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Mit dem Outing begann ein Albtraum

„Hallo zusammen! Mein Name ist Arman. Ich komme aus Kasachstan - und ich bin schwul." So beginnt die verzweifelte Videobotschaft von Arman Chassanow. Er mache sich Sorgen um seinen Freund Beksat. Als er seinen Aufruf in den sozialen Medien hochlädt, hat er seit mehreren Tagen nichts mehr von Beksat gehört. Seine eigene Familie halte ihn gewaltsam fest, klagt Arman. „Beksats Eltern akzeptieren nicht, dass er schwul ist. Mehrmals schon haben sie ihn eingeschlossen, geschlagen, eingeschüchtert und versucht, seine Homosexualität zu heilen."

„Unser letzter Kontakt war am 13. Juni. Wir haben den halben Tag lang miteinander telefoniert. Als er am Abend zum Einkaufen ging, wurde er entführt", sagt Arman am Telefon gegenüber jetzt. Immer wieder stockt seine Stimme, als er von sich und Beksat Mukaschew erzählt: „Wir haben uns auf einer Datingseite für Schwule im Internet kennengelernt. Wir hatten eigentlich nicht vor, seinen Eltern von der Beziehung zu erzählen." Doch Beksat, der damals in einer arrangierten Ehe mit einer Frau lebte, vertraute sich seiner Schwester an. So erfuhr die Familie, dass er homosexuell ist. Und für Beksat begann ein Albtraum.

Die Dunkelziffer dürfte jedoch viel höher liegen, ist sich Amir Schaikeschanow sicher. „Viele Menschen sind nicht bereit darüber zu reden", sagt der LGBTQ-Aktivist aus Kasachstans größter Stadt Almaty. Amir, Anfang 30, setzt sich seit vielen Jahren schon für die Rechte von LGBTQ ein, hat mehrere Projekte ins Leben gerufen. Eines davon war „Safe Space", ein Ort, an dem sich LGBTQ in einer sicheren Umgebung regelmäßig treffen und austauschen konnten. Mit Beginn der Corona-Krise lief jedoch die Finanzierung für das Projekt aus. „Es gab Beratungen zu Safer Sex, eine Bibliothek, Brettspiele. Nun bieten wir einige Onlineformate an." Zwar gebe es auch weiterhin Clubs und Bars, in denen man sich treffen könne, aber eben keinen ausgewiesenen Ort mehr.

Amir ist auch Mitbegründer des Onlinemediums Kok.Team, das sich auf LGBTQ-Themen spezialisiert hat. Die Redaktion erhält regelmäßig Hinweise auf Hassverbrechen. Schon im Februar dieses Jahres berichtete Kok.Team über Beksat. Im Interview erzählte der 29-Jährige, dass sein Vater ihn wegen seines Coming-outs krankenhausreif geprügelt habe. Zusammen mit Arman flüchtete er aus seiner Heimatstadt Uralsk nahe der russischen Grenze ins 1000 Kilometer entfernte Aktau. Doch Beksats Vater, ein einflussreicher Unternehmer und Lokalpolitiker, fand ihn und ließ ihn zurückbringen. Arman erhielt anschließend Drohanrufe. Es folgten weitere Fluchtversuche, so Beksats Schilderungen. Die Mutter täuschte laut Beksat eine Krebserkrankung vor, damit er bei der Familie blieb. Als Ärzt*innen bei ihm eine Flüssigkeitsansammlung im Gehirn feststellten, war für die Eltern klar: Das ist der Grund für seine Homosexualität. Nicht sofort fanden sie einen Chirurgen, der Beksat am Gehirn operieren wollte. Sie schickten ihn stattdessen zu einem Mulla, der die Dämonen austreiben sollte, und zu einem Psychologen, der allerdings bestätigte, dass Homosexualität keine Krankheit ist. Anfang des Jahres willigte in der kasachischen Hauptstadt Nur-Sultan schließlich ein Arzt in die OP ein.

„Wir hätten nie erwartet, dass seine Eltern so reagieren würden", sagt Arman heute. Er befindet sich derzeit im Ausland. Wo genau, will er aus Sicherheitsgründen nicht sagen. Im März musste Beksat noch einmal nach Uralsk, um seinen Reisepass zu verlängern. Dann kam Corona. Die Grenzen wurden geschlossen, er saß fest. Drei Monate lang schaffte er es, sich vor den Eltern zu verstecken. Bis sie ihn fanden und mutmaßlich entführten.

Amir Schaikeschanow stellt klar: Dass Homosexualität per Operation „geheilt" werden soll, sei in Kasachstan ein Einzelfall. Im Vergleich zu seinen Nachbarstaaten ist das zentralasiatische Land sogar relativ weit, was LGBTQ-Rechte angeht. Nach dem Zerfall der Sowjetunion und der Unabhängigkeitserklärung Kasachstans wurde Homosexualität entkriminalisiert. Seit 2003 ist es erlaubt, das Geschlecht im Ausweis zu ändern - allerdings nur nach entsprechender Geschlechtsumwandlung und Sterilisation. Vor fünf Jahren kippte der Oberste Gerichtshof Kasachstans ein geplantes Gesetz zum Verbot „homosexueller Propaganda", ähnlich dem in Russland.

Dass es allerdings keinen rechtlichen Schutz vor Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung oder Identität gibt, sei eines der größten Probleme für LGBTQ in Kasachstan, sagt Amir. Außerdem: Hasskommentare. „Für das Innenministerium fällt Hate Speech unter die freie Meinungsäußerung." Als kürzlich ein bekannter kasachischer Kampfsportler schrieb, LGBTQ seien schlimmer als Hunde, wurde er international kritisiert. In Kasachstan gab es hingegen kaum Widerspruch. In dem muslimisch geprägten Land spielen Tradition und ein starkes Männlichkeitsbild eine große Rolle. Die Zahl der LGBTQ-Aktivist*innen in Kasachstan ist überschaubar. Es fehle es an Ressourcen und Unterstützung, erklärt Amir und fügt hinzu, dass es noch nicht mal eine Community an sich gebe. „Es existiert keine große Organisation, die alle vertritt, sondern verschiedene Gruppen, die sich auf ihre Themen spezialisieren."

Eine davon ist die feministische Initiative Feminita, diesich für die Belange von lesbischen, bisexuellen, queeren und behinderten Frauen sowie Sexarbeiterinnen einsetzt. Im Mai startete die Gruppe eine Umfrage darüber, wie Corona die Situation von LGBTQ verändert hat. „Die Fälle häuslicher Gewalt haben stark zugenommen", erklärt Altynai Kambekowa von Feminita. „Es gibt derzeit kaum Möglichkeiten, ihr zu entkommen. Selbst Frauenhäuser heißen nicht-heterosexuelle Frauen nur bedingt willkommen." Doch auch vor Corona seien LGBTQ regelmäßig Opfer von Hassverbrechen geworden, bestätigt die Mittzwanzigerin aus Nur-Sultan. „Wir sind wahrscheinlich alle schon mal jemandem begegnet, der uns aufgrund unserer sexuellen Orientierung angefeindet hat."

Im vergangenen Jahr unterstützte Feminita eine Klage zweier Frauen, die dabei gefilmt worden waren, wie sie sich küssten. Das Video war auf Facebook gestellt worden. Die Kommentare reichten von Beleidigungen bis hin zu Morddrohungen. Selbst auf der Straße wurden die beiden Frauen erkannt und angegriffen. Sie verklagten den Mann, der das Video veröffentlicht hatte. Es folgte ein monatelanger Rechtsstreit. Eine der Zwischeninstanzen stellte sich auf die Seite des Mannes und bezeichnete ihn als „Beschützer der öffentlichen Moral". „Unsere Gesellschaft ist noch nicht bereit für gleichgeschlechtliche Beziehungen", begründeten die Richter ihr Urteil. Am Ende sprach der Oberste Gerichtshof den Frauen eine Entschädigung zu, weil das Video ihre Persönlichkeitsrechte verletzt habe. Das Urteil war ein großer Erfolg für die Aktivist*innen.

Auch Arman wird weiterkämpfen. Er hat erreicht, dass die angesehene Menschenrechtsanwältin Aiman Umarowa Beksats Fall übernimmt. Sie erhebt schwere Vorwürfe gegen die Behörden. „Wenn er nicht schwul wäre, wäre die Polizei schon längst tätig geworden", sagt sie in einem Video auf Facebook. Umarowa hat nun das Innenministerium und die Generalstaatsanwaltschaft eingeschaltet. Arman sucht weiterhin nach seinem Freund. Auf Instagram postet er Bilder von sich und Beksat. Darauf ist ein junges Paar zu sehen: Zwei Männer, die herumalbern und auch schon mal den gleichen Weihnachtspullover tragen. Am Ende des Gesprächs mit jetzt sagt er: „Ich werde nicht die Hände in den Schoß legen. Ich weiß, dass dieser Mensch mich liebt. Alles was ich tue, tue ich für ihn."

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