ernst genommen. Seit Jahren steigt die Menge an verschriebenen Schmerzmitteln stark an. Oft sind die Medikamente nicht aufeinander abgestimmt. In vielen Fällen schadet das dem Körper. Dabei gibt es wirksame Therapien. Susanne Urban arbeitet seit fast zehn Jahren als Schmerztherapeutin. Die 45 Jahre alte Ärztin wohnt seit 2008 in Frankfurt, gemeinsam mit zwei Kollegen leitet sie ein Schmerzzentrum in der Innenstadt. Schmerztherapie ist eine Mischung aus ärztlicher Behandlung und Psychotherapie. Schmerzen entstehen im Kopf. Wie stark sie ein Patient wahrnimmt, das hat auch mit seinem Wohlbefinden zu tun.
Urbans Patienten sollen lernen, mit ihren Schmerzen umzugehen. Viele von ihnen besuchen deshalb parallel zur Behandlung mit Medikamenten eine Verhaltenstherapie, in der sie Entspannungsübungen erlernen. Nicht alle Angebote zahlen die Krankenkassen, denn: Wie stark jemand Schmerzen empfindet und welche Therapien nötig sind, ist am Ende Ermessenssache. Patient, Arzt und Krankenkasse können das unterschiedlich bewerten. Für Schmerz gibt es keine objektiven Kriterien. Hannelore Gray kämpft jahrelang gegen ihren Schmerz an, bevor sie beginnt, mit ihm zu leben. 2004 wird Gray schließlich in die Neurologie-Abteilung des Universitätsklinikums Frankfurt geschickt. Dort bekommt sie zum ersten Mal eine Diagnose: Ihr Gesichtsnerv ist beschädigt. Die Ärzte schneiden ihr den Kopf an der Seite auf und füllen Teflon zwischen Nerv und Haut. Kaputte Nerven lassen sich nicht heilen – aber man kann sie isolieren. Von der Operation bleibt Gray eine große Narbe hinter dem Ohr.
In den ersten Wochen nach der Operation verschwindet der Schmerz beinahe. Gray ist euphorisch. Endlich, glaubt sie, habe ihr Leiden ein Ende. Neun Monate später schlägt der Blitz wieder in ihr Gesicht ein. „Damals wollte ich am liebsten sterben.“ Die Schmerzen sind schlimmer als zuvor. Im Oktober 2008 erzählt Gray eine Bekannte von der Schmerztherapie. Für Gray ist es ein letzter Strohhalm. Sie sagt: „Das Schlimmste ist, dass du nicht weißt, ob dir jemals ein Arzt helfen kann. Du denkst, du bist alleine mit dem Schmerz.“ In der Praxis von Susanne Urban muss Hannelore Gray einen Fragebogen zu ihrem Befinden ausfüllen. Nach zwei Wochen bekommt sie einen Termin bei der Ärztin. Sie hat Glück: In Frankfurt gibt es fünf Schmerzpraxen, die Wartezeiten sind deshalb kurz – in anderen Regionen dauert es teilweise länger als ein Jahr, bis neue Patienten einen Platz bekommen.
Urbans Praxis ist ein ruhiger Ort mit bunten Hundertwasser-Gemälden an den Wänden. 1200 Patienten werden hier in jedem Quartal behandelt. Ihr Vorgänger hatte das Zentrum 1982 gegründet – es war das erste in Deutschland. Bis heute gibt es für die Schmerztherapie keinen eigenen Facharzttitel, ein Streit mit den etablierten klinischen Fächern verhindert das. Kritiker sagen: Jeder Arzt sollte eine schmerztherapeutische Fortbildung machen. Es brauche keinen eigenen Facharzt. Bisher können Ärzte mit Fortbildungen nur die Zusatzbezeichnung „Schmerzspezialist“ erlangen. In Deutschland regelt die Kassenärztliche Vereinigung, wie viele Praxen eines Fachgebiets in einem Gebiet aufmachen dürfen. Durch den fehlenden Facharzt lässt sich nicht regeln, ob und wie viele Schmerzpraxen in einer Region entstehen, gibt es keinen festen Schlüssel. Weil Susanne Urban von Haus aus Fachärztin für Anästhesie ist, wird auch ihr Schmerzzentrum dem Fachgebiet zugeordnet. „Bis vor ein paar Jahren haben viele Hausärzte nicht gewusst, dass es so etwas wie Schmerztherapie gibt. Patienten wurden oft einfach nicht überwiesen.“
Eine Stunde lang spricht Gray mit der Ärztin über ihre Schmerzen, über Schwierigkeiten im Alltag, über Glücksgefühle und Ängste. Am Ende stellt ihr Susanne Urban einen Medikamentencocktail zusammen. Schmerzmittel sind dabei, aber auch Tabletten gegen Stimmungsschwankungen und Bluthochdruck. Am Ende eines Jahres könnte Gray eine Badewanne mit den Pillen füllen – aber die Medikamente geben ihr die Kontrolle über ihr Leben zurück. Schmerztherapeuten wird immer wieder vorgeworfen, Abhängigkeiten der Patienten zu riskieren. Einige Medikamente, die Hannelore Gray zu sich nimmt, sind starke Opioide. Sie machen Gray müde und abwesend. Urban sagt: „Die Opioide machen aber eben nicht psychisch abhängig, es gibt nur eine körperliche Gewöhnung.“ Selbst wenn der Schmerz nachlassen sollte, können Patienten wie Gray, die über Jahre hinweg Schmerzmittel nehmen, nur sehr langsam von den Tabletten entwöhnt werden. Einige Medikamente werden Gray für den Rest des Lebens begleiten.
Ihre Tabletten lagert Hannelore Gray in einer großen Box im Wohnzimmerschrank. Verlässt sie das Haus, steckt sie sich vorsorglich die Ration für einen ganzen Tag in die Handtasche. Es sind kleine rosa Pillen, die sie in einer Plastikdose verstaut. Gray hat Angst, im Stau steckenzubleiben oder nicht rechtzeitig nach Hause zu kommen, bevor die Wirkung aufhört. Wenn sie einen schlechten Tag hat oder das Wetter umschlägt, dann kehrt der Blitz zurück. Für Notfälle schreibt ihr Mann alle Tabletten auf eine Liste und laminiert sie ein, auch die hat Gray immer dabei. Im Sommer 2016 fährt Hannelore Gray zum ersten Mal seit 15 Jahren wieder Fahrrad. Es ist ein warmer Tag, die Sonne scheint. Gray sagt: „Mein Leben geht jetzt weiter.“
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