Patrick Gensing

Journalist, Redakteur, Autor

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NSU-Ausschuss: Obleute zweifeln eigenen Bericht an

Neue Erkenntnisse zum NSU

U-Ausschuss zweifelt eigenen Bericht an Bestand der NSU nur aus drei Mitgliedern? Wurde die Polizistin Kiesewetter zufällig Opfer der Rechtsterroristen? Obleute des ehemaligen U-Ausschusses zum NSU glauben mittlerweile nicht mehr daran - und stellen somit ihren eigenen Abschlussbericht infrage. Von Patrick Gensing, tagesschau.de

Die Liste der offenen Fragen im NSU-Komplex ist noch immer lang. So lang, dass beim Verfahren am Oberlandesgericht München gegen Beate Zschäpe, Ralf Wohlleben und drei weitere Angeklagte viele Aspekte ausgeklammert werden, um überhaupt deren strafrechtliche Schuld verhandeln zu können. Nebenkläger drängen beispielsweise darauf, das mutmaßliche Netzwerk hinter dem NSU auszuleuchten und die Rolle des Geheimdienstes stärker zu untersuchen.

Viele Spekulationen ranken sich auch um den Verfassungsschützer Andreas T., der im Jahr 2006 in einem Kasseler Internet-Cafe war, als mutmaßlich die Rechtsterroristen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt Halit Yozgat ermordeten. T. wurde bereits mehrfach vernommen, doch er streitet vehement ab, etwas von dem Mord mitbekommen zu haben. Das halten viele Experten nach Rekonstruktionen am Tatort für wenig glaubwürdig.

Der Fall Kiesewetter: Ein zufälliges Opfer?

Der Mord in Kassel war der letzte Anschlag des NSU auf einen Bürger mit Migrationshintergrund - es folgte der mysteriöse und nicht minder brutale Überfall auf zwei Polizisten in Heilbronn, bei dem die Beamtin Michelle Kiesewetter aus Thüringen erschossen wurde. Der Umstand, dass auch Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt aus dem Bundesland stammen, sorgte ebenfalls für Spekulationen und Ermittlungen, die aber keine Beweise für eine gezielte Auswahl des Opfers erbrachten.

Die Obfrau der SPD im ehemaligen NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestags, Eva Högl, glaubt dennoch nicht mehr daran, dass Kiesewetter zufällig Opfer der Rechtsterroristen geworden ist. Dies hatte das Gremium noch in seinem Abschlussbericht im August 2013 angenommen. Högl betonte gegenüber tagesschau.de, durch neue Erkenntnisse gingen sie und ihre Kollegen im ehemaligen U-Ausschuss davon aus, dass Kiesewetter gezielt ermordet worden sei.

Sie verweist dabei unter anderem auf eine Zeugenaussage vor dem Thüringer NSU-Ausschuss, die Zweifel an der Zufallsthese verstärkt habe. Außerdem seien die Kontakte zwischen Ku-Klux-Klan, Verfassungsschutz und Polizei in Baden-Württemberg sowie Verbindungen nach Thüringen bislang nicht geklärt, betont Högl. Konkrete Beweise dafür, dass Kiesewetter gezielt getötet worden sei, lägen bislang aber nicht vor. Die SPD-Politikerin erwartet neue Erkenntnisse dadurch, dass die Bundesanwaltschaft in dem Fall auch noch gegen Unbekannt ermittelt.

Die Bundesanwaltschaft betonte gegenüber tagesschau.de, es laufe zwar ein weiteres Ermittlungsverfahren, in dem mögliche weitere Taten oder Hinweise auf bislang unbekannte Unterstützer nachgegangen und etwaige neue Ermittlungsansätze verfolgt würden. Dieses Ermittlungsverfahren sei bereits unmittelbar nach Anklageerhebung im November 2012 eingeleitet worden und richte sich gegen Unbekannt. Neue Hinweise oder Ermittlungsansätze zu dem Mordanschlag in Heilbronn lägen aber nicht vor.

Woher kommt die "NSU"-CD?

Weitere Fragen im Bezug auf mögliche Mitwisser und Unterstützer des NSU-Terrors wirft eine Daten-CD mit dem Titel "NSDAP (NSU)" auf. Den Datenträger mit rund 15.000 Dateien hatte ein weiterer V-Mann dem Hamburger Verfassungsschutz Anfang des Jahres übergeben.

Woher diese CD aus dem Jahr 2006 plötzlich kommt, woher der V-Mann diese bekommen hat und warum der Datenträger erst jetzt beim Geheimdienst auftauchte, muss noch geklärt werden. Genau wie die Frage: Wussten doch noch mehr Personen von dem NSU - oder handelt es sich bei der Bezeichnung "NSDAP (NSU)" um einen Zufall?

Nur ein Terrortrio?

Högl betonte vor wenigen Tagen bei einer Veranstaltung in Schwäbisch-Hall, sie und ihre Kollegen Petra Pau (Obfrau der Linkspartei im Ausschuss) sowie Clemens Binninger (CDU-Obmann) gingen mittlerweile davon aus, die These eines isolierten Terrortrios sei zweifelhaft.: "Wir glauben nicht, dass der NSU aus nur drei Personen mit einem kleinen Helferkreis bestand", zitierte die " Südwest Presse" Högl. Die SPD-Politikerin bestätigte gegenüber tagesschau.de diese Aussage. Es müsse ein breites Netzwerk gegeben haben, sagt sie.

Mit Hinweisen auf mutmaßliche Helfer in den Städten, in denen der NSU zuschlug, beschäftigen sich auch Politiker in den Bundesländern. In Nordrhein-Westfalen fordern die Piraten einen Untersuchungsausschuss zu den Neonazi-Anschlägen in Dortmund und Köln, die CDU-Fraktion wolle dies "wohlwollend" prüfen, zitierte "Die Welt am Sonntag" einen Sprecher der Partei.

In Hamburg wollen die Rechtsanwälte der Angehörigen des NSU-Opfers Süleymann Tasköprü, dass ein parlamentarischer Ausschuss die Verbindungen der Rechtsterroristen in die Hansestadt sowie die Rolle des Geheimdienstes untersucht. Auch in Baden-Württemberg meinen Rechtsanwälte, Experten sowie die Linkspartei, dass die offenen Fragen in einem U-Ausschuss geklärt werden müssten.

U-Ausschuss in Hessen wahrscheinlich

In Hessen ist ein - nach Bayern, Sachsen, Thüringen und im Bund - fünfter Untersuchungsausschuss zum NSU am wahrscheinlichsten. Die SPD änderte vor wenigen Tagen ihre Haltung und unterstützt nun entsprechende Pläne der Linkspartei.

SPD-Obfrau Högl begrüßt diese Entwicklung: Der Druck auf das Strafverfahren in München könne verringert werden, wenn die Aufklärung durch verschiedene Gremien vorangetrieben werde. Der NSU-Komplex dürfte Politik, Sicherheitsbehörden und Öffentlichkeit also noch einige Zeit beschäftigen.

Stand: 17.05.2014 12:29 Uhr

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