Dominique Oliver wurde als Kind das erste Mal mit dem N-Wort beschimpft. Er erzählt, wie er als Student einer Elite-Uni Rassenhass in den USA erlebt hat.
Vor fünf Jahren haben wir mit dem damals 25-jährigen Dominique Oliver aus Baltimore über seine Erfahrungen mit Rassismus und Polizeigewalt in den USA gesprochen. Ein paar Monate zuvor war in Dominiques Heimatstadt ein junger Schwarzer mutmaßlich Opfer von Polizeigewalt geworden: Freddie Gray, 25 Jahre alt, war kurz nach seiner Verhaftung noch im Polizeiwagen ins Koma gefallen und wenige Tage später gestorben, wohl an schweren Rückenmarksverletzungen. Zunächst demonstrierten in Baltimore Hunderte friedlich gegen Polizeigewalt, dann weitete sich der Protest aus und wurde teils gewaltsam. Schon damals beklagte Dominique Oliver gegenüber jetzt, dass es immer heiße, so etwas dürfe nie wieder passieren und dann bleibe doch alles beim Alten. Heute, nach dem gewaltsamen Tod des Afroamerikaners George Floyd, sind Dominiques Erfahrungen mit Rassenhass in den USA – ob in Baltimore oder an der Elite-Uni – so aktuell wie vor fünf Jahren.
„Das erste Mal wurde ich in der Grundschule N***** genannt. Ich muss so sechs oder sieben Jahre alt gewesen sein. Von den anderen Kindern, auf dem Gang vor dem Klassenzimmer. Sie beschimpften mich und lachten mich aus. Ich ging nach Hause, fragte meine Eltern, was mit mir nicht stimmt und weinte. Von diesem Tag an war vieles plötzlich anders.
Ich bin in Baltimore aufgewachsen, im östlichen Teil, dem es wirtschaftlich besser geht als dem Rest der Stadt. Meine Eltern sind mit mir und meinem Bruder aus New York dorthin gezogen, weil das einfach preiswerter war. Der Unterschied zwischen Ost- und West-Baltimore ist riesig. Im Osten gibt es Gegenden, da kommt die Polizei und hilft praktisch beim Müllrausbringen. Die Menschen im Westen haben dagegen so gut wie keinen Polizeischutz. Wenn du die Polizei rufst, weil es um dein Leben geht, dann musst du froh sein, wenn sie überhaupt kommt. Klingt nach einem Klischee, aber so ist es leider.
„Gute Noten bedeuteten für mich ein Ticket raus aus dieser Welt“
Meine Mutter wollte damals, dass wir auf eine
Grundschule gehen, in der Kriminalität kein Thema war. Und die spielte dort
tatsächlich fast keine Rolle. Rassismus dafür umso mehr. Die meisten Schüler
waren weiß. Ich war der Sündenbock für viele Dinge, die Weiße mit Schwarzen in
Verbindung bringen. Den Begriff ‚N*****‘ hatten die Kinder wohl von ihren
Eltern. Mit sechs Jahren! Wenn ich da heute drüber nachdenke, oh Mann. Da ist
so viel Verbitterung dabei, so viel Hass.
Ich war schon immer ganz gut in der Schule, die Lehrer
lobten mich oft und die anderen Schüler bekamen dadurch mehr Respekt vor
mir. Und mir half es, mit der ganzen Feindseligkeit klar zu kommen, mit den
abfälligen Blicken, den demütigenden Bemerkungen. Im Nachhinein wurde ich
glaube ich auch deswegen ein guter Schüler und Student. Ich hatte schon früh
kapiert, dass gute Noten für mich das Ticket raus aus dieser Welt bedeuteten.
Meine Highschool-Zeit war weniger behütet. Es gab dort regelmäßig Feuer in den
Toiletten, irgendwelche Idioten machten sich einen Spaß daraus, die Papierkörbe
anzuzünden. Leute hatten Messer dabei und wurden festgenommen, es gab
Schlägereien, es wurden Drogen verkauft. Von einigen meiner alten
Klassenkameraden weiß ich, dass sie gerade im Gefängnis sitzen, manche schon
zum zweiten oder dritten Mal. Ich hatte Glück, meine Mutter und meine Lehrer
waren auch dort sehr dahinter, dass ich nicht vom Weg abkomme. Das Komische am
Rassismus ist, dass er immer da ist und man weiß irgendwann gar nicht mehr,
wann das eigentlich begonnen hat.
„Die Nachbarin hatte Angst, dass wir plötzlich wie die Irren anfangen, mit Waffen um uns zu schießen“
Trotz der ganzen Feindseligkeiten gibt es natürlich auch sehr nette weiße Menschen, mein Freundeskreis ist relativ gemischt. Latinos, Weiße, Schwarze. Aber das ist im amerikanischen Durchschnitt gesehen eine Ausnahme. Ich als Schwarzer muss auch aufpassen, dass ich nicht in den gleichen Rassismus verfalle und sage, alle Weißen seien gleich. Da muss ich mich leider sehr oft daran erinnern.
Als ich elf war, spielte ich mit ein paar Jungs aus
meiner Nachbarschaft Basketball hinten bei uns im Hof. Es gab eine Diskussion,
ob der Ball im Aus war oder so was in der Art und nach fünf Minuten war
plötzlich die Polizei da. Egal ob du weiß oder Schwarz bist, es macht keinen Spaß,
mit der Polizei in Baltimore zu tun zu haben. Eine Nachbarin hatte die Cops
gerufen. Sie hatte Angst, dass wir plötzlich wie die Irren anfangen, mit Waffen
um uns zu schießen. Sie sah Schwarze Menschen und kamen die schlimmsten
Ängste kamen in ihr hoch: Die Nigger haben Knarren, die ruinieren die
Nachbarschaft, alles geht den Bach runter. Ich kann das irgendwie
verstehen. Unsere Zeitungen, das Fernsehen, alles ist voll von solchen
Geschichten. Schwarze und Überfälle. Schwarze und Drogen. Schwarze und Schießereien.
Das ist nicht nur in Baltimore so, sondern überall in den USA.
„In Baltimore und New York achtest du auf jeden Schritt“
Die Rolle der Medien ist gewaltig. Mike Brown wurde von Fox News ein Monster genannt. Trayvon Martin galt als Landstreicher. Es ist immer die gleiche Geschichte. Es ist wie eine Prophezeiung, die sich selbst erfüllt. Die Dinge, über die jetzt groß berichtet wird, sind Geschichten, die jeden Tag passieren. Die Schicksale von Schwarzen wurden bisher eigentlich immer ignoriert. Das Perfide war ja bislang immer, dass den Opfern die Schuld gegeben wurde: Die Leute hätten sich falsch verhalten, sie seien weggelaufen, hätten ja Kapuzenpullis getragen, hätten sich verdächtig bewegt. Durch die Bodycams der Polizisten ändert sich das nun langsam, jeder kann sich seine eigene Meinung bilden. Cops kommen mit Lügen nicht mehr davon.
In Baltimore und New York, den Orten, die ich am besten kenne, achtest du auf jeden Schritt. Du hast Angst, in irgendeine Sache mit der Polizei verwickelt zu werden, die eskalieren könnte. Das geht so, seit ich denken kann. Du kannst jederzeit kontrolliert werden, das denkst du immer mit, wenn du aus der Tür gehst. Alle Schwarzen Männer, die ich kenne, wurden schon von der Polizei kontrolliert. Die meisten mehrmals. Viele Weiße haben Angst vor mir, obwohl ich ein netter Typ bin. Ich habe mich noch nie in meinem Leben geprügelt, ich kann an zwei Händen abzählen, wie oft ich betrunken war. Ich rauche nicht einmal.
In Baltimore gerieten Polizisten und Demonstranten aneinander. Nach der Highschool erhielt ich ein Stipendium für die Columbia University in New York. Das war mein Ticket für ein besseres Leben. Aber in der Uni ging es genau so weiter wie vorher auch. Ich dachte, je mehr Bildung die Menschen besitzen, desto weniger Vorurteile haben sie. Da lag ich aber ziemlich falsch. In meinem ersten Semster dort schockierten mich die vielen Hakenkreuz-Schmierereien in den Toiletten, auf die Tür eines Dozenten sprayte jemand den Aufruf, Schwarze zu töten. Viele der Studenten dort haben keinerlei Erfahrung mit Schwarzen, weil sie in Gegenden aufwuchsen, in denen es einfach keine oder nur sehr wenige gibt. Aber ich habe mich angepasst. So geht es anderen Schwarzen auch, die in solche Sphären kommen: Sie passen sich dem an, was die Weißen für ein Konzept von ihnen haben: „Oh, sie haben sich hochgearbeitet. Es geht ja doch, wenn sie sich anstrengen.“ Das ist so eine „der edle Wilde“-Geschichte. Das ist zum Kotzen. Aber ich habe da irgendwie schon mitgespielt. Um akzeptiert zu werden.
„Der Rassismus ist nicht mehr so offensichtlich, aber er ist da“
Seit ein paar Jahren lebe ich in London, ich bin für meinen Master hergekommen und schreibe gerade an meiner Doktorarbeit. Das war das erste Mal, dass ich für längere Zeit aus den USA weg war. Das war echt krass. Nach ein paar Wochen merkte ich, wie sich in mir ganz langsam etwas veränderte. Es dauerte dann noch mal ein paar Wochen, bis ich realisierte, was das eigentlich war: Ich hatte keine Angst mehr. Nicht mehr dieses Gefühl, unter Beobachtung zu stehen, aufpassen zu müssen.
Für meine Generation ist die Situation in den USA ziemlich frustrierend. Es heißt immer, wir seien alle gleich, oder: Dies und jenes dürfe nicht mehr passieren. Und dann bleibt doch alles irgendwie beim Alten. Ich meine, wir hatten die Bürgerrechtsbewegung in den 60ern, wir haben einen Schwarzen Präsidenten. Das klingt nach viel. Aber auf der anderen Seite sind die Gefängnisse voll mit Schwarzen, ist die Arbeitslosenrate der Schwarzen doppelt so hoch wie die der Weißen. Der wirtschaftliche Druck ist immens, wenn du Schwarz bist und keine super Qualifikationen hast, dann kommt nur Walmart für dich infrage. Du hast das Gefühl, in der Gesellschaft der Versager zu sein. Und dann musst du dir auch noch von den alten Bürgerrechtlern anhören, nicht genügend für eine Veränderung zu kämpfen. Heutzutage sieht der Rassismus aber anders aus, man darf in Bussen an jedem Platz sitzen, man darf im Grunde auf alle Unis. Der Rassismus ist nicht mehr so offensichtlich. Aber er ist da. Man kann ihn zum Beispiel sehen, wenn Schwarze ohne Grund erschossen werden.“
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