Johannes gibt einen Schmatzer von sich. Er ist kaum zu hören, aber Vag-Leide Gomes Borges reagiert direkt, sie schmatzt zurück. Johannes verzieht sein Gesicht zu einem leichten Grinsen, während seine Mutter ihm die Hände mit einem Feuchttuch abwischt. Das Küsschen; unscheinbar, kurz, aber für Johannes und seine Mutter eine Geste von großer Bedeutung.
Es ist einer der Wege, über den die beiden direkt miteinander kommunizieren. Denn Johannes kann nicht sprechen. Es gibt noch den Computer an seinem Rollstuhl, über den er Antworten antippen kann – „Ich bin satt“, „nein“, „ja“, zum Beispiel. Aber er braucht Hilfe dabei. Er hat eine Spastik, weshalb er seine Bewegungen und Gesten nicht koordinieren kann, und er kann mit seinen Augen keinen Punkt fixieren. Wie gut er sieht, wisse man nicht genau, sagt seine Mutter.
Es ist 6.40 Uhr, ein Dienstagmorgen bei Vag-Leide Gomes Borges und ihrem Sohn Johannes Borges Schwarz zu Hause. Johannes hat nicht gut geschlafen, seine Mutter daher auch nicht. Immer wieder hat er gerufen. Seine Nase war zu, und er hat sich ständig umgedreht, so wirklich weiß sie auch nicht, was los war. Als Gomes Borges das bunte Radio neben der Therapieliege in seinem Zimmer aufdreht, lacht Johannes. „Er mag Musik“, sagt Gomes Borges. Wenn sie über ihren Sohn redet, lächelt sie fast immer.
„Anfangs habe ich gehungert“
Johannes ist 14 Jahre alt und schwerstbehindert. Warum, weiß seine Mutter bis heute nicht genau. Eine Sauerstoffunterversorgung bei der Geburt oder eine Infektion danach könnten der Auslöser gewesen sein, warum sein Gehirn Schaden genommen hat. Seit seiner Geburt kümmert sich Vag-Leide Gomes Borges alleine um ihn, der Vater verließ sie kurz vorher. „Johannes war ein gewünschtes Kind“, sagt sie. Doch die Monate, nachdem er zur Welt gekommen war, seien hart gewesen. Der Kampf mit den Behörden um finanzielle Unterstützung vom Staat, der ganze Papierkram, die Physiotherapie. „Anfangs habe ich gehungert, bis ich das Geld vom Staat und den Unterhalt von Johannes’ Vater bekommen habe“, sagt Gomes Borges. Die heute 58-Jährige kam vor etwa 20 Jahren aus Brasilien nach Deutschland. Und bis heute sind es immer wieder kleine Kämpfe, die sie austragen muss. Erst kürzlich um den Corona-Kinderbonus, den sie aus Gründen nicht bekam, die sie nicht genau erklären kann. Sie bekommt Pflegegeld und Hilfsmittel wie Rollstuhl oder Liege von der Krankenkasse bezahlt. Doch dann sind da immer wieder diese Kleinigkeiten, wie zum Beispiel die Schutzmasken, von denen Johannes wegen seiner hohen Speichelproduktion fünf am Tag braucht, und die sie selbst bezahlen muss.
„Häufig sind Familien von Geburt eines behinderten Kindes an im Kampfmodus. Die Durchsetzung der Ansprüche und der Rechte kostet viel Kraft“, sagt Arne Frankenstein, Bremens Landesbehindertenbeauftragter. Die Palette an Unterstützungsangeboten und Beratungsmöglichkeiten sei breit in Bremen. „Doch oft sind sie nicht bekannt, und häufig greifen die Systeme nicht sofort. Es gibt keinen Fahrplan von vornherein.“
Die Morgenroutine beginnt: Gomes Borges säubert ihren Sohn mit einem Waschlappen, Duschen wäre zu aufwendig vor der Schule. Die Windeln muss sie wechseln und ihn anziehen. Ist es warm genug für eine kurze Hose? Ein Blick auf die Wetter-App – ja, es wird heiß heute. „Im Sommer ist es entspannter“, sagt Gomes Borges. Da müsse sie Johannes nicht so viel Kleidung anziehen. Dann kommt der Teil, der für die alleinerziehende Mutter zu den anstrengendsten zählt: Sie zieht ihm die Orthesen an, zur Unterstützung seiner Füße und Unterschenkel. Dafür muss Johannes locker lassen und darf nicht verkrampfen. Ihre Finger seien wund von dem Klettverschluss, den sie jeden Tag auf und zu macht, sagt sie; und auch ihre Schulter tue weh von den immer gleichen Bewegungen. Mehrmals am Tag hebt sie Johannes, der etwa 35 Kilo wiegt – vom Bett in den Rollstuhl, vom Rollstuhl auf die Toilette und wieder in den Rollstuhl.
Der Morgen ist stressig, es bleiben nur 15 Minuten, bis der Fahrdienst um acht Uhr kommt. Johannes darf sich jetzt nicht querstellen, wenn seine Mutter ihm das weiche Müsli zu essen gibt. Alles geht gut, und er scheint heute sowieso nicht besonders hungrig zu sein. Schnell nimmt sie mit dem „Talker“, einem Aufnahmegerät, auf, was an diesem Morgen und am vergangenen Nachmittag passiert ist; als Information für die Betreuung in der Schule. „Ich war gestern im Park. Meine Nacht war unruhig. Heute ist eine Dame vom Weser-Kurier da.“ Mit dem Fahrstuhl fährt Gomes Borges Johannes ins Erdgeschoss und übergibt ihn dem Fahrdienst.
Umzug in barrierefreie Wohnung
Der Aufzug ist eine große Erleichterung für die beiden. Erst vor ein paar Wochen sind sie in eine neue Wohnung gezogen, die barrierefrei ist. Breitere Türen, mehr Platz, keine Erhöhungen in der Wohnung, und endlich muss Gomes Borges den Rollstuhl nicht mehr selbst die Treppen hoch- und runtertragen oder sich Hilfe holen. „Wir haben jahrelang gesucht und viele Absagen bekommen“, erzählt sie. Gomes Borges will arbeiten, sagt sie. Sie hat vor kurzem eine Ausbildung zur Einzelhandelskauffrau absolviert. Doch durch die Pflege von Johannes kann sie nur einen Teilzeit-Job annehmen, in dem sie vormittags arbeitet, wenn ihr Sohn in der Schule ist – in der Branche schwierig. Für zwei Stunden kommt nachmittags oft eine Betreuung vom Martinsclub, die mit Johannes spazieren geht, oder, wenn es die Pandemie zulässt, ihn zu Ausflügen mitnimmt. Trotzdem muss Gomes Borges ihren Tag ins kleinste Detail planen, wenn sie das Haus mal ohne Johannes verlassen will.
Wenn alle Eltern entscheiden können, auf welche Schule ihr Kind gehen soll, warum solle sie das nicht auch können? Das habe Gomes Borges immer gedacht. Und ja, sie sei anspruchsvoll. Sie habe ein gutes Verhältnis zu der Schule, auf die Johannes jetzt geht. Das war bei anderen Schulen nicht immer so, erzählt sie. Eine Zeit lang habe man ihr gesagt, Johannes könne nicht zur Schule kommen, wenn die Assistenz krank ist. „Irgendwann habe ich gesagt, es ist mir egal – ich will, dass Johannes jeden Tag zur Schule geht, genau wie andere Kinder. Ich kann nicht immer die Last alleine tragen.“
Arne Frankenstein sagt, auch wenn Inklusion im Bremer Schulsystem inzwischen verankert sei, hapere es vor allem bei den Fachkräften. „Es braucht deutlich mehr persönliche Assistenzen und deutlich mehr Sonderpädagoginnen und Pädagogen.“ Zudem müsse man das Thema Inklusion übergeordneter bearbeiten. „Schule und Lernen ist nur ein Problem von vielen.“
Insgesamt bekommt Gomes Borges aber auch viel Unterstützung – von Ärzten, von Betreuerinnen, von Lehrkräften. Sie ist Christin und schöpft Kraft aus der Religion. Sie sagt, Gott habe ihr bei vielem geholfen. Doch dann gibt es wieder Stellen, an denen es hakt. Am Nachmittag bekommt Gomes Borges einen Anruf von der Betreuerin, die sich in der Schule um Johannes kümmert. Der Fahrdienst kommt 20 Minuten später. Das Problem habe es in den vergangenen Tagen schon häufiger gegeben, sagt Gomes Borges – auch morgens, weshalb Johannes zu spät in die Schule kam. Als der Fahrer ankommt, beschwert sie sich bei ihm. „Pünktlichkeit sollte schon sein“, findet auch er. Aber er entschuldigt seine Kollegen auch: Manchmal fänden sie nicht auf Anhieb die Hausnummer, manchmal gebe es Staus.
Und noch einen Mangel hat die Mutter entdeckt. Der Rollstuhl von Johannes wackelt an manchen Stellen. „Bei uns hat er genug Platz“, verteidigt sich der Fahrer. In der Schule würde der Rollstuhl ständig von den Kindern angefasst, da sei es kein Wunder, dass da einige Teile locker seien. Gomes Borges muss den Techniker noch einmal kontaktieren.
„Ich mag das Wort anstrengend nicht“, sagt sie. Denn sie bekomme immer ein Lächeln von Johannes zurück, und er sei ein fröhliches Kind, beschwere sich selten. Manchmal, wenn sie potenzielle Partner kennenlerne, fragten die: Ob Johannes irgendwann sprechen werde, oder ob er noch laufen lerne. Gomes Borges weiß, dass sie ihn pflegen wird, solange sie kann. „Mich gibt es nur mit Johannes zusammen.“
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